Spanien droht zu verschwinden

Die Regionalwahl am 25. November wird als Plebiszit über den künftigen Status Kataloniens verstanden. Will es den Zentralstaat verlassen, wäre das ein Präzedenzfall.

Für ein unabhängiges Katalonien: Anhänger der «Nationalist Coalition» (CiU). (Bild: Emilio Morenatti)

Die Regionalwahl am 25. November wird als Plebiszit über den künftigen Status Kataloniens verstanden. Will es den Zentralstaat verlassen, wäre das ein Präzedenzfall.

Trotz der Krise in Spanien könnten die Katalanen so reich sein, wie die Skandinavier. Als Lluis Recoder das sagt, wedelt sein Publikum begeistert mit den rot-gelb gestreiften katalanischen Flaggen. «Wären wir ein europäischer Staat, lägen wir beim Pro-Kopf-Einkommen an siebter Stelle, hinter Dänemark und Schweden», verkündet der katalanische Nationalist und Minister für Planung und Nachhaltigkeit in der Regionalregierung Kataloniens. Seine Zuhörer reagieren euphorisch. Die Wohlstandsberechnungen, auf denen diese Zahlen fussen, wirken schräg. Wollte man danach gehen, wäre etwa Irland trotz seiner Wirtschaftsprobleme gemessen am Pro-Kopf-Einkommen reicher als das noch prosperierende Deutschland. Dennoch sieht man sie zumindest in Barcelona als Beweis dafür, dass Katalonien nicht nur überlebensfähig, sondern wohlhabend wäre, würde es sich von Spanien abspalten.

«Sehr lebensfähig», sei die Region mit ihren acht Millionen Einwohnern sogar, sagte Kataloniens Regionalpräsident Artur Mas im Interview mit dem Guardian – die derzeitige Situation hingegen sei es nicht.

Qualvoller Wirtschaftsrückgang

Am Wochenende wird die Sezessionskampagne der katalanischen Separatisten in eine Regionalwahl münden, die faktisch zum Plebiszit über die Zukunft der Region in Spanien werden soll. Der Unabhängigkeitswunsch Kataloniens besteht schon lange, er speist sich aus jahrhundertealten historischen und kulturellen Faktoren. Dennoch muss man nicht sonderlich tief graben, um zu erkennen, was dem Zwist im krisengeplagten Spanien vor allem zugrunde liegt: Es geht um Geld. Spanien erlebt den qualvollsten Wirtschaftsrückgang seit Jahrzehnten. Auch Katalonien bleibt davon nicht verschont. Dort wird behauptet, man subventioniere das übrige Spanien mit 16 Milliarden Euro im Jahr. Viele glauben, mit diesem Geld, das acht Prozent des regionalen Bruttoinlandsprodukts (BIP) ausmacht, liesse Katalonien sich aus seinem Schulden- und Defizitloch hieven. Ausserdem könne ein katalanischer Staat damit mehr Investitionen tätigen und den Wohlfahrtsstaat ausbauen. «Natürlich würde der Übergang Kosten mit sich bringen, aber in wenigen Jahre könnte Katalonien sein Potenzial entfalten», glaubt Elisenda Paluzie. Die Ökonomin von der Universität Barcelona ist für eine Abspaltung.

«Hinsichtlich der Staatsfinanzen wäre ein unabhängiger katalanischer Staat vollkommen tragfähig», heisst es auch in einer Studie der Wirtschaftswissenschaftlerinnen Núria Bosch und Marta Espasa. Sie haben untersucht, wie die Zahlen aussähen, wenn Katalonien einfach seinen Anteil an den spanischen Staatsausgaben für sich behielte und die Unabhängigkeit weder Kosten verursachen, noch die Wirtschaft beeinträchtigen würde. Andere teilen diesen Sezessions-Optimismus nicht. «Viele Unternehmen würden nach Madrid oder in andere EU-Hauptstädte abwandern», meint etwa der in Katalonien geborene Ökonom Juan Rubio-Ramírez von der amerikanischen Duke University in einem Interview mit der Zeitung La Vanguardia. Manch einer geht sogar davon aus, dass es zu einer Zurückhaltung beim Kauf katalanischer Produkte kommen könnte. So etwas gab es 2004 schon einmal. Damals hatte der Widerstand katalanischer Separatisten gegen Madrids Bewerbung um die Olympischen Spiele einen Boykott von Cava-Sekt ausgelöst.

