Spurlos verschwunden auf dem Weg in die Sicherheit

Europa vermisst 10’000 Kinder und Jugendliche. Die Flüchtlinge sind ohne Begleitung nach Europa aufgebrochen, kamen auch an, doch ihre Spur verliert sich. Oft landen sie in den Händen krimineller Organisationen.

Children sleep on the deck of the rescue ship "Aegis 1", after a group of about 100 Syrian refugees that landed with rafts on the inhabited islet of Panayia, was retrieved by a Frontex patrol boat and transferred on the "Aegis 1", near the Greek island of Oinousses, January 28, 2016. REUTERS/Giorgos Moutafis GREECE OUT. NO COMMERCIAL OR EDITORIAL SALES IN GREECE

(Bild: REUTERS/Giorgos Moutafis)

Europa vermisst 10’000 Kinder und Jugendliche. Die Flüchtlinge sind ohne Begleitung nach Europa aufgebrochen, kamen auch an, doch ihre Spur verliert sich. Oft landen sie in den Händen krimineller Organisationen.

Ahmad war 16 Jahre alt, als er entschied, nach Italien zu gehen. Jetzt, wo er da ist, will er am liebsten wieder zurück nach Ägypten. Aber er kann nicht, er hat kein Geld. «Ich habe meinen Freunden zu Hause gesagt, dass sie nicht kommen sollen», erzählt Ahmad. Aber sie glauben ihm nicht. «Sie werden schon sehen», sagt der junge Mann.

Ahmad ist einer von Zehntausenden minderjährigen Flüchtlingen in Europa. Inzwischen ist er in Rom und schlägt sich mit Seinesgleichen um Arbeit. Dutzende Jungs in seiner Situation konkurrierten um einen Job auf dem römischen Grossmarkt, in Pizzerien, in Autowaschanlagen. Für einen Hungerlohn von zwei, drei, mit viel Glück fünf Euro pro Stunde.

«Es ist nicht abwegig zu sagen, wir suchen nach mehr als 10’000 Kindern.»

Europol-Chef Brian Donald

Vor wenigen Tagen schlug die europäische Polizeibehörde Europol Alarm. In den vergangenen zwei Jahren seien etwa 10’000 Kinder und Jugendliche in die EU eingereist, unbegleitet und minderjährig. Alleine 5000 von ihnen hielten sich in Italien auf, etwa 1000 in Schweden.

«Es ist nicht abwegig zu sagen, wir suchen nach mehr als 10’000 Kindern», sagte Europol-Chef Brian Donald der britischen Wochenzeitung «The Observer» und äusserte die Sorge, viele Kinder und Jugendliche könnten in die Fänge krimineller Organisationen gelangt sein. «Wir wissen einfach nicht, wo sie sind, was sie tun und mit wem sie zusammen sind», sagte Donald.

Wohl nur die Spitze des Eisbergs

Doch die Europol-Zahlen sind kaum belastbar. Die meisten Fachleute gehen von wesentlich mehr Fällen aus. Zuletzt meldete auch das deutsche Bundeskriminalamt, allein in der Bundesrepublik würden Anfang Januar 4749 alleine reisende minderjährige Flüchtlinge vermisst. Nach Angaben der Hilfsorganisation Save the Children sind im vergangenen Jahr etwa 270’000 Kinder und Jugendliche in die EU eingereist, viele von ihnen unbegleitet.

Es dürften eher 270’000 ‹kleine Geister› sein, die eingereist sind.

Es handelt sich um ein ganzes Heer von Kindern und Jugendlichen, das schutzlos und unkontrolliert durch Europa irrt. «Kleine unsichtbare Sklaven», nennt Save the Children diese Gruppe. Von «kleinen Geistern» schreiben italienische Zeitungen. Ahmed ist einer von ihnen. Oft werden die Jugendlichen von ihren Familien für eine bessere Zukunft losgeschickt. Die entpuppt sich nicht selten als Albtraum.

Valentina Murino trifft täglich mit diesen Heranwachsenden zusammen. Sie leitet am Stadtrand von Rom das «A28», eine private Einrichtung für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Zwischen zehn Uhr abends und zehn Uhr morgens stellt «A28» Betten, Duschen, Kleider, psychologische und rechtliche Betreuung sowie ein warmes Essen zur Verfügung. Einzige Bedingung: die Gäste müssen unter 18 Jahre alt sein.

Für Dokumente oder Daten interessieren sich Murino und die anderen Helfer nicht. Sie wollen den Kindern und Jugendlichen einzig und allein nächtlichen Schutz geben. «Manche halten unsere Arbeit für illegal, aber die Unterstützung Minderjähriger steht für uns über allem anderen», sagt Murino.

Spurlos verschwinden ist das Ziel der Kinder

Mehr als 2500 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge haben seit 2011 auf den Service von «A28» zugegriffen, jedes Jahr etwa 500. Der überwiegende Teil von ihnen stammt aus Afghanistan, Eritrea, Ägypten, Somalia oder Bangladesch. Die Kinder, im Schnitt etwa 15 Jahre alt, ziehen nach wenigen Tagen weiter in Richtung Schweden, Norwegen oder Deutschland.

Die Jugendlichen wollen nicht erfasst werden, weil sie fürchten, sonst wegen der geltenden Asylregeln in Italien hängen zu bleiben. Sie umgehen jede Art von Kontrolle oder Registrierung, um ihr Ziel zu erreichen. Sollten sie in eines der 15 staatlichen Auffanglager für minderjährige Flüchtlinge etwa auf Sizilien geraten, verlassen sie es kurz darauf wieder und verschwinden aus der Statistik. Auf diese Weise kommt die Zahl der laut Statistik Vermissten zustande.

«Kinder aus Ägypten und Bangladesch bleiben meist in Italien», sagt Murino. «Sie werden fast immer Opfer von Ausbeutung und Kriminalität.» Ein Beispiel ist die Ausbeutung zu Arbeitszwecken, etwa im Grossmarkt oder in den von Ägyptern geführten Obst- und Gemüseläden in der Stadt. Kinder aus Bangladesch heuerten häufig in von Landsleuten geführten Mini-Supermärkten an. Häufig werden die Kinder und Jugendlichen auch von Kriminellen angeworben, etwa für Drogenhandel oder das Schlepper-Geschäft.

Ein Zehnjähriger übersät mit Narben und Verbrennungen

Murino berichtet etwa von einem zehn Jahre alten Jungen aus Eritrea, der vor Wochen alleine im «A28» ankam. Schleuser hatten ihn gezwungen, an der Grenze zwischen Eritrea und Sudan für sie zu arbeiten und Flüchtlinge über die Grenze zu begleiten. Als er in Rom ankam, war sein Körper von Misshandlungen mit Narben und Verbrennungen übersät. «Er war erst zehn, aber sah aus wie fünfzehn», sagt Murino. Auf ihrem Weg nach Europa erlitten die meisten Kinder Missbrauch und Ausbeutung.

Immer wieder wird auch über Fälle von Zwangsprostitution berichtet. Bekannt ist etwa, dass vor allem Mädchen aus Nigeria in Italien häufig zur Prostitution gezwungen werden. Zuletzt hiess es auch, minderjährige Ägypter hätten sich immer wieder am Bahnhof in Rom prostituiert.

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Wie verläuft die Flucht mit Kindern? Was passiert mit den Kindern in der Schweiz? Gehen Sie in die Schule? Antworten auf diese und viele weitere Fragen finden Sie im Dossier zum Schwerpunkt der TagesWoche.

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