An schlechte Nachrichten aus dem östlichen Teil der EU haben wir uns schon fast gewöhnt. Nun aber erreicht uns auch eine Hiobsbotschaft aus Malta, jenem Inselstaat zwischen Sizilien und Nordafrika, mitten im Mittelmeer.
Noch bei der Aufnahme 2004 hat man ein wenig diskutiert, ob das Land überhaupt in die EU gehöre. Dies trotz seiner langen Geschichte mit eindeutig substanziellen Verbindungen zu Europa und zum Westen.
Das damalige Malta war ein anderes als das heutige. Unverändert ist das Kleinterritorium von 316 Quadratkilometern geblieben, gewaltig verändert haben sich aber die Zahl der Briefkastenfirmen und das Bankvolumen, dies unter dem Regime des Europarechts. Im «Tages-Anzeiger» konnte man kürzlich lesen: «Will man etwas verstecken, fährt man nicht mehr in die Schweiz, nach Liechtenstein oder Luxemburg. Das Paradies heisst jetzt Malta.»
In die Schlagzeilen gebracht hat Malta ein Mord. Am Montag, 16. Oktober, wurde das Auto der Journalistin Daphne Caruana Galizia (53) in die Luft gesprengt und so die unbequeme und vielgehasste Bloggerin aus dem Weg geräumt. Offenbar wusste die Frau zu viel über die ortstypische Klientelwirtschaft. Höchste Zeit, dass die EU da genauer hinschaut.
Der Zustand der EU ist auch andernorts wenig erfreulich. In Tschechien hat am vergangenen Wochenende erwartungsgemäss der milliardenschwere Populist Andrej Babis die Wahlen gewonnen, überwältigend, wie es heisst, aber mit weniger als 30 Prozent der Stimmen.
Erklärungsbedürftig ist, warum in Tschechien ein Populist gewinnen kann, obwohl die Wirtschaft blüht.
Eindrücklicher als Babis‘ Sieg ist der Umstand, dass beinahe 50 Prozent der Stimmen auf Protestparteien fielen – auf Xenophobe, auf Marihuana-Legalisierer. Der Populismus ist auch in diesem Land angekommen. Besonders erklärungsbedürftig ist die Frage, warum ein Populist gewinnen kann, obwohl die Wirtschaft blüht und die Arbeitslosigkeit so tief liegt wie sonst nirgends in der EU.
Ausserhalb Tschechiens interessieren vor allem die Konsequenzen für die EU. Worin diese bestehen werden, ist derzeit noch offen. Und bereits diese Offenheit ist bedenklich. «Noch ein Schlag gegen Brüssel», titelt ein Blatt mit Blick auf andere EU-Mitglieder in Zentral-Osteuropa. Andere betonen allerdings den Unterschied zu den stark ideologisch agierenden Regimen in Ungarn und Polen, denn Andrej Babis sei pragmatischer.
Die EU ist gut für Subventionen
So erklärte er im Moment des Triumphs, seine Partei ANO (Aktion unzufriedener Bürger/akce nespokojených občanů) sei keine Gefahr für die EU, er wolle eine proeuropäische Regierung bilden. Was die EU wert ist, hat Babis durch das hemmungslose Anzapfen von EU-Subventionen für sein Unternehmen Agrofert erfahren. Allerdings haben tschechische Ermittlungsbehörden deswegen ein Strafverfahren eingeleitet. Und auch Olaf, das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung, ist aktiv geworden.
Babis markiert in der Frage der Währung (Tschechien hält an der Krone fest) Distanz zur EU und lehnt die gemeinsame Flüchtlingspolitik ab. Er will sein Gewicht in der EU stärken, indem er als Teil der Visegrad-Gruppe auftritt, zu der neben Polen und Ungarn auch noch die Slowakei gehört. Diese informelle Gruppe ist nach der Wende von 1989 entstanden, um die Haltungen der ehemaligen Ostblockstaaten auf dem Weg in die EU zu koordinieren. Inzwischen hat sie sich aber eher zu einem oppositionellen Binnenbündnis innerhalb der EU entwickelt. Der Wind hat gedreht. Warum?
Was in Tschechien die Oberhand hat, ist der sehr westliche Thatcherismus und der noch westlichere Trumpismus.
Die aus der Slowakei stammende und heute in Saarbrücken und Prag lebende Autorin Alena Wagnerova bietet eine einleuchtende Erklärung: In den postsozialistischen Ländern Europas mache sich eine doppelte Transformationskrise bemerkbar. Einerseits bei der Transformation des sozialistischen Systems in eine kapitalistische Demokratie. Und da ist noch der den Westen belastende Umbau des Systems der sozialen Marktwirtschaft in das forciert liberale Modell des schwachen Staates mit Abtretungen staatlicher Funktionen an private Anbieter.
Das darf als Erklärung ausreichen. Es braucht nicht zusätzlich noch die fragwürdige Vorstellung vom Osten, der schon immer für autoritäre Versuchungen anfällig gewesen sei. Was zurzeit in Tschechien die Oberhand hat, ist der sehr westliche Thatcherismus und der noch westlichere Trumpismus.