Mit anderen Worten, die Unabhängigkeit könnte Katalonien also auch teuer zu stehen kommen. So berichtete bereits im Vormonat die kleine Textilfirma Confecciones Joti, die in der katalanischen Kleinstadt Vilanova d’Escornalbou Arbeitskleidung herstellt, ein Abnehmer habe wegen der «Geringschätzung» katalanischer Politiker für die südwestliche Region Galizien bereits einen Auftrag zurückgezogen.

Es bleibt friedlich

Millionen Spanier betrachten die immer nachdrücklicheren Forderungen nach Selbstbestimmung in Katalonien mit Sorge Als die Region 1934 zum vorläufig letzten Mal einen eigenen Staat ausrief, antwortete Madrid mit einer Kriegserklärung. Würde Katalonien nun gehen, wäre das für ein Land, dessen immer schwächeres Zentrum seit Jahrzehnten stets neue Befugnisse an seine eigenwilligen Regionen abgibt, ein unheilvoller Präzedenzfall. «Wir hatten in den zurückliegenden 150 Jahren vier Bürgerkriege, die Angelegenheit ist also nicht zum Lachen», sagte Marcelino Iglesias von den Sozialisten bei einer Ansprache im katalanischen Girona.

Artur Mas hat versichert, sein aktueller Vorstoss in Richtung Unabhängigkeit werde auch dann friedlich verlaufen, wenn er scheitern sollte. «Es wird entweder friedlich gemacht werden oder gar nicht», sagt er dem Guardian.

Doch immerhin hat Mas versprochen, ein Referendum abzuhalten, woraufhin Aussenminister José Manuel García-Margallo in Madrid warnte, die Regierung würde die Abstimmung vom Verfassungsgericht verbieten lassen. «Es wäre illegal. Rechtlich gesprochen wäre es ein Staatsstreich», antwortete er jüngst in einem Interview auf die Frage, was passieren würde, sollte Mas ein solches Verbot ignorieren. «Es gibt kein Recht auf Selbstbestimmung und kein Recht auf eine Sezession.»

In der konservativen Regierungspartei von Premier Mariano Rajoy befürchtet man, die katalanische Unabhängigkeit wäre ein Vorbote für das Ende Spaniens. «Man redet über Katalonien, als gehöre es zu den Gliedmassen, die man amputieren kann, wobei der Rest Spaniens überlebt», sagte Justizminister Alberto Ruiz-Gallardón gegenüber der spanischen Zeitung ABC. «Tatsächlich aber würde eine Unabhängigkeit Kataloniens bedeuten, dass Spanien als Nation verschwindet.»

Das Problem ist nicht allein Katalonien. Im Oktober fanden im nordspanischem Baskenland gleichsam Regionalwahlen statt. Dort hatte das Blutvergiessen, das die ETA anrichtete, den Separatismus vier Jahrzehnte lang in den Schlagzeilen gehalten, viele Basken allerdings auch davor zurückschrecken lassen, diesen zu billigen. Die Wahl im vergangenen Monat brachte nun einen erdrutschartigen Sieg für nationalistische und separatistische Parteien – sie gewannen zwei Drittel der Sitze im Regionalparlament, darunter die Euskal Herria Bildu, eine separatistische Koalition, der auch der ehemalige politische Arm der ETA angehört, für die ein Viertel der Stimmen abgegeben wurde. Ausserdem dabei ist die Partido Nacionalista Vasco (PNV). Sie ist in einen separatistischen Flügel und einen, der in Spanien bleiben will, gespalten und erhielt ein Drittel der Stimmen.

