Die russische Kriegsführung in der Ukraine hat im Baltikum alte Ängste geweckt. Immer mehr Esten lassen sich im Guerilla-Kampf ausbilden. Unsere Autorin hat die Männer und Frauen drei Tage lang begleitet.
Auf zum Guerillakampf: Schiessen, laufen, orientieren – die Esten lassen sich zu wehrhaften Bürgern ausbilden.
(Bild: Simone Brunner)In die Camps ziehen immer mehr Bürgerinnen und Bürger ein: Die Zahl der Männer und Frauen stieg auf 16'000.
(Bild: Simone Brunner)Warum man sich in den Schnee legt bei Minusgraden, darüber gibt es verschiedene Aussagen: Sie schwanken zwischen «lernen in der Natur zu überleben» bis hin sich gegen mögliche Feinde wie Russland zu wehren.
(Bild: Simone Brunner)Nach einem Gewaltsmarsch die Karte noch richtig lesen – keine einfache Aufgabe für IT-Angestellte, Lehrer und Ingenieure, welche die körperlichen Anstrengungen nicht gewohnt sind.
(Bild: Simone Brunner)Tarnanzug, Sturmgewehr und Wille – die Esten verbinden modernste Technik mit alten Kriegsqualitäten.
(Bild: Simone Brunner)Auch Opfer gehören zu den Trainings. Sie verlieren auch mal ihre Eingeweide…
(Bild: Simone Brunner)…geübt wird dann die Betreuung.
(Bild: Simone Brunner)Und nein, nicht nur Männer sind dabei.
(Bild: Simone Brunner)Wer bis zum Schluss durchbeisst, darf auch mal ans Maschinengewehr ran.
(Bild: Simone Brunner)Kälte, Schnee und ein Hügel – estnisches Überlebenstraining.
(Bild: Simone Brunner)Die ganze Nacht ist Taavi Tuisk durchmarschiert. Im Morgengrauen hat er Sprengfallen entschärft und sich im Dickicht vor feindlichen Truppen versteckt. Jetzt ist er über eine Landkarte gebeugt, um die Stellungen des Gegners zu studieren. Keine leichte Aufgabe, wenn man 35 Kilometer in den Beinen hat und gerade mal 20 Minuten geschlafen hat. Und dann ist die Schrift auch noch kyrillisch.
Warum sind die Stellungen auf der Karte gerade russisch angeschrieben? «Dass die Russen unsere Feinde sind, ist nun mal ein Szenario, das wir oft durchspielen», sagt Tuisk lachend. Er sieht nicht wie ein rechter Fanatiker oder Kriegstreiber aus: schwarze Hornbrille, drahtiger Körper, freundliches Lächeln.
Der 39-Jährige arbeitet in einer Berufsschule auf der grössten estnischen Ostseeinsel Saaremaa. Doch heute hat er das Klassenzimmer gegen die estnischen Wälder getauscht. Eisiger Wind pfeift ihm um die Ohren, es ist sechs Grad unter Nnull. «So kann ich zumindest einen kleinen Beitrag leisten, um mein Land im Fall des Falles zu verteidigen», erklärt der Familienvater.
Tarnanzug, Sturmgewehr und Wille – die Esten verbinden modernste Technik mit alten Kriegsqualitäten. (Bild: Simone Brunner)
Der Osten Estlands. Verschneite Hügel, vereiste Sümpfe, Birkenwälder. Einmal im Jahr wird hier das militärische Überlebenstraining «Utria» abgehalten. Diesmal messen sich 28 Teams im mehrtägigen Outdoor-Partisanenkampf: Beschuss zuordnen, mit dem Maschinengewehr zielen, Hindernisparcours überwinden und Verwundete versorgen, dazu ein Fussmarsch von rund 100 Kilometern in 36 Stunden.
Mit dem Wettkampf soll an die Schlacht in Utria von 1919 erinnert werden, als estnische und finnische Guerilla-Kämpfer die Rote Armee aus einem Hinterhalt in die Flucht geschlagen haben – eine Schlacht, die bis heute als Sieg im Estnischen Unabhängigkeitskrieg von 1918 bis 1920 gefeiert wird. Doch heute sind die Partisanen modern ausgerüstet: Sturmgewehr, Schneetarnanzug, Digitalkameras, Stirnlampen und GPS. Von der Strecke schicken sie immer wieder Selfies an ihre Angehörigen.
Das russische Militär hat zuletzt atomwaffenfähige Kurzstreckenraketen in die russische Exklave Kaliningrad verlegt.
Die russische Aggression in der Ukraine hat im Baltikum alte Ängste geweckt. Nicht völlig ohne Grund: Immer wieder kommt es im baltischen Luftraum zu Verletzungen durch russische Militärflugzeuge. Zuletzt hat das russische Militär atomwaffenfähige Kurzstreckenraketen in die russische Exklave Kaliningrad verlegt. Wie in Estland, so verzeichnen auch in Litauen und Lettland die paramilitärischen Organisationen seit 2014 einen starken Zulauf. Zuletzt liess Litauen sogar mit dem Vorschlag aufhorchen, einen zwei Meter hohen Zaun zur russischen Exklave Kaliningrad zu bauen.
Seit der Annexion der Krim und dem Krieg im Donbass ist die Zahl jener Esten, die sich an Wochenenden und in Sommercamps regelmässig zu wehrhaften Bürgern ausbilden lassen, um zehn Prozent nach oben gegangen auf aktuell knapp 16’000 Männer und Frauen. Mit den Jugendorganisationen kommt der «Nationale Verteidigungsbund» (estnisch «Kaitseliit»), der dem Freiwilligenverband der Streitkräfte angehört, sogar auf 25’600 Mitglieder. Das ist umgerechnet jeder 50. Bürger der 1,3 Millionen Bürger Estlands. Die estnische Armee zählt dagegen nur 6000 Personen.
