Tom Paine, ein Grosskünstler der Demokratie

Einige Menschen dürfen für sich beanspruchen, theoretisch und praktisch wesentliche Mosaiksteinchen im Gesamtkunstwerk der Demokratie geformt und gesetzt zu haben. Der aus England stammende Amerikaner Tom Paine (1737–1809) war so einer.

BL22619 'Wha Wants Me', cartoon showing Tom Paine and the Rights of Man by Isaac Cruikshank (1756-1811/16); British Library, London, UK; (add.info.: 1776 his pamphlet "Common Sense" argued for American Independence; 1791-2 published "The Rights of Man", most famous of the replies to Edmund Burke "Reflections"; returned to America in 1802;); © British Library Board. All Rights Reserved; PERMISSION REQUIRED FOR NON EDITORIAL USAGE; it is possible that some works by this artist may be protected by third party rights in some territories

Einige Menschen dürfen für sich beanspruchen, theoretisch und praktisch wesentliche Mosaiksteinchen im Gesamtkunstwerk der Demokratie geformt und gesetzt zu haben. Der aus England stammende Amerikaner Tom Paine (1737–1809) war so einer.

Als Tom Paine Ende November 1774 nach einer mühsamen achtwöchigen Überfahrt von London her in Philadelphia an Land ging, war er 37 Jahre alt. Er hatte in England so etwas wie eine gescheiterte Existenz zurückgelassen. 

Ob als Seilmacher, Journalist, Lehrer, Zoll- und Steuerbeamter, Tabakhändler oder Ehemann, nichts war ihm während der 24 Jahre nach seinem Schulabgang gelungen. Und wie manch anderen Auswanderern war auch ihm klar, dass die Monarchie im Allgemeinen und der korrupte englische Landadel im Besonderen massgeblich schuld waren an seinen existenziellen Schwierigkeiten. 

Angeregt zur Auswanderung hatte ihn in London Benjamin Franklin, einer der einflussreichsten Männer Neuenglands und einer der ersten Diplomaten, der auch als Verleger tätig war. Bei einer seiner Zeitungen, dem «Pennsylvania Magazine», wurde Paine als Redaktor engagiert.

Politisch braute sich in den 13 britischen Kolonien Nordamerikas im Winter 1774/1775 ein Sturm zusammen. Der neue König Georg III. reorganisierte sein Imperium; den Kolonien wurden ihre Verwaltungs- und Verteidigungskosten aufgebürdet, den Assemblies der Kolonialisten wurden Selbstverwaltungsbefugnisse entzogen, deren Freiheiten abgebaut und neue Zölle auf Einfuhren aus Drittstaaten erhoben. Fazit in den Augen von Paines grossem Biografen, dem in London lehrenden Australier John Keane: «Was man in London für vernünftig hielt, betrachtete man in Philadelphia als skandalös. Dort wurde die politische Saat der Revolution gesät.»

Prinzipien, denen sich keiner mit gesundem Menschenverstand verschliessen kann

Im Lauf des Jahres 1775 kam es zu ersten gewaltsamen Zusammenstössen zwischen britischen Soldaten und Milizionären der Kolonisten. Deren Loyalität zur britischen Krone begann zu erodieren. Im Herbst wurde Paine von einem befreundeten Arzt ermutigt, ein Pamphlet zu verfassen, welches den mehrheitlich verunsicherten, zögerlichen Amerikanern eine klare Perspektive eröffnen würde.

Paine liess sich nicht zweimal bitten. Innert weniger Wochen verfasste er eine Streitschrift, welche die Welt verändern sollte. Seine ursprüngliche Titelidee war «Schlichte Wahrheit»; doch auf Anraten seines Mentors, des Arztes, wählten er dann in Anlehnung an die moderne schottische Philosophie der Aufklärung den Begriff «Common sense» – Prinzipien, denen sich kein Mensch mit gesundem Menschenverstand verschliessen kann.

Zum Auftakt seines Pamphlets nahm Paine die Monarchie auseinander, die britische wie jede andere: «Monarchen sind stets Despoten und Monarchien immer despotisch.» «Die Monarchie basiert auf der Ignoranz, nicht der Weisheit, denn der Status eines Königs isoliert ihn von der Welt», wo doch das Regieren eine gründliche Kenntnis der Gesellschaft voraussetze. Paines revolutionäre Schlussfolgerung: «Ein aufrechter Mensch ist für die Gesellschaft und in den Augen Gottes wertvoller als all die gekrönten Schurken, die jemals gelebt haben.» Sprich: Wir können uns selber regieren, wir brauchen dazu keine Könige.

Amerika könne zur ersten Enklave der republikanischen Freiheit werden, schrieb Paine, weshalb es die Sache aller freiheitsliebenden Menschen der ganzen Welt in sich trage. 

