Eine Reise durch den Berner Jura, der diesen Sonntag über seine Zukunft abstimmt. Einmal mehr.
Wir tranken Café in La Ferrière, wir hatten Mitleid mit Tavannes, wir suchten Schelten. Wir suchten eine Antwort. Warum kommt der Berner Jura in unserer Wahrnehmung nicht vor? Und warum beschäftigen sich die etwas über 51’000 Einwohner dieses vergessenen Fleckens Schweiz am liebsten mit sich selber? Eine Antwort, so viel jetzt schon, erhielten wir nicht. Höchstens eine Ahnung davon, in Schelten, einer Streusiedlung mit 40 Einwohnern. Steil schlängelt sich der Feldweg durch den Wald empor, steil und weit. Am Ende des Weges: ein Bauernhaus. Davor: Thomas Hirsbrunner, seit 2005 Gemeindepräsident von Schelten. Er sagt: «Ich mag das Wilde. Das Ruche. Sonst wäre ich nicht hier im Jura.»
Wild und rau, das passt nicht nur zur Natur oder zum zuweilen garstigen Wetter. Wild und rau ist auch eine Beschreibung der jurassischen Mentalität, ein Grund, warum die «Jurafrage» seit Jahren aufgeregt verhandelt wird. Und das in einer Gegend, in der nur schon ein Weiler wie Schelten ein kleine Welt für sich ist.
200 Jahre Streit
200 Jahre schon dauert der Streit um die jurassische Identität, und schuld daran ist ein Franzose. Nach dem Sturz von Napoleon schlug der Wiener Kongress 1815 das gesamte Gebiet des Juras – den heutigen Kanton Jura, den Berner Jura und das Laufental – dem Kanton Bern zu. Die Herren in Wien vereinten damit, was nie zusammen war. Der Norden war lange Jahrhunderte vom Fürstbistum Basel dominiert (und darum katholisch), der Süden orientierte sich Richtung Bern und Biel (und war entsprechend protestantisch).
Was mit einem Federstrich 1815 zusammengefügt wurde, brach unter Ächzen und Stöhnen wieder auseinander. Den Höhepunkt erreichte der Konflikt in den 60er- und 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Steine stehlen, Bundesräte anrempeln, Autobomben zünden, patriotische Lieder singen. Die Schweiz beobachte fiebrig, wie da im Niemandsland zwischen dem Neuenburgersee und der Basler Agglomeration ein neuer Kanton forciert wurde.
Als 1978 die entscheidende Abstimmung vorüber und der Weg frei für einen neuen Kanton war, da verlor die Jurafrage (wir möchten sogar sagen: da verlor der Jura selber) jegliche Aufmerksamkeit der restlichen Schweiz.
Dabei war die Frage auch mit der Abstimmung von 1978 nicht restlos geklärt. Bereits drei Jahre vor der entscheidenden Eidgenössischen Abstimmung hatten sich die drei südlichen Distrikte für den Verbleib beim Kanton Bern ausgesprochen – diese drei Distrikte bildeten von da an den Berner Jura. Und damit den perfekten Ausgangspunkt, um den Streit um die Frage der richtigen Zugehörigkeit nie ganz abbrechen zu lassen.
Der emeritierte Basler Geschichtsprofessor Georg Kreis beleuchtet die lange Unabhängigkeitsgeschichte des Jura.
Es wird wieder abgestimmt
Um die Frage ein für allemal zu klären, wurde 1994 die interjurassische Versammlung gegründet. 2009 beschloss diese, Abstimmungen über die Wiedervereinigung des Kantons Jura mit dem Berner Jura abzuhalten.
Und da wären wir jetzt. 24. November 2013. Abstimmung. Die Jurafrage im nationalen Fokus. Auch wenn der Abstimmungskampf Welten von jener Emotionalität entfernt ist, die er vor 40 Jahren hatte. Zu austariert ist der Kompromiss, zu langwierig der Prozess. Bei der Abstimmung vom Wochenende geht es nur darum, ob man eine Wiedervereinigung überhaupt prüfen soll. Stimmen beide Kantone Ja, dann wird eine verfassungsgebende Versammlung einberufen.
Allerdings, und das ist mit ein Grund für den eher lauwarmen Abstimmungskampf, wird es wohl gar nicht so weit kommen: Alle Umfragen sagen ein deutliches Ja im Kanton Jura und ein ebenso deutliches Nein im Berner Jura voraus.
