Stresstest für Frankreichs Regierung

Paris will das AKW Fessenheim nach der neusten Panne «so schnell wie möglich» abstellen. Doch das letzte Wort ist noch nicht gesprochen.

Paris will das AKW Fessenheim nach der neusten Panne «so schnell wie möglich» abstellen. Doch das letzte Wort ist noch nicht gesprochen.

Das Dreiländereck ist nach den jüngsten Zwischenfällen in Fessenheim wieder einmal mit dem Schrecken davongekommen. Verheerende Folgen hatten die Unfälle aber auf die französische Atompolitik. Die Grünen verlangen mit mehr Nachdruck denn je die sofortige Stilllegung des ältesten Atomkraftwerks in Frankreich, wo derzeit 75 Prozent des Stroms aus 58 Reaktoren geliefert werden.

Im Frühling dieses Jahres rückte Fessenheim in den Mittelpunkt des französischen Präsidentschaftswahlkampfes. Während der damals amtierende Präsident Nicolas Sarkozy die Atomkraft noch ausbauen wollte, versprach Linkskandidat François Hollande im Zuge von Fukushima, den Atomanteil an der nationalen Elektrizitätsproduktion langfristig um ein Drittel zu senken. Zu diesem Zweck, so meinte er, sollte als Erstes das AKW Fessenheim abgeschaltet werden.

Sarkozy stemmte sich gegen Aus

In der TV-Wahldebatte Ende April ­kam es zu einem erinnerungswürdigen Schlagabtausch. «Sie verkaufen die ­Arbeiter von Fessenheim und die ganze Nuklearbranche auf dem Altar eines verachtenswerten Kuhhandels», attackierte Sarkozy sein Gegenüber. Er bezog sich dabei auf das Koalitions­abkommen zwischen den Sozialisten und den Grünen, die Stromproduktion ab 2025 nur noch zu 50 Prozent aus Kernkraftwerken zu speisen.

Hollande konterte: «Ich werde Fessenheim aus zwei Gründen schliessen. Der erste, es handelt sich um das älteste AKW des Landes. Der zweite, es liegt in einer Erdbebenzone.» Das sass ebenfalls. In einer späteren Stellungnahme erklärte Hollande, er werde Fessenheim während seines Fünfjahresmandats stilllegen lassen.

Die beiden jüngsten Pannen haben die Regierung jetzt zu einer Reaktion gezwungen. Umweltministerin Delphine Batho, eine gemässigte Sozialistin, erklärte, Fessenheim werde «so schnell wie möglich, spätestens 2017» geschlossen. 2017 endet Hollandes Mandat.

Beschlossen ist aber nichts. Der politische Kampf um Fessenheim ist keineswegs zu Ende. Im Hintergrund geht es um viel mehr als das Elsässer AKW. Zur Debatte steht der ganze französische Atomkurs, der auf die Zeiten de Gaulles zurückgeht und zwei strategische Ziele hat: die Unabhängigkeit der Grande Nation vom mittelöstlichen Öl, aber auch militärisch vom Schutzschirm der Nato. Aus diesem Grund ist das zivile «nucléaire» eng verknüpft mit der atomaren Force de Frappe. Beide Ziele sind heute Teil der Staatsraison.

Für die Grünen ist der Atomausstieg aber nicht verhandelbar – und die Schlies­sung von Fessenheim eine Conditio sine qua non. Würde Hollande auf seinen Entscheid zurückkommen, wäre die Folge der Bruch der Regierungskoalition, die nicht mathematisch, aber politisch auf die Grünen angewiesen ist.

Innerhalb der Regierung sind die Spannungen schon jetzt beträchtlich. Die Atomindustrie hat ihre Sympa­thisanten bis zum linken Flügel der ­Sozialisten. Industrieminister Arnaud Montebourg erklärte diesen Sommer fast provokativ, die Atomkraft sei eine «Zukunftsbranche». Die Grünen liefen Sturm, sodass Hollande nun gar nicht anders kann, als die Schliessung von Fessenheim zu bestätigen.

