Ohne Kunst und ohne Brot

Für Holland gibt es nach der 1:2-Niederlage gegen Deutschland nur einen Trost: Trotz schwacher Leistung können die Viertelfinals noch erreicht werden. Die Deutschen dagegen bestätigen sich trotz ein paar Wacklern als Favorit auf den Titelgewinn.

Enttäuschung pur. Gregory van der Wiel grämt sich nach dem 1:2 gegen Deutschland stellvertretend für seine gesamte Mannschaft. (Bild: Reuters/YVES HERMAN)

Für Holland gibt es nach der 1:2-Niederlage gegen Deutschland nur einen Trost: Trotz schwacher Leistung können die Viertelfinals noch erreicht werden. Die Deutschen dagegen bestätigen sich trotz ein paar Wacklern als Favorit auf den Titelgewinn.

Es war einmal ein Nationalteam, das stand stellvertretend für das geflügelte Wort der sogenannt «brotlosen Kunst». Die Männer jener Mannschaft hatten lustige, orange Trikots an, und sie streichelten die Kugel, als seien sie gleich nach der Geburt nicht an die Brust ihrer Mütter, sondern zwischen zwei Fussbälle gelegt worden. Das reichte 1988 zum Gewinn der Europameisterschaft und danach lange zu nichts mehr.

Das Nationalteam war jenes von Holland. Es schien schon fast begierig danach, an der eigenen Verspieltheit zu scheitern – oder wahlweise gerne auch mal an einem handfesten internen Zwist. Unterhaltsam waren für den neutralen Beobachter beide Varianten, und so flogen den Holländern nicht die Erfolge aber sehr wohl die Herzen zu.

Der Schwiegervater, der alles ändern wollte

Dann kam Bert van Marwijk, wurde Nationaltrainer, setzte seinen auf dem Feld betont humorlosen Schwiegersohn Mark van Bommel als Captain ein – und alles schien sich zu wandeln. An der Weltmeisterschaft 2010 langweilten sich die Holländer mehrheitlich in den Final.

Den verloren sie zwar 0:1, sie gaben den Spaniern aber auch so lange auf die Socken, bis niemand mehr die Wörter «verspielt» und «Oranje» in einem Satz verwenden mochte. Ihre Fussballkultur hatten die Holländer an der WM-Garderobe abgegeben – und sie waren dafür in Silber bezahlt worden.

Die Gegenwart heisst Europameisterschaft 2012. Und siehe da: Es hat sich tatsächlich alles gewandelt: Brotlose Kunst wird der «Elftal» niemand mehr vorwerfen. Nein, die Holländer zeigen an diesem Turnier nicht nur keine Kunst, sie haben bislang auch kein Brot.

Wie ein wild zusammengewürfelter Haufen

1:2 hat das Team von van Marwijk gegen Deutschland verloren und damit auch sein zweites Gruppenspiel an dieser EM. Die Niederlage war nicht nur deswegen eine besonders bittere, weil sie gegen den Erzrivalen eingefangen wurde. Nein, wirklich erschreckend war vor allem, wie lange diese sogenannte «Mannschaft» auftrat wie ein wild zusammengewürfelter Haufen.

Klar, die Holländer hatten, wie bereits beim 0:1 im Startspiel gegen Dänemark, ein paar Chancen zu Spielbeginn. Aber irgendwie wirkten die Abschlussversuche von Robin van Persie wie reine Alibischüsse, abgegeben ohne jede Überzeugung.

Ganz anders die Deutschen. Oder anders gesagt: Ganz anders Mario Gomez. Der Mann, der trotz seines Siegtores im Startspiel gegen Portugal in der Heimat heftig kritisiert worden war, mausert sich zur deutschen Torversicherung. Kein anderer Deutscher hat bislang an diesem Turnier ins Tor getroffen. Aber das ist egal. Schliesslich war Gomez dafür insgesamt gleich dreimal erfolgreich, zweimal gegen Holland.

Gomez trifft auch mit ein paar hundert Kilogramm auf den Schultern

«Ein paar hundert Kilogramm auf den Schultern», hatte der Stürmer des FC Bayern vor dem Anpfiff auf seinen Schultern gefühlt, «weil ich nicht damit gerechnet hatte, nach dem Tor gegen Portugal derart auf die Fresse zu bekommen.» Und doch war Gomez danach in einer elegant-spielerischen Art und Weise erfolgreich, die einst den Holländern vorbehalten war. Herrlich, wie er den Ball bei seinem 1:0 in der 24. Minute mit einer Drehung mitnahm, um sogleich flach einzuschieben.

