Mit den «sozialen Stadtrundgängen» will der Verein Surprise zeigen, wie sich Armutsbetroffene in Basel im Alltag über Wasser halten. Nun soll das Angebot auf Zürich ausgeweitet werden.
Man könnte meinen, dass die Leute eher ungern mit Armut und sozialer Abhängigkeit konfrontiert werden. Die Erfahrung des ersten halben Jahres der Surprise-Stadtrundgänge beweist allerdings das Gegenteil: Die Nachfrage war gross, viele Leute interessieren sich anscheinend dafür, was in Basel für Armutsbetroffene gemacht wird, und wo diese sich überall aufhalten.
Die «sozialen Stadtrundgänge» des Vereins Surprise gibt es seit Anfang April. Armutsbetroffene führen dabei durch «ihr» Basel und zeigen Interessierten eine Seite dieser Stadt, die den meisten ansonsten verborgen bleibt. «Das Thema Armut soll in allen Facetten dargestellt werden», sagt Surprise-Geschäftsleiterin Paola Gallo. Es existiere immer noch viel Scham, auf beiden Seiten: «Viele Leute senken den Blick, wenn sie an einem Surprise-Verkäufer vorbeilaufen, weil sie ein schlechtes Gewissen haben.» Umgekehrt schämten sich auch viele Armutsbetroffene: «Sie sind oft sprachlos über ihre eigene Situation, verstummen und ziehen sich zurück.»
Diese verbreitete Zurückgezogenheit und das mangelnde Selbstvertrauen habe die Suche nach passenden Strassenführern für das Projekt erschwert. «Die Fähigkeit, die eigene Situation zu reflektieren, und dies auch noch sprachlich selbstbewusst zu vermitteln, haben nicht viele.» Schliesslich wurden drei Männer gefunden, die einen humorvollen und gleichzeitig fundierten Einblick in ihren Alltag gewähren.
Ein Stadtführer kam weg von der Sozialhilfe
Der Verein Surprise will die «vielfältigen Unterstützungsangebote» für Armutsbetroffene sichtbarer machen. Drei unterschiedliche Touren können gebucht werden, eine führt durch die «Konfliktzone» beim Bahnhof, die anderen beiden an unterschiedlichen Institutionen und Nischen im Kleinbasel vorbei, etwa an der Gassenküche, dem Caritas-Kleiderladen oder dem Schulden-Beratungsbüro Plus-Minus. Die Institutionen verbergen sich in unscheinbaren Häuserzeilen, in Wohnquartieren oder auch im Rotlichtmilieu, wo sie kaum wahrgenommen werden.
Mit den Stadtrundgängen habe man vor allem ein Ziel: Vorurteile und Berührungsängste abbauen. Wie Markus Christen, einer der Surprise-Stadtführer und Quartier-Blogger bei der Tageswoche, in einem Kommentar schrieb, müssten Randständige nicht immer mit «vergrämten Gesichtern» und «zerlumpten Kleidern» daherkommen: «Kommen Sie an eine unserer Führungen und erleben Sie hautnah, dass auch Menschen am Rande der Gesellschaft Selbstwertgefühl haben; dass sie durch ihre Lebensumstände oft dazu gezwungen sind, den Widrigkeiten des Alltags mit einer gesunden Prise Humor zu begegnen.»
Jede Tour wird von einem Surprise-Stadtfüher begleitet, der den Rundgang mit persönlichen Erlebnissen und Anekdoten bereichert. Zwei von ihnen standen schon vorher für Surprise auf der Strasse, als Zeitungsverkäufer und im Strassenchor. Die Stadtrundgänge seien für sie eine gute Gelegenheit, sich einen zusätzlichen Verdienst zu erarbeiten. Einer der Strassenführer könne nun sogar von der Sozialhilfe weg gebracht werden – dank eines Chancenarbeitsplatzes, eine Kombination von Stadtrundgängen und Heftverkauf.
Als erste NGO in der Schweiz benutzt Surprise «Crowdfunding»
Laut Gallo hatte das Konzept eine so gute Resonanz, dass bereits die Planung eines ähnlichen Stadtrundgangs in Zürich im Gang sei. Diese Ausweitung des Projekts werde über «Crowdfunding», also über Sponsoring durch möglichst viele Privatpersonen, finanziert. Der Spenden-Aufruf startete anfangs Dezember.