Suchtexperten leisten Komatrinkern Schützenhilfe

Komatrinker sollen auch in Zukunft die Spitalkosten nicht selber tragen müssen, finden Kritiker der neuen Vorlage der nationalrätlichen Gesundheitskommission. Aus Sicht von Suchtexperten würde die beschlossene Regelung mehr Schaden als Nutzen bringen.

«Unverantwortliche» sollen die Kosten für ihren Spitalaufenthalt selbst bezahlen. Dies hätte laut Suchtfachleuten verheerende Folgen für die Suchtprävention. (Bild: Nils Fisch)

Komatrinker sollen auch in Zukunft die Spitalkosten nicht selber tragen müssen, finden Kritiker der neuen Vorlage der nationalrätlichen Gesundheitskommission. Aus Sicht von Suchtexperten würde die beschlossene Regelung mehr Schaden als Nutzen bringen.

SVP-Nationalrat Toni Bortoluzzi will Komatrinker künftig selbst zur Verantwortung ziehen. Die Gesundheitskommission (SGK) des Nationalrats hat der Initiative vergangenen Donnerstag mit 16 zu 8 Stimmen deutlich zugestimmt. Die Vorlage sieht vor, dass die medizinischen Leistungen im Fall einer selbstverschuldeten Alkoholvergiftung nicht mehr von der Krankenversicherung, sondern komplett selbst bezahlt werden. SVP-Gesundheitspolitiker Thomas Decourten sagt: «Es ist untragbar, dass die Solidargemeinschaft der Prämienzahler das vermeidbare Fehlverhalten Einzelner finanzieren soll.»

Die Gesetzesänderung ist noch nicht definitiv. Die Vernehmlassung ist im Frühjahr, das Gesetz soll erst 2015 in Kraft treten. Bis dahin versuchen die Gegner der neuen Regelung, mit ihren Argumenten zu überzeugen. Die Ärztevereinigung FMH und verschiedene Fachstellen für Suchtbetroffene äussern scharfe Kritik an der neuen Vorlage.

Alkoholvergiftungen von Jugendlichen haben zugenommen

Die Initianten begründen ihren Vorstoss mit dem markanten Anstieg des Alkoholmissbrauchs in den letzten Jahren. Der Alkoholmissbrauch wird sowohl von den Befürwortern wie auch den Gegnern der neuen Vorlage als Problem gesehen, das dringend gelöst werden müsse. Wie die jüngste Studie von «Sucht Schweiz» zeigt, sind die Spitaleinweisungen wegen einer Alkoholvergiftung in der Altersgruppe der 10- bis 23-Jährigen von 2003 bis 2010 um 73 Prozent gestiegen. Das Alkoholproblem lässt sich der Studie zufolge aber nicht auf jene Altersgruppe reduzieren: Zwar seien die Alkoholvergiftungen von Jugendlichen im Gegensatz zu den anderen Altersgruppen markant gestiegen, doch seien 90 Prozent derjenigen, die wegen Alkoholmissbrauch eingeliefert würden, über 23 Jahre alt. Zudem würden deutlich mehr Leute wegen einer Alkoholabhängigkeit behandelt als wegen einer Alkoholvergiftung.

Decourten glaubt nicht, dass das Problem des Rauschtrinkens mit Aufklärungskampagnen, psychologischer Betreuung und «gut gemeinter Sozialarbeit» zu bewältigen sei. «Wie bei Rasern das überbordende Fehlverhalten strafrechtlich verfolgt wird, soll auch in anderen Bereichen, die klar feststellbar sind, die Eigenverantwortung wieder zählen», sagt er.

«Unschuldige» müssten nicht selbst bezahlen

In einer Medienmitteilung kritisierten unterschiedliche Suchtfachverbände die neue Vorlage. Mit der Regelung sei das Recht auf Notversorgung nicht mehr gewährleistet. Sie befürchten, dass Menschen, die sich die medizinische Versorgung nicht leisten können, in Zukunft «am Strassengraben liegenbleiben» würden. Dies könne gravierende gesundheitliche Folgen haben, im Extremfall sogar tödliche.

Die neue Regelung von Bortoluzzi sieht vor, dass Leute, die keine Schuld für die Alkoholvergiftung tragen, die Spitalkosten nicht selber übernehmen müssen. «Unschuldig» wären Betroffene, die zum Beispiel nachweisen können, dass ihnen Alkohol eingeflösst wurde, aber auch Alkoholsüchtige und Betroffene anderer psychischer Krankheiten. Problematisch erweist sich allerdings die Definition der Befürworter von «Sucht». Laut Suchtfachleuten ist es zu einfach, diejenigen als «süchtig» zu einzustufen, die «seit mindestens sechs Monaten in einer therapeutischen Behandlung» sind. Die meisten Abhängigen würden sich nicht behandeln lassen, unter anderem aus Angst vor negativen Reaktionen aus dem Umfeld.

Spitalaufenthalte seien zudem eine gute Gelegenheit, Leute auf ihr Alkoholproblem aufmerksam zu machen und Hilfe anzubieten, schreiben die Suchtexperten. Diese wichtigen Strukturen zur Prävention würden mit der neuen Vorlage wegfallen. Auch im Hinblick auf die Krankenkassenkosten sehen die Fachleute keine Verbesserung: Sie vermuten, dass Spitäler ihre Patienten in der Regel für unschuldig befänden, damit die Spitäler nicht auf den Kosten sitzen blieben, sondern die Krankenkassen dafür aufkämen.

Die «Schuldfrage» beträfe auch andere Patientengruppen

Die Mediensprecherin von «Sucht Schweiz», Monique Portner-Helfer, hält die Schuldzuweisung im Gesundheitswesen für ein Grundsatzproblem. Würde die Schuldfrage erst einmal gestellt, könnte künftig auch anderen Patientengruppen das Recht auf medizinische Behandlung abgesprochen werden – eine Überlegung, die auch bei der Abstimmung im Bundeshaus hitzig debattiert wurde. So soll nach einem Artikel von «Blick online» die SP-Gesundheitspolitikerin Jaqueline Fehr den leicht untersetzten Bortoluzzi darauf aufmerksam gemacht haben, dass Übergewicht deutlich höhere Kosten verursache als Komatrinken. Bei Übergewicht, so Bortoluzzi gegenüber der Tageswoche, sei die Schuldfrage «nicht so einfach», da «oft genetisch bedingt».

Unlängst wurde eine andere Vorlage zur Alkoholprävention diskutiert, die den Kauf von Alkohol in der Nacht durch höhere Preise und ein beschränktes Sortiment erschweren sollte. Bortoluzzi und seine Kollegen in der Gesundheitskommission waren strikt gegen diese Vorlage. Sie lehnen Präventionsmassnahmen kategorisch ab, die «alle Bürgerinnen und Bürger wegen des unverantwortlichen Fehlverhaltens einzelner bestrafen».

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