Streik in Frankreich: Im Land der Revolutionen dauern Reformen länger

Staatschef Emmanuel Macron will vorwärtsmachen, doch die Eisenbahner bringen den Verkehr zum Stillstand. Frankreich ringt um jahrelang aufgeschobene Reformen im Arbeitsmarkt.

Mit 57 Jahren in Rente. Die Eisenbahner kämpfen für Privilegien, von denen andere Arbeitnehmer nur träumen können.

Die französische Staatseisenbahn SNCF wird seit dem 2. April bestreikt. Das hat auch die mit dem TGV-Lyria verbundene Schweiz zu spüren bekommen. Es ist eine besondere Form des Streiks, handelt es sich doch um einen «Grève perlée», Arbeitsniederlegungen nach dem Muster einer Perlenkette: auf zwei Streiktage folgen drei Arbeitstage.

Betroffen sind ausser den TGV-Schnellverbindungen vor allem der für den Arbeitsalltag wichtige Regionalverkehr sowie der Güterverkehr mit seinen Materiallieferungen für die Industrieproduktion.

Verteidigung des Sonderstatus

Die Streikleitung stellt sich auf einen langen Kampf ein: Die Operation ist auf 36 Tage, verteilt auf drei Monate ausgelegt, wenn nötig auch darüber hinaus. Der Perlenstreik soll die grösstmögliche Wirkung bei minimalen Lohneinbussen erzielen.

Der Schaden: etwa 20 Millionen Euro pro Streiktag; die Lohneinbussen: etwa 300 bis 400 Euro pro Angestellten und Monat trotz Ausgleichszahlungen aus der Streikkasse. Die Streikdisziplin war anfänglich hoch, es beteiligten sich 70 Prozent der Lokführer und 25 Prozent des übrigen Personals. Aber die Disziplin bröckelt.

Der Rückhalt geht auch bei der leidgeprüften Bevölkerung zurück, vom Höchststand von 47 Prozent auf noch knapp 40 Prozent Zustimmung. Dagegen wünschen sich über 60 Prozent, dass die Regierung nicht nachgibt.

Während die meisten Streiks bessere Arbeitsbedingungen fordern, geht es beim Bahnstreik darum, den privilegierten Sonderstatus innerhalb des Staats zu verteidigen. Die Proteste richten sich gegen befürchtete Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen infolge der anstehenden Marktöffnung für internationale Konkurrenz.

Der Gesetzentwurf zum Umbau der Staatsbahn SNCF ist bereits Mitte April in der Nationalversammlung in erster Lesung mit 454 zu 80 Stimmen gutgeheissen worden. Wenn im Juni auch der Senat zustimmt, sollte die bekämpfte Reform in Kraft treten können. Ein Beruhigungsargument betont, dass es nur um eine Reform gehe, wie sie bereits 2010 bei der Post ohne dramatische Konsequenzen für das Personal durchgeführt worden war.

SNCF-Angestellte können mit 57 in Pension gehen, während das reguläre Rentenalter bei 62 liegt.

Worum geht es? Die Regierung will die SNCF in eine Aktiengesellschaft mit öffentlichem Kapital umwandeln und den beamtenähnlichen Sonderstatus abschaffen, der den rund 150’000 Mitarbeitenden eine Beschäftigungsgarantie, automatische Gehaltserhöhungen und rund 50 Urlaubstage pro Jahr zusichert.

Die Betriebskosten, die gemäss einem Regierungsbericht 30 Prozent über denjenigen in den Nachbarländern liegen, sollen reduziert und mit der Zeit auch neue Mittel zur Verfügung gestellt werden, um das veraltete Schienennetz erneuern zu können.

Im Gegenzug bietet die Regierung an, den enormen Schuldenberg der SNCF, der in den vergangenen zwei Jahrzehnten von 20 auf über 54 Milliarden Euro angestiegen ist, schrittweise abzubauen. Die französischen Staatsbahnen sollen im Hinblick auf die von der EU beschlossene Liberalisierung im Personenverkehr bis 2020 für die künftige Konkurrenz fit gemacht werden.

Die derzeitige Regelung erlaubt bestimmten Lokführern mit 52 Jahren und den anderen Beschäftigten mit 57 Jahren in Pension zu gehen, während das reguläre Renteneintrittsalter bei 62 Jahren liegt. Premierminister Édouard Philippe erklärte: «Ich kann nicht auf der einen Seite Landwirte haben, die gar keine Rente bekommen, und auf der anderen den Eisenbahner-Status nicht ändern.»

Die Regierung weiss, dass Zurückstufungen nicht möglich sind. Darum will sie den Besitzstand gewähren, aber alle Neuanstellungen ohne die alten Privilegien vornehmen. Die so entstehende betriebsinterne Ungleichheit ist sicher störend, die Gewerkschaften wollen und können dies aber auch darum nicht hinnehmen, weil es wohl einen Mitgliederschwund zur Folge hätte.

Wie so oft tragen zwei Kontrahenten den Konflikt auf dem Buckel von Dritten aus.

Als Hauptwidersacher erscheinen auf der einen Seite die radikale marxistische Gewerkschaft CGT (Confédération générale du travail) und auf der anderen Seite der wirtschaftsfreundliche Staatspräsident. Wie so oft und auch oft schwer vermeidbar, tragen zwei Kontrahenten den Konflikt auf dem Buckel von Dritten aus.