Paine trennte als Erster konzeptionell den Staat beziehungsweise die Regierung von der Gesellschaft und forderte die Menschen auf, ihre Sache in die eigenen Hände zu nehmen, statt immer den Politikern nachzulaufen. «Die Macht der Obrigkeit muss eingeschränkt werden zugunsten der Gesellschaft, zu der sich die von Gott alle als gleichwertig geschaffenen Individuen zusammenfinden.» Und: «Die Gesellschaft ist ein Segen für jeden Staat!» Wobei Paine im Unterschied zu Rousseau durchaus davon ausging, dass die «Menschen nicht immer ihrem Gewissen und dem Gemeinschaftsgeist» folgen und eine von ihnen gewählte Regierung deshalb notwendig sei. Deren Funktion sei es, «die Freiheit der Bürger zu sichern».

Schliesslich: Jetzt sei die Gründerzeit für eine kontinentale Union gekommen, die Menschen auf dem ganzen Kontinent müssten sich zusammenfinden. Und diesen Aufruf verband Tom Paine mit der Idee, dass jeder Mensch das unveräusserliche Recht habe, selber zu entscheiden, wie er leben und von wem er regiert werden möchte. So könne Amerika zur ersten Enklave der republikanischen Freiheit werden, schrieb Paine, weshalb es die Sache aller freiheitsliebenden Menschen der ganzen Welt in sich trage. Sie alle würden es bewundern, wie die Amerikaner sich jetzt nicht nur den Tyrannen widersetzen, sondern der Tyrannei überhaupt ein Ende machen wollen. Paines Appell: «Bereiten wir rechtzeitig ein Asyl vor für alle, die nach Freiheit dürsten und vor Unterdrückung fliehen.»

Ein Buch bewirkt mehr als 100’000 Kanonen

Tom Paines 50-seitiger «Common sense» wurde gelesen wie kaum ein anderer politischer Text seit der Erfindung des Buchdrucks. In den ersten vier Monaten des Jahres 1776 wurden unter den nicht ganz drei Millionen Bewohnern der 13 Kolonien 150’000 Exemplare verkauft – heute entspräche dies  einer Auflage von 35 Millionen Stück.

Damit war ein Bann gebrochen. Die Amerikaner hatten verstanden. Biograf Keane: «Ein ganzes Land war in Aufruhr. Die grosse Mehrheit hatte sich entschieden.» Im Juli 1776 erklärte der zweite Kongress die Unabhängigkeit der USA von England. General Washingtons Milizionäre wussten nun, worum es ging. Washington sorgte dafür, dass aus Paines zweitem Büchlein, das Ende 1776 unter dem Titel «Die amerikanische Krise» erschien, den Soldaten zur Ermutigung immer wieder vorgelesen wurde. Er sagte später, Paines Schriften hätten für den Erfolg der Amerikaner im Unabhängigkeitskrieg mehr bedeutet als 100’000 Kanonen und Hunderte von Schiffen.

Tom Paine wurde erst Kriegskorrespondent, später wieder Redaktor und – als Universal-Gelehrter wie sein grosser Freund Franklin – Brückenbauer, spezialisiert auf kühne Eisenkonstruktionen. Als solcher war er auf Besuch in England, als ihn aus Paris die Kunde vom Sturm auf die Bastille erreichte. Dort wählten ihn die Revolutionäre, ihrerseits über «Common sense» bestens informiert, gleich zum Ehrenbürger und Abgeordneten.

Im Pariser Verfassungskomitee

Im revolutionären Paris verfasste Paine 1791 sein drittes grosses Werk «Die Rechte des Menschen», von dem eine Million Exemplare verkauft wurden. Kernaussage: «In einer Demokratie muss der Grund für alles öffentlich deutlich werden. Der Bürger ist ein Teilhaber der Regierung und erachtet es als eine seiner Aufgaben, deren öffentliche Angelegenheiten zu verstehen.»
Dies Bürgerrechts-Manifest verschaffte ihm die Wahl in die französische Nationalversammlung durch die Bürger des Departements Pas-de-Calais sowie, im September 1792, in deren neunköpfiges Verfassungskomitee. Dort erarbeitete er neben Condorcet, Sieyes und Danton bis zum Februar 1793 den ersten Verfassungsentwurf der Welt mit den Volksrechten Referendum und Initiative («Gironde-Entwurf»).

Als Gegner Robespierres überlebte Paine dessen Terrorregime nur mit viel Glück. 1794 publizierte Paine schliesslich mit dem «Zeitalter der Vernunft» seinen vierten grossen Text. In dessen Zentrum steht Paines besondere Beziehung zu Gott und der Religion. Ein portugiesischer