Stirbt Fessenheim aus?

Die Gegenseite will Fessenheim aber unbedingt beibehalten. An erster Stelle die EDF, die in in diesem Kraftwerk ­770 Angestellte beschäftigt und das Arbeitsplatzargument gerade jetzt – in Zeiten der Wirtschaftskrise – ausschlachtet. Die Stilllegungsarbeiten würden in den ersten fünf Jahre nur 150 Leute erfordern, danach noch 100, meint die EDF, laut der ein ganzes Dorf vom Aussterben bedroht sei.

Und die Sicherheit? Nach dem Unfall in Fukushima präsentierte die nukleare Sicherheitsbehörde Frankreichs (ASN) im Januar das Resultat monatelanger Stresstests in allen 58 Reaktoren. Fazit: «Die untersuchten Installationen weisen ein genügendes Sicherheitsniveau auf, keine von ihnen erfordert einen sofortigen Stopp», hiess es in dem Bericht. Das gilt selbst für das dienstälteste AKW vor den Toren Basels.

Die ASN verlangt immerhin, dass die 58 Reaktoren Frankreichs ihre «Robustheit in Extremsituationen» stärken. EDF muss unter anderem Not-aggregate einrichten, um die Wasserkühlung zu verbessern. In Fessenheim muss sie 40 technische Verbesserungen vornehmen.

EDF will bis 2037 weitermachen

Dermassen hochgerüstet kann Fessenheim laut ASN noch mindestens zehn Jahre funktionieren. EDF-Chef Pro­glio, der kein Mann von Halbheiten ist, hält sogar eine Lebensdauer von 60 Jahren für die meisten französischen Atomanlagen und auch für Fessenheim möglich. Das würde eine Schliessung 2037 bedeuten.

Bis Ende dieses Jahres steckt Pro­glio 80 Millionen Euro in die Erneuerung der beiden elsässischen Atommeiler. In den letzten sechs Jahren habe EDF 565 Millionen in die Zwillingsreaktoren Fessenheims gesteckt, behauptet der EDF-Boss; alle wich­tigen Komponenten, auch die Dampfgeneratoren, seien ersetzt worden. Deshalb sei der Betrieb sehr rentabel: Einem Umsatz von 500 Millionen Euro im Jahr entspringe ein Gewinn von 200 Millionen Euro.

Dieses Argument ist allerdings zweischneidig und entlarvend für die EDF. Proglio erklärt laufend, die von der ASN geforderten Sicherheitsvorkehrungen kosteten sein Unternehmen bis 2025 nahezu 55 Milliarden Euro. Schon in den nächsten zehn Jahren würden deshalb die Strompreise zwischen 22 bis 34 Prozent steigen.

Problematische Verflechtungen

Das bedeutet also, dass die Atomkraft im gleichen Mass teurer wird wie die erneuerbaren Energien. Und zweitens zeigt der Fall Fessenheim, dass die EDF sich nicht scheut, die Preis­steigerung an die Konsumenten weiterzureichen, obwohl sie zum Beispiel in Fessenheim Gewinnmargen von rund 40 Prozent erzielt.

Das atomkritische Netzwerk «Sortir du nucléaire» kritisiert dies heftig – und dazu die Nähe der Kontrollbehörde ASN zur Atomindustrie. Unabhängige Gutachten fehlen in Frankreich vollständig. Vor allem aber verlangen die Grünen die Durchsetzung von Hollandes Wahlversprechen – also einen politischen Entscheid.

Der Präsident dürfte ihn bis zum Schluss seiner Amtszeit, das heisst bis 2017, hinauszögern. Nach jetzigem Stand der Dinge wird er Fessenheim aber schliessen. Er weiss aus der Sarkozy-Ära, dass sich die Franzosen für nicht gehaltene Wahlversprechen gerne an der Wahlurne revanchieren.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 14.09.12

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