Der «Nutella-Graben»
Mit der Erweiterung von 2004 wuchs die EU um zehn Mitglieder, darunter neben Malta auch mehrere aus Osteuropa. Obwohl diese Länder alles in allem von der EU-Mitgliedschaft profitiert haben, hat sich bereits seit einiger Zeit Ernüchterung, Misstrauen und Ablehnung breitgemacht. In Tschechien halten nur noch 29 Prozent die EU für eine gute Sache. Der Geist von Vaclav Havel hat sich an der Basis verflüchtigt. Die nach wie vor bestehende proeuropäische Kulturelite vermag das politische Klima nicht mehr zu bestimmen.
Äusserst schädlich auf den europäischen Zusammenhalt hat sich der sogenannte «Nutella-Graben» ausgewirkt. Westliche Grossunternehmen der Lebensmittelindustrie haben unter der gleichen Marke und in der gleichen Verpackung auf dem mittel- und osteuropäischen Markt minderwertige Produkte abgesetzt: Fischstäbchen mit geringerem Fischgehalt, Babynahrung mit geringerem Gemüsegehalt und – eben weniger cremige Nutella. Wo die Unternehmen ein derartiges Vorgehen nicht bestreiten, rechtfertigten sie es als Rücksichtnahme auf «lokalen Geschmack» und auf geringere Kaufkraft.
Der EU-Gipfel vom vergangenen März hat die Praktiken bereits verurteilt und die Kommission sich der Problematik angenommen und sogleich eine erste Million Euro dem Joint Research Center zur Verfügung gestellt, damit es die Vergleichsprüfung der Lebensmittel perfektionieren kann. Eine weitere Million steht für Durchsetzungsmassnahmen in den Mitgliedsländern zur Verfügung. Doch der Schaden ist angerichtet. Wer polemisieren will, hat zusätzlich Munition.
Nach den Wahlen muss man sich fragen, wie weit Österreich noch zum Westen gehört.
In Österreich entsprechen Nutella und auch «Packerlsuppe» den Weststandards. In politischer Hinsicht muss man sich aber fragen, wie weit Österreich nach den letzten Wahlen noch zum Westen gehört. Nicht zufällig geht Babis davon aus, dass er seinen Widerstand gegen die Flüchtlingspolitik der EU gemeinsam mit dem designierten österreichischen Regierungschef Sebastian Kurz einbringen kann.
ÖVP-Chef Kurz fuhr wenige Tage nach dem Wahlsieg vom 15. Oktober (auch mit «nur» 31,5 Prozent) nach Brüssel, wo man allerseits Freundlichkeiten austauschte. Kurz versprach, dass jede Regierung, die er anführe, «proeuropäisch» sein werde, dass er eine «enge» Zusammenarbeit mit Deutschland und Frankreich pflegen, zugleich aber auch «guten» Kontakt zum Osten haben möchte. Wie das in der Praxis umgesetzt wird, hängt vom Koalitionspartner ab, den er braucht, um zu regieren.
Als möglicher Partner einer Rechts-Rechts-Regierung wird die FPÖ mit ihrem Chef Heinz-Christian Strache gehandelt, der mit der Visegrad-Gruppe gegen den Rest der EU antreten möchte. Kommt Strache als Aussenminister nicht infrage, könnte ihm das Innenministerium zufallen. Damit würde der Mann mit rechtsextremer Vergangenheit zuständig für Polizei und Verfassungsschutz, was darauf hinauslaufen könnte, dass der Bock zum Gärtner wird.
Als Österreich sanktioniert wurde
Europaweit haben sich in den vergangenen 15 Jahren die politischen Koordinaten verschoben. Als Wolfgang Schüssel (ÖVP-Chef und engagierter Europäer) im Februar 2000 mit der FPÖ eine Koalitionsregierung bildete, reagierte nicht die EU, aber die Gesamtheit der übrigen 14 EU-Mitglieder mit Protesten und – ohne Anhörung des Betroffenen – mit Sanktionen, weil sich der damalige FPÖ-Chef Jörg Haider mehrfach fremdenfeindlich, antisemitisch und nazifreundlich geäussert hatte.
Obwohl Haider der Regierung gar nicht angehörte, wurde Österreich unter Quarantäne gestellt, die bilateralen Beziehungen auf Regierungs- und diplomatischer Ebene wurden weniger. Nachdem ein Expertenbericht feststellte, dass die Regierung für die europäischen Werte eintrete und die Rechtslage derjenigen anderer EU-Staaten entspreche, wurden diese Sanktionen bereits nach einem halben Jahr wieder rückgängig gemacht, aber erklärt, man werde Österreich weiterhin im Auge behalten.
Die Sanktionen mögen besonders auf die ÖVP warnend gewirkt, der FPÖ dürften sie hingegen Auftrieb gegeben haben. Österreich rückte zusammen, und EU-Kritiker (auch in der Schweiz) sahen in der harschen Reaktion den Beweis, dass die grosse EU gegen kleine Staaten rücksichtslos vorgehe und bereit sei, in das demokratische Innenleben ihrer Mitglieder einzugreifen. Man kann davon ausgehen, dass die EU aus dieser Episode gelernt hat.
Damit ist sie aber nicht der Aufgabe enthoben, auch die jüngsten Entwicklungen «im Auge» zu behalten. Die EU ist nicht nur ein Friedensprojekt bezüglich der militärischen Konflikte zwischen Staaten, sie muss es auch bezüglich des politischen Friedens in den Gesellschaften sein.