Was für ein Unterschied dazu die Niederländer: Robin van Persie hatte sich kurz nach Spielbeginn zwar eine ähnliche Chance geboten. Doch der in der abgelaufenen Saison noch derart überragende Spieler des FC Arsenal wählte nicht den direkten Weg zum Tor. Er spielte noch einmal nach draussen, wo der Angriff versandete.

Wach wirkten die Holländer erst, als sie eigentlich bereits mit beiden Beinen aus dem Turnier draussen waren. Noch einmal hatten sie es zuvor in der ersten Halbzeit für nötig befunden, einem Mann von der Qualität eines Bastian Schweinsteiger vor dem eigenen Strafraum fast unglaublich viel Raum zu lassen. Noch einmal hatte sich der Bayern-Spieler mit einem Pass in die – allerdings auch überdurchschnittlich grossen – Schnittstellen der holländischen Verteidigung bedankt. Noch einmal hatte Gomez schlafwandlerisch getroffen (38. Minute).

Der Schwiegersohn muss auf die Bank

Mit einem 0:2 in der Pause konnte van Marwijk keine Rücksicht mehr auf das traute Familienglück nehmen. Er nahm Schwiegersohn van Bommel vom Platz und brachte den offensiveren Rafael van der Vaart ins Zentrum des holländischen Spiels. Zusammenhängender wurden die Aktionen seiner Mannschaft deswegen nur bedingt. Aber wenigstens war nun so etwas wie Leidenschaft zu erkennen.

Dass es eine Einzelaktion van Persies brauchte, um das 1:2 zu erzielen, war trotzdem kein Zufall. Der 28-Jährige traf nach einem Energieanfall per Weitschuss aus rund 17 Metern. Ansonsten wirkt dieses Team bislang, als ob Defensive und Offensive jeweils für sich selbst spielen würden. Das Problem dabei: Die hochdotierten Dribbler im Angriff sind in Unterform. Und die Abwehr setzt sich aus zwei merkwürdig antriebslosen Aussen- und zwei schlecht stehenden Innenverteidigern zusammen.

Alles in allem war das zu wenig, um dieses Deutschland zu fordern, das nach einer schwachen Vorbereitung auf dem Weg zu alter Stärke scheint. Wobei nicht alleine das Gegentor zum 1:2 sichtbar machte, dass auch die deutsche Abwehr an diesem Turnier nicht unverwundbar ist. Zu Recht stellte Aussenverteidiger Jérôme Boateng nach dem Schlusspfiff fest: «Da gibt es noch einiges zu überarbeiten.»

Noch können beide die Viertelfinals erreichen

Nur konnten es sich die Deutschen gegen dieses Holland sogar leisten, einen Lukas Podolski in bemerkenswerter Unterform während 90 Minuten mitzuschleppen. Definitiv im Viertelfinal ist Deutschland jetzt noch nicht, aber schon ein Unentschieden gegen Dänemark würde zum Gruppensieg reichen.

Die Holländer dagegen werden in der letzten Runde zum Fan des eigentlich doch so ungeliebten grossen Nachbarn werden. Gewinnen nämlich die Deutschen gegen die Dänen, kann Holland mit einem hohen Sieg über Portugal doch noch die Gruppenphase überstehen. Vielleicht versucht es die «Elftal» ja wieder einmal mit ein bisschen Kunst – und wird dafür mit etwas Brot belohnt.

Holland–Deutschland 1:2 (0:2)
Metalist-Stadion, Charkiw. – 42’000 Zuschauer (ausverkauft). – SR Eriksson (Sd). Tore: 24. Gomez 0:1. 38. Gomez 0:2. 73. Van Persie 1:2.
Holland: Stekelenburg; Van der Wiel, Heitinga, Mathijsen, Willems; Van Bommel (46. Van der Vaart), Nigel de Jong; Robben (82. Kuyt), Sneijder, Afellay (46. Huntelaar); Van Persie.
Deutschland: Neuer; Boateng, Hummels, Badstuber, Lahm; Khedira, Schweinsteiger; Müller (92. Lars Bender), Özil (81. Kroos), Podolski; Gomez (72. Klose).
Bemerkungen: 8. Pfostenschuss von Özil. Verwarnungen: 80. Nigel de Jong (Foul). 87. Boateng (Zeitspiel, gegen Dänemark gesperrt). 91. Willems (Foul). Temperatur bei Spielbeginn: 29 Grad.

 

Nächster Artikel