Auffallend wenig ist vom Eisenbahn-CEO Guillaume Pepy die Rede, der immerhin schon 2008 und 2013 von Macrons Vor- und Vorvorgänger die Leitung der SNCF übertragen erhielt und beauftragt wurde, die «grande réforme» aufzugleisen. Was warum in den vergangenen Jahren nicht zustande gekommen ist, bleibt unerörtert. Ebenso warum die französische Bahn so viel schlechter dasteht als die deutsche. Wenn Macron von «Missmanagement» spricht, dann ist das eine Kritik an der Unternehmensspitze und nicht gegen die störrische Basis gerichtet.

Präsident Macron hat ehrgeizige Reformziele und stösst damit viele Französinnen und Franzosen vor den Kopf. Am 5. Mai demonstrierten Zehntausende in Paris bei einem «Fest für Macron».

Weltmeister im Streiken

Im Fall des laufenden Eisenbahnstreiks der SNCF zeigen sich – in freier Reihenfolge – drei zusammenfallende und doch je separat zu beurteilende Problembereiche: die Gewerkschaften, das Staatspräsidium und Frankreich insgesamt.

Die französischen Gewerkschaften haben zwar einen schwachen Organisationsgrad, ihnen steht in der Regel jedoch ein grosses Protestpotenzial zur Verfügung. Das zeigen die Strassenproteste mit Slogans wie «Streik oder Tod». Die Verhandlungsbereitschaft der CGT ist gering, sie betont, die legendären «Cheminots», also die Eisenbahner, hätten sich schon während der deutschen Besetzung vor der SS nicht gebeugt etc. Seit dem 19. April verweigern die Gewerkschaften Verhandlungen mit dem Verkehrsministerium.

Günter Liehr, ein ausgewiesener Experte, betont in seinem Buch «Frankreich: ein Länderporträt», dass dieses Land eine ganz eigene Konfliktkultur habe. Frankreich wird als Weltmeister im Streiken bezeichnet. Andere Quellen bestätigen das: Zwischen 2006 und 2015 fielen in Deutschland im Durchschnitt pro Tausend Beschäftigte 7 Personentage jährlich aus; in Spanien waren es 62 Personentage, in Frankreich 117.

Dabei kommt es, wie Herbert Lüthy in seinem berühmten Buch «Frankreichs Uhren gehen anders» (1954) festgestellt hat, zu einer sonderbaren Paarung von revolutionärem Habitus mit konservativer Haltung: «Das klassische Land der Revolution ist in Wirklichkeit das konservativste Land der Welt, und seine latente Anarchie selbst hat sich als wirksamster Selbstschutz gegen jeden tieferen organisatorischen Eingriff von innen oder aussen erwiesen.»

Statt eine Reform nach der anderen an die Hand zu nehmen, lanciert Macron sozusagen alle gleichzeitig.

Der Streik trägt aber auch Züge eines generellen Machtkampfs: Der forsche und autoritäre Jungpräsident soll ausgebremst, ja in die Knie gezwungen werden. Emmanuel Macron (40) ist mit dem Wahlversprechen angetreten, Frankreichs Staats- und Wirtschaftsstrukturen zu reformieren, das heisst zu liberalisieren und vermehrt dem Wettbewerb auszusetzen. Die allgemeine Arbeitsmarktreform hat er bereits im Herbst 2017 per Dekret und schon damals gegen heftige Strassenproteste eingeleitet.

Macron, vor gerade einem Jahr an der Spitze der Bewegung «en marche» zum Staatschef gewählt, hat noch vier Jahre Zeit, das während Jahren Versäumte nachzuholen. Er will es machen, selber machen und schnell machen. Auf den Einspruch, dass er zu schnell vorgehe, reagiert er mit der für ihn typischen Bemerkung, dass es ihm nicht schnell genug gehe. Statt eine Reform nach der anderen an die Hand zu nehmen, lanciert er sozusagen alle gleichzeitig.

Macron will Frankreich wie ein Unternehmen führen. Aus helvetischer Sicht vermisst man die Dialog- und Kompromissbereitschaft. Allerdings sind auch «wir», wie der jüngste Konflikt im Baugewerbe zeigt, vor Arbeitskämpfen nicht gefeit.

Ohne Reformen ist Frankreich nicht konkurrenzfähig

Macrons Vorgehensweise mag diskutabel sein, sein Ziel, die Reformen, sind hingegen nötig. Und wenn das Ziel nicht behagt, wird oft einfach die Vorgehensweise kritisiert.

Der französische Staat ist mit über 2000 Milliarden Euro verschuldet, das entspricht mehr als 90 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP). Und die Staatsquote des BIP liegt bei 56 Prozent. Damit ist die französische Volkswirtschaft nicht konkurrenzfähig. Frankreich sollte aus historischen Gründen und aus gegenwärtigem Bedarf ein politisch wie wirtschaftlich starkes Land sein. Dies nicht zuletzt, um im wichtigen Zusammenspiel mit Deutschland ein angemessener Partner zu sein.

Dem Ausgang des Eisenbahnstreiks wird allerseits eine hohe symbolische wie reale Bedeutung allgemeinerer Art beigemessen. Am 7. Mai haben Gespräche mit Regierungschef Philippe stattgefunden, aber nichts gebracht. Am Tag darauf wurde wieder gestreikt. Die Medien haben dem Verständigungsversuch kaum Beachtung geschenkt, wichtiger war ihnen, den Jahrestag von Macrons Inthronisation gross zum Thema zu machen.

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