Stärke statt Recht

Er will stark sein und geliebt werden: Was Wladimir Putin antreibt – und was den Kreml-Chef so gefährlich macht.

Seit Wladimir Putin im Kreml herrscht, versucht er Stärke zu zeigen. (Bild: RIA Novosti)

Er will stark sein und geliebt werden: Was Wladimir Putin antreibt – und was den Kreml-Chef so gefährlich macht.

Dass Stärke wichtiger ist als Recht, hat Wladimir Putin schon als Kind gelernt. Zuhause in der Baskowgasse in Leningrad legte er sich einst mit einem fremden Jungen an. Wladimir hielt sich für überlegen und beleidigte ihn. Grundlos. Doch er hatte die Kräfteverhältnisse falsch eingeschätzt und kassierte kräftige Prügel. Daraus zog er eine Lehre fürs Leben, wie er später im Kreml erzählte: «Egal, ob man im Recht ist oder nicht – man muss stark sein, um etwas zu erwidern!»

Der schmächtige Junge tat alles, um stark zu werden. Er lernte Judo, ging zum KGB. Der stand für Unterdrückung und damit auch für Stärke. Putin konnte sich als Teil des mächtigen Staatsapparats fühlen, für den schon sein Grossvater als Koch bei Stalin gedient hatte. Lästige Spitzeldienste musste er verrichten. Das Vaterland dankte ihm dafür mit der Versetzung in die DDR. Die war für Putin eine kleine, heile Welt. Doch dann kam Gorbatschow mit seiner Perestroika und machte alles zunichte. Die Wende, die Demonstrationen: Was er damals in Dresden erlebte, machte ihm Angst. Der KGB zeigte ihm später die kalte Schulter. Putin war wieder schwach. Er fühlte sich und sein Land erniedrigt. Der Schmerz sitzt bis heute.

Der Kampf um Russland

Seit Putin im Kreml herrscht, versucht er wieder Stärke zu zeigen. Er posiert. Als Macho halbnackt auf einem Pferd, als Leoparden-Bezwinger. Der nur 1,70 grosse Ex-KGB-Offizier liebt brutale Sprüche. Terroristen wollte er «auf dem Scheisshaus abmurksen» und einen Journalisten «beschneiden lassen, dass nichts mehr nachwächst». Stärke bedeutet für ihn auch Gewalt. Er hat dafür gesorgt, dass Stalin wieder verehrt wird. Im Fernsehen lässt Putin regelmässig neue Wunderwaffen vorführen. In sein Militär will er bis 2020 rund 575 Milliarden Euro stecken. Seine Truppen stehen an der Grenze zur Ukraine – allen Versprechen zum Trotz.

Wer so verbissen Stärke zeigt, muss sich schwach fühlen. Er glaubt, die Nato habe Russland umzingelt. Dass Moskau die meisten Nachbarn verprellte und die deshalb selbst auf Westkurs gingen, nimmt Putin nicht wahr. Er sieht sich und sein Land bedroht – für ihn ist das ein und dasselbe. Im Wahlkampf 2012 sprach er viel von Krieg, vom «Sterben vor Moskau»: «Der Kampf um Russland geht weiter», sagte er.

Putin befindet sich im gefühlten Kriegszustand mit den USA und der Nato. Die sieht er als Drahtzieher hinter der Wende in Kiew. Und im Krieg gelten keine Regeln, kein Recht, sondern allein Stärke, wie auf der Krim. Diplomatie oder gar Kompromisse – das sind für Putin Zeichen von Schwäche, westlicher Dekadenz.

Volk, Blut, Boden

Der KGB hat seine Männer abgerichtet, überall Feinde zu sehen. Selbst seiner Umgebung traut Putin kaum noch. Er hat sich abgeschottet, sein Essen lässt er vorkosten. Er glaubt an die eigene Propaganda, lebt in seiner eigenen Realität. Seine Kritiker nennt er «Faschisten» und «Nationalverräter». Das erinnert an Stalins «Volksfeinde» und lässt Böses ahnen. Russland hat seine Vergangenheit nie aufgearbeitet. Putin lebt in der Denkwelt der 1930er-Jahre. Volk, Blut, Boden.

Der KGB drillte Putin zum Fachmann für das Anwerben und für Propaganda. Das macht den Dialog so tückisch für westliche Politiker, die nicht die DDR erlebt haben wie Angela Merkel. Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaat – das sind für ihn Lügengebilde des Westens. In Berlin verstanden sie «Rechtsstaat», als er die «Diktatur des Gesetzes» ankündigte; gemeint war, die Gegner mit Gesetzen zu gängeln. Beim KGB-Ausbilder lernte er, dass im Westen eine kleine Kapitalisten-Clique die Menschen ausbeutet, mit gesteuerten Medien, Richtern und Wahlen manipuliert. Genau so ein System hat er errichtet. «Uns Russen werfen sie das vor, dabei sind sie im Westen nur geschickter im Lügen», empört er sich vor Vertrauten.

Sein persönliches Drama mit der Demokratie erlebte Putin 1996. Da verlor sein Chef, der Petersburger Bürgermeister, die Wahlen. Für Putin, den Vize, bedeutete das den Absturz: Er wurde arbeitslos. Schwach. Zu der Angst vor Demonstrationen und Revolutionen, wie er sie in der DDR erlebt hat, kommt seitdem die Angst vor Wahlen. Bei denen überliess er nichts mehr dem Zufall, und schon gar nicht den Wählern. Es gibt keine Spielregeln mehr unter ihm, weder in der Wirtschaft noch in der Politik. Stärke statt Recht. So sehr ist er gewohnt, über dem Gesetz zu stehen, dass er auch das Völkerrecht bricht. Das, so scheint er überzeugt, ist durch seine Mission gerechtfertigt: Das «Sammeln der slawischen Erde», also die Revanche für 1991, für Gorbatschows Verrat.

Blaue Flecken

Wie weit er mit dem «Sammeln» gehen wird, weiss nur er selbst. Rational wäre es, nach der Krim einen Schlussstrich zu ziehen. Aber wenn der nationale Freudentaumel verklungen ist, werden die alten Probleme wieder in den Vordergrund rücken. Russland ist der Flächenstaat mit der grössten sozialen Ungerechtigkeit weltweit. Die Korruption ist gigantisch, die Rechtlosigkeit erdrückend. Die Liebe zum «nationalen Führer» wird deshalb nachlassen. Und Putin, den der gefühlskalte Vater einst mit dem Gürtel züchtigte, will geliebt werden.

In der Baskowstrasse wollte der kleine Wladimir immer beweisen, anderen überlegen zu sein, erzählte seine Lehrerin: «Nicht kräftig, aber frech» sei er gewesen, wovon oft blaue Flecken und Schrammen zeugten. Dass die bisherigen Mini-Sanktionen so einen Raufbold beeindrucken, scheint fraglich.

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*Boris Reitschuster, 16 Jahre lang Moskau-Korrespondent, ist Autor mehrerer Bücher über das heutige Russland. Am 9. Mai erscheint bei Econ eine aktualisierte und erweiterte Neuausgabe seiner Biografie «Putins Demokratur» aus dem Jahr 2006.

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