Vollständiger Verfall

Laut einer jüngsten Umfrage des staatlichen Zentrum für Sozialforschung ist einer von fünf Basken unerschütterlicher Separatist. Ein weiteres Fünftel aller Basken räumt die Neigung ein, die Unabhängigkeit zu unterstützen. Im Sog der Regionalisierungen in Schottland und Katalonien könnte die Zahl der Unabhängigkeitsbefürworter weiter wachsen, meint PNV-Senator Iñaki Anasagasti. Er bezeichnet die Unabhängigkeit als langfristiges Ziel seiner Partei und hofft: «Katalonien ebnet den Weg.»

Sollten sich Katalonien und das Baskenland von Spanien lossagen, würde die Wirtschaft des Landes um 25 Prozent schrumpfen, das Pro-Kopf-Einkommen um fünf Prozent. Zudem würden Strassen und Zugstrecken in andere europäische Länder dann durch die neuen Staaten führen. «Deshalb könnten sie unsere künftige Mitgliedschaft in der EU zwar nicht blockieren», sagte die Autorin und Kolumnistin Isabel-Clara Simó, die die Sezession befürwortet. «Das Problem für Spanien ist aber die Zusammenbruchsdynamik. Sie schränkt auch die Flexibilität des Premierministers ein», erklärt Luis Garicano von der London School of Economics. «Wenn Katalonien erst einmal draussen ist, wächst die Last für die anderen reichen Regionen. Die werden dann auch raus wollen. Für Spanien bedeutet die Aussicht, Katalonien zu verlieren, dass das Land vollständig zerfällt.»

Überhaupt bietet der jetzige Zeitpunkt nicht besten Vorraussetzungen, um sich als unabhängiger Staat zu versuchen. Die katalanische Ökonomie schrumpft jährlich um 1,1 Prozent, die Arbeitslosigkeit beträgt 23 Prozent, aufgrund der Schulden der Lokalregierung haben die Rating-Agenturen Kataloniens Bonität auf «Ramsch»-Status herabgestuft. Die Region war dadurch gezwungen, die Zentralregierung um einen erniedrigenden Bailout zu bitten. Katalonien ist bereits jetzt die spanische Region mit den höchsten Schulden. Doch ironischerweise verstärkt dies den Abspaltungsdrang. Als scharfe Einschnitte bei Bildung und Gesundheit spürbar wurden, hat das zu einer Wut geführt, die dazu beitrug, dass sich eine Mehrheit der befragten Katalanen in den Umfragen für die Unabhängigkeit aussprach. Innerhalb von 15 Monaten stieg die Zahl der Unabhängigkeitsbefürworter so von 43 auf 57 Prozent. «Über 80 Prozent meinen, Katalonien sei unterfinanziert“, erläutert Jordi Sauret vom Meinungsforschungsinstitut Feedback. «Diese Vorstellung hat inzwischen tiefe Wurzeln geschlagen.»

Zum Unmut über die Finanzen gesellt sich breite Verärgerung nach einer Entscheidung des spanischen Verfassungsgerichts im Jahr 2010. Dessen Rechtsprechung kippte damals die zentralen Artikel einer Autonomie-Charta, die durch ein Referendum von den Katalanen angenommen worden war. Auch Mas bezeichnet die Entscheidung des Gerichts als persönlichen «Schlüsselmoment»: «Als ich sah, wie sie uns mit diesem Urteil erniedrigten, sagte ich: `Das hier hat keine Zukunft.`»

Einstweilen erwarten die katalanischen Separatisten sehnlich die Abstimmung am Sonntag. Nach der will Mas – so hat er es versprochen – einen breiten Konsens der Unterstützung für ein Referendum im Jahr 2016 schaffen.

(© Guardian News & Media Ltd 2012; Übersetzung: Zita Hoffmann, «Freitag»)

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