Einen «Sicherheitsteppich» nennt das Neeme Brus, Sprecher des Verteidigungsbunds: «Wir haben Kämpfer in jeder Stadt, jedem Dorf, fast könnte man sagen: in jedem Haus.» Die Selbstverteidiger sind derweil keine Hysteriker oder rechten Fanatiker, sondern Lehrer, IT-Entwickler, Studenten oder Unternehmer. «Es geht nicht darum, dass ich Angst vor einem Krieg habe», sagt die Kellnerin Ruth aus Tartu. Geflochtene Zöpfe, schwarze Brille, Kapuzenpulli.
Die 29-Jährige nimmt in diesem Jahr zum ersten Mal am Wettkampf teil. Vielmehr geht es ihr darum, ihre Grenzen auszutesten und zu lernen, in der Natur alleine zurechtzukommen, sagt sie. Der Nachsatz ist allerdings deutlich: «Aber wenn eines Tages doch etwas passieren sollte, ist es gut, gewisse Dinge zu wissen.»
Warum man sich in den Schnee legt bei Minusgraden, darüber gibt es verschiedene Aussagen: Sie schwanken zwischen «lernen in der Natur zu überleben» bis hin dazu, sich gegen mögliche Feinde wie Russand zu wehren. (Bild: Simone Brunner)
Dass der designierte US-Präsident Donald Trump die Nato zuletzt kritisiert sowie mehrmals die Nato-Beistandsklausel in Zweifel gezogen hat, wird im Baltikum mit vorsichtiger Sorge gesehen. «Ich habe grosses Vertrauen in die Checks and Balances in den USA und zweifle nicht an ihrer Bereitschaft, die Weltordnung zu sichern», sagt Meelis Kiili, Kommandant des Verteidigungsbundes, am Rande des Wettkampfs zu Journalisten. Die baltischen Staaten sind seit 2004 Nato-Mitglieder.
Immerhin sprechen die Fakten am Boden derzeit eine andere Sprache als die des US-Präsidenten: Eben erst wurden dieser Tage im Rahmen der Operation «Atlantic Resolve» in Polen rund 4000 US-Soldaten stationiert. Auch im Baltikum werden Nato-Soldaten zusammengezogen, in Estland sollen es bis zum Frühling 500 britische Soldaten werden (mehr dazu in der Infobox).
Was Nato-Kritiker zuletzt im «Bremenhavener Appell» als «Säbelrasseln» kritisieren, sehen die Balten als Garant ihrer Unabhängigkeit. Wenngleich es derzeit «keine direkte Bedrohung» durch Russland gebe, wie Kiili betont. «Aber es ist nichts Falsches daran, sich für das Schlimmste vorzubereiten.» Derweil wurden dieser Tage auch bilaterale Militärabkommen zwischen den USA und Estland, Lettland und Litauen abgeschlossen.
Wer bis zum Schluss durchbeisst, darf auch mal ans Maschinengewehr ran. Szenen bei Narwa. (Bild: Simone Brunner)
Tag drei. Der Wettkampf endet in der Stadt Narwa, direkt an der Grenze zu Russland. Am gleichnamigen Grenzfluss erhebt sich auf der estnischen Seite die mächtige Hermannsfeste, im Mittelalter von den Dänen gegründet und später an den Deutschen Orden verkauft.
Narwa hat eine blutige Geschichte: Die Stadt wurde 1721 unter Peter dem Grossen von den Russen erobert, im Estnischen Unabhängigkeitskrieg kam die Stadt wieder unter estnische Kontrolle. 1940 wurden die baltischen Staaten infolge des Hitler-Stalin-Pakts von der Sowjetmacht annektiert, 1941 von den Nazis besetzt und 1944 von den Sowjets zurückerobert.
Seit dem EU-Beitritt Estlands 2004 verläuft hier eine EU-Aussengrenze zu Russland. Hier verbindet heute eine überdachte Brücke über den Fluss die EU mit Russland. Die Wolken hängen tief und düster, über Nacht ist Schnee gefallen.
Kälte, Schnee und ein Hügel – estnisches Überlebenstraining. (Bild: Simone Brunner)
Die Sorgen um ein «Donbass-Szenario» aufgrund der hybriden russischen Kriegsführung in der Ostukraine – über das vor allem in Hinblick auf die ethnischen Russen, die in Narwa mehr als 90 Prozent der Einwohner stellen, immer wieder spekuliert wurde – haben sich als völlig unbegründet erwiesen. Zu gross sind die Privilegien als EU-Bürger, trotz einer umstrittenen Minderheitenpolitik der Esten und der wirtschaftlichen Misere in der knapp 60’000-Einwohner-Stadt, nachdem die grosse örtliche Textilfabrik zuletzt geschlossen wurde.
Es ist dennoch eine skurrile Szenerie: Die Wettkampf-Teams erklimmen mit letzter Kraft die Festungsmauern, während Gewehrfeuer von den Zinnen donnert. Das Echo wird von den Mauern der Festung von Iwangorod, der Zwillingsstadt am anderen Ufer, gebrochen. Von dort weht schon die russische Fahne.
Also doch alles nur eine Abschreckung für Russland?
«Wenn Sie eine Alarmanlage in ein Haus oder eine Wohnung einbauen, werden Sie dadurch auch keine 100-prozentige Garantie gegen Einbrecher bekommen», sagt der Selbstverteidiger Madis Milling, der zugleich als Politiker für die Reformpartei im estnischen Parlament sitzt, «aber der Einbrecher wird es sich zumindest zweimal überlegen. Russland muss verstehen, dass es sich nicht lohnt, Estland anzugreifen.»