Dieses Nein, es hat vor allem praktische Gründe, wie wir schon zu Beginn unserer Reise erfahren. Wir starten im äussersten Westen des «Jura bernois». In La Ferrière. Die Grenze zu Frankreich liegt gleich um die Ecke, ebenso der Kanton Neuenburg. Sylvie Fuhrer führt mit ihrem Mann die «Little Ranch» in La Ferrière, im Sommer ein Biker-Treff. Sie stamme ursprünglich aus der Bretagne, erzählt sie uns. Schlägt ihr Herz also für den Kanton Jura, der Frankreich näher liegt als Bern? Nein, sie habe keine Lust, die Zugehörigkeit zu wechseln. Jahrelang habe man darum gerungen, dass Kinder ab 16 Jahren ins nähere La Chaux-de-Fonds (NE) zur Schule gehen können. Und nun soll alles wieder ändern, weil man zum Jura wechsle? Lieber nicht.
Die Berner Bauern im Sankt-Immer-Tal
Dasselbe hörten wir schon, als wir vom bilinguen Biel dem Kalkstein folgten, zum Chasseral, Richtung Saint-Imier. «Sankt-Immer-Tal» nennt es Brocantier Henri-René Meier in Corgémont. Wie die meisten Menschen hier hat er Deutschschweizer Vorfahren. «Das Sankt-Immer-Tal fühlt sich Bern zugehörig», sagt er und erzählt, dass es vor langer Zeit von vielen Berner Bauern besiedelt worden sei. Dann folgte die Uhrenindustrie, für die auch er, ausgebildeter Ingenieur, lange arbeitete und im Auftrag von Nicolas Hayek Firmen sanierte.
Als Meier von unserer Herkunft erfährt, spricht er auf Schwyzerdütsch weiter, mit diesem charmanten frankophonen Accent. «Viele Familien hier im Tal entlang der Suze reden zu Hause noch immer Mundart, in der Schule oder im Bistro hingegen Französisch.» Man sei bilingue – und stolz darauf.
Viele reden zu Hause Mundart und im Bistro Französisch: Man ist bilingue – und stolz.
Dass am Wochenende dennoch einige Leute in seiner Region für das Zusammengehen mit dem Kanton Jura stimmen, zeigt sich an den Strassenrändern. Denn nebst dem Berner Bären finden sich auf den Kalksteinfelsen auch Sprayereien von Separatisten. Was heute gemalt ist, wurde früher geworfen, wie sich eine Bekannte erinnert: Vor über 40 Jahren fuhr sie, junge Krankenschwester in Biel, in einem VW Käfer mit Arbeitskolleginnen nach Saint-Imier, in den Ausgang. Ihre Mundart verriet sie als Auswärtige, weshalb sie mit Rüebli beworfen wurde: «Wir haben hier keine Bären, geht zurück!», rief man ihnen aus einem Fenster zu.
«Je m’en fous»
Ob Saint-Imier heute noch gespalten ist? Ein Streifzug durchs Uhrmacherstädtchen widerlegt das. Die Jungen, die wir treffen, sind entweder für Bern, oder ihnen ist die Abstimmung völlig gleichgültig. «Je m’en fous», hört man viele sagen. Und das selbst im Espace Noir, diesem traditionsreichen linken Kulturzentrum, wo der Geist des Widerstands historisch bedingt ist: In Saint-Imier fand 1872 ein weltweit bedeutender Anarchistenkongress statt, wurde die antiautoritäre Internationale gegründet. Hier hatten einst die Arbeiter der Uhrenfabrik Longines aufbegehrt und sich gewerkschaftlich organisiert.
Bei unserem Besuch im Espace Noir findet im Keller ein Kinoabend statt, ein Dokfilm über den jurassischen Anarchisten André Bösiger wird gezeigt. Sind sie, die Anarchisten, für den Beitritt zum wilden Jura? «Je m’en fous», hören wir einmal mehr. Dem Punk an der Theke ist es egal. Ihm liegen grössere Fragen, eine andere Weltordnung am Herzen. Und am kommenden Wochenende die Annahme der 1:12-Initiative.
Tristesse in Tavannes
Tags darauf in Tavannes. Der Unterschied zwischen der Utopie der Anarchisten und dem tatsächlichen Alltag könnte nicht grösser sein. Bonjour Tristesse: Viele Hausfassaden blättern ab, Schilder verblassen, auf einer Fahne an der Hauptstrasse preist sich die Gemeinde als «Quelle der Zukunft» an – die Schaufenster des Hauses dahinter sind leer. «Viele Junge, die eine höhere Ausbildung anstreben, verlassen den Ort und kehren nicht mehr zurück», sagt uns ein Passant. Und nicht nur die Jungen gehen. Die Manor hat sich vor zwei Jahren auch aus dem Tal verabschiedet. Zukunft sieht anders aus.
Also rauf in den Norden, ins höher gelegene Tramelan, wo immerhin die Sonne scheint. Auch sonst macht dieses Dorf einen bunteren Eindruck: Die vielen Berner Fahnen tragen dazu bei. Ist die Jurafrage hier geklärt? «Für uns ist eine andere Abstimmung viel bedeutender: die angestrebte Fusion mit umliegenden Gemeinden wie Tavannes», erfahren wir im lokalen Bistro.
Dem Punk an der Theke ist die Jurafrage egal. Ihm liegen grössere Fragen am Herzen.
Wir sind erstaunt über den Pragmatismus in Tramelan. Immerhin kam doch einer von hier, der den militanten Bewegten von damals ein seriöses Gesicht verlieh: Roland Béguelin, politischer Geburtshelfer des Kantons Jura. Vor 20 Jahren starb der Sozialdemokrat, seine Mission ist vergessen: «Diese neuerliche Jura-Abstimmung kommt 20 Jahre zu spät. Oder 20 Jahre zu früh. Je nach Sichtweise», sagt ein Jugendlicher am Bahnhof. 45 Minuten dauerte seine Rückreise aus Biel, wo er das Lycée, das Gymnasium besucht. Ins jurassische Porrentruy hätte er deutlich länger – auf solche Umwege habe er keinen Bock. Er wird «Non» stimmen.
Das Nein des Unternehmers
Genau wie Marc-Alain Affolter, der uns vor der Eingangspforte seiner Firma, der Affolter Gruppe, in Malleray erwartet. «Sie glauben nicht, wie sehr ich den 25. November herbeisehne, den Tag nach der Abstimmung», sagt er uns zur Begrüssung.
Seit einem Jahr engagiert sich der Unternehmer im Abstimmungskampf. Als hätte er nicht genug zu tun. Kommt eben zurück von einer Sitzung aus Neuenburg, hat ein Abendessen in Biel vor sich – und morgen früh eine Gruppe koreanischer Geschäftsleute im Büro. Affolter führt das vor knapp 100 Jahren gegründete Familienunternehmen mit seinen Brüdern. Man beliefert unter anderem die Uhrenindustrie mit Räderwerken. Und die ganze Welt mit Hightech-Maschinen. Der Patron lässt sich in seinen Corbusier-Sessel fallen. Für ihn war immer schon klar, dass der Kanton Bern die richtige Wahl ist. Vor 40 Jahren, als er Student war, schloss er sich den Sangliers an, den Berntreuen.
Die Unruhen damals bekam sein Vater zu spüren, Ingenieure waren schwer davon zu überzeugen, in dieser umstrittenen Region zu arbeiten. Die negativen Schlagzeilen bremsten den wirtschaftlichen Aufschwung. Tun es wieder. «Ich hoffe, dass die Frage endlich mal geklärt ist.» Er ist zuversichtlich: «Vor 40 Jahren gab es keine Vergleiche, war alles Bern. Heute aber sehen die Jungen genau, dass es dem Kanton Jura nicht gut geht. Sie orientieren sich nach Biel, Bern, Neuenburg, Lausanne. Die Kultur ist eine andere.»
Und die Konfessionszugehörigkeit? Spielt die eine Rolle? «Bien sûr», sagt der Unternehmer. Als sein Vater zur Schule ging, gab es keinen einzigen Katholiken in der Klasse. In den letzten Jahrzehnten aber haben sich viele jurassische Pendler niedergelassen, vor allem in Moutier. Das habe zu einer Verschiebung der Verhältnisse geführt. Was sich nun auch in der Sehnsucht nach einem Grosskanton niederschlage. «Das wäre für den Berner Jura finanziell nicht attraktiv.» Die Steuern sind höher im Jura. Zudem ist zu befürchten, dass Regionalspitäler geschlossen würden. «Wir können mit unserer aktuellen Teilautonomie doch ganz gut leben», sagt Affolter. Wenn nur dieser Zuber nicht wäre.
Das Ja des Sozialdemokraten
Dieser Zuber. Maxime Zuber. Ohne ihn wäre die Jurafrage nicht wieder gestellt worden. Seit zehn Jahren weibelt der Sozialdemokrat aus Moutier für eine Wiedervereinigung des gesamten Juras. «Ich kenne ihn, aber wir sind keine Copains. Wir kommunizieren primär über die Leserbriefseiten», sagt Affolter. Und wünschte sich, der Motor Zuber hätte nie so Fahrt aufgenommen, dass die ganze Frage erneut gestellt wird.
