Für Stefan Fässler war es wie eine späte Wiedergutmachung: Ein Job im Tierpark der psychiatrischen Klinik in Liestal. Jetzt droht die Schliessung des Parks.
Stefan Fässler lebte kaum noch, als ihn die Ärzte eine Stunde nach seiner Zwillingsschwester auf die Welt holten. Er musste wiederbelebt und mit Blaulicht ins Bruderholzspital verlegt werden. Nach der Geburt seiner Schwester hatte sich die Plazenta verschoben und ihm den Weg versperrt. Sein Leben hing an einem seidenen Faden. Dass er während seiner Geburt zu wenig Sauerstoff bekam, sollte sein Leben prägen.
Stefans Eltern haben das Kantonsspital Liestal nie verklagt. Obwohl seine Mutter die Worte jenes Arztes nie vergass, der bei der Geburt schliesslich handelte. «Seht ihr denn nicht, dass euch das Kind unter der Hand wegstirbt», habe er seine Kollegen angebrüllt. Die Eltern wendeten sich damals zwar an einen Anwalt. «Uns fehlte aber schlicht die Kraft, um uns zu wehren», erinnert sich Stefans Mutter.
Wie eine späte Wiedergutmachung
Hätte ein Gericht den Kunstfehler bestätigt, wäre dies das Spital teuer zu stehen gekommen. «Wenn ein Kind wegen eines Geburtsschadens später als Erwachsener nicht in der freien Wirtschaft arbeiten kann, entsteht ein Schaden in Millionenhöhe», sagt der Basler Rechsanwalt Markus Schmid. Er ist spezialisiert auf Haftungs- und Patientenrecht.
So war die Anstellung von Stefan Fässler im Jahr 2002 im Tierpark der psychiatrischen Klinik in Liestal wie eine symbolische Wiedergutmachung. Als einer von insgesamt vier Angestellten bezieht er neben seiner IV-Rente einen kleinen Lohn, der mit der Rente verrechnet wird. Betreut werden die vier vom Tierpark-Leiter und dessen Stellvertreter.
Nur noch 2 Franken pro Patient für den Tierpark
Doch jetzt droht die Schliessung des Tierparks. Nicht etwa, weil der Park für die Patienten der Klinik an Bedeutung verloren oder bei Familien mit Kindern an Beliebtheit eingebüsst hätte – einziger Grund ist die neue Spitalfinanzierung. Ab nächstem Jahr können die Kantone für Kliniken nicht mehr wie bisher ein Globalbudget bewilligen, sie bezahlen neu nur noch an die konkret vorgenommenen Behandlungen.
Das führt dazu, dass Kliniken Ausgaben, die nicht im direkten Zusammenhang mit einer Behandlung stehen, nur noch sehr begrenzt finanzieren können. Für die Klinik in Liestal sind das zwei Franken pro Patient und Tag. Deshalb klaffte im Budget 2012 des Tierparks von einer halben Million ein Loch von einer Viertelmillion Franken. Quasi in letzter Minute sprach der Regierungsrat 240 000 Franken aus dem Lotteriefonds, damit die Klinik das Loch stopfen konnte. Doch die Gnadenfrist ist kurz: Ende des nächsten Jahres droht dem Park die Schliessung, wenn sich keine Geldgeber finden lassen. Ein erster Anlauf bei der Stadt Liestal ist letzten Sommer gescheitert.
Geldgeber gesucht
Die Kantonalen Psychiatrischen Dienste stehen gemäss Peter Frei, verantwortlich für den Tierpark, im Gespräch mit möglichen Geldgebern. Einige würden Beiträge erst dann sprechen, wenn sich auch die Stadt und die umliegenden Gemeinden an den Kosten beteiligen.
Wie es für Stefan Fässler weitergeht, ist offen. «Die Arbeit im Tierpark ist für mich wie ein Sechser im Lotto», sagt er. Vorher versuchte er eine Lehre in einer Bäckerei, machte eine Anlehre bei einem Gärtner. Doch sobald er unter Zeitdruck arbeiten musste, war er rasch völlig erschöpft. «Ich musste einfach immer wieder Pausen machen. Ich bin kein Roboter», erinnert er sich.
Traktor fahren darf er nicht
Auch im Tierpark müssen rund 200 Tiere gefüttert, das Gras gemäht, die Ställe gemistet werden. «Aber hier kannst du auch einmal erst am nächsten Tag eine Arbeit fertig machen», sagt Stefan Fässler. Am liebsten arbeitet er mit dem Fadenmäher. Gerne würde er auch Traktor fahren, doch das darf er nicht.
Stefan Fässler begann erst sehr spät zu sprechen. Auch heute noch, mit 32 Jahren, kämpft er beim Reden immer wieder mit den Silben. Sich auszudrücken strengt ihn an. Schreiben ist noch schwieriger. SMS zeigt er seiner Mutter, bevor er sie abschickt.
Seit Kurzem wohnt er nur noch am Wochenende bei seinen Eltern. In einer betreuten Wohngruppe lernt er selbständig zu leben, zu kochen, zu putzen und zu waschen. Lange haderte er mit seinem Schicksal: «Ich dachte immer, wie es sein könnte, wenn ich ganz normal wäre», sagt er. Heute fühlt er sich akzeptiert. Doch die ungewisse Zukunft des Tierparks beschäftigt ihn: «Der Tierpark passt zu mir und ich zum Park. Wo sonst könnte ich eine solche Stelle finden?»
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 23/12/11