Allerdings wird sie eher leise gestellt, selbst in Moutier. Klar, es hängen einige Plakate in den Strassen, «Oui!», wagen wir es doch! Schauen wir in die Zukunft! Moutier gilt heute noch als Zentrum der Pro-Jurassier. Von der alten Begeisterung, von Wut oder gar Hass ist im Städtchen mit seinen 8500 Einwohnern aber nichts mehr zu spüren.
Maxime Zuber möchte den Jura in einem Europa der Regionen optimal positionieren.
Was ist passiert, seit damals? Der Gemeindepräsident ist ein Charmeur, ein eloquenter Mann. Ganz anders als die jurassischen Kämpen aus den 70er-Jahren, auch wenn er sie als Kind schon bewundert hat und heute noch verehrt. «Die Ausgangslage ist eben eine ganz andere geworden», sagt Zuber: «Es geht nicht mehr um die Freiheit, um die Wahl zwischen dieser oder jene Flagge, sondern ganz einfach um einen Dialog, in dem wir die Frage klären können, wie unsere Region am besten organisiert werden kann.»
Eine Option für die Zukunft
Für Zuber selbst steht die Antwort fest. Der Berner Jura gehöre zum Kanton Jura, weil man eine gemeinsame Kultur habe und die entscheidenden Stellen in einem Staat nahe bei den Menschen sein müssten. Ihm geht es darum, den institutionellen Rahmen den natürlichen Lebensräumen anzupassen. So möchte er den Jura in einem Europa der Regionen optimal positionieren. Ob er das schon nach diesem Sonntag tun kann? Die Prognosen sehen düster aus. In diesem Fall könnte sich seine Gemeinde aber immer noch überlegen, ob sie sich alleine dem Kanton Jura anschliessen möchte. Oder zusammen mit anderen wechselwilligen Gemeinden.
Am Ende der Welt
Schelten wird keine dieser Gemeinden sein. Ganz im Norden liegt das letzte Dorf unserer Reise. Hier wird Deutsch gesprochen, eine Ausnahme im Berner Jura und mit ein Grund, warum die Gemeinde sich eher Richtung Bern orientiert. Oder gleich Richtung Basel, wie der Gemeindepräsident sagt. Thomas Hirsbrunner, 58 Jahre alt, grauer Bart, drahtiger Mensch, lebt und arbeitet seit 1992 in einem abgelegenen Bauernhof.
Am nächsten Sonntag wird Hirsbrunner in der multifunktionalen Schule sitzen und die Wahlzettel seiner Mitbürger zählen. Die Mitglieder des Gemeinderats wechseln sich im Turnus im Wahlbüro ab, seit Jahren schon. Am nächsten Sonntag wird ihnen dabei ein Wahlbeobachter des Eidgenössischen Justizdepartements über die Schulter schauen. «Es sind alle unglaublich nervös», erzählt Hirsbrunner. Eine Versammlung sei eigens zur Vorbereitung des Sonntags einberufen worden, «als würden wir zum ersten Mal eine Abstimmung durchführen».
Wichtige und wichtigere Dinge
Der Gemeindepräsident kann die Aufregung nicht ganz verstehen. Es sind andere Dinge, nähere und praktischere, die ihn als Gemeindepräsidenten umtreiben. Vor Kurzem wollte die Schulinspektion das Schulhaus schliessen, einmal mehr.
Hirsbrunner spricht überlegt. Und je länger er spricht, je länger er formuliert, desto klarer wird uns: Die Abstimmung vom nächsten Sonntag ist nur ein Echo auf vergangene Zeiten. Die Emotionalität ist dem Pragmatismus gewichen. Als Gemeindepräsident von Schelten geht es ihm nicht um Abstraktes wie die Frage, in welchem Kanton die eigene Souveränität nun etwas grösser sei. Es geht darum, ob der Pöstler weiterhin die Briefe aus den Milchkästen der Bauernhöfe mitnehmen und selber frankieren darf (dafür hat er kürzlich einen Rüffel erhalten). Ob die Poststelle im Nachbardorf offen bleibt, wie lange es die Schule noch gibt, ob vielleicht irgendwann wieder ein Café öffnet.
Hirsbrunner nimmt uns nach draussen, hinter den Hof. Die Hofhunde bellen nicht mehr, sie schmiegen sich an unsere Beine. Der Gemeindepräsident erklärt seine Aussicht. Sein Land. Er tut das ruhig und gelassen. Ein Mensch, der in sich ruht. Ein Mensch, der sich nicht von der Aufgeregtheit der Politik beirren lässt. Es gibt so viel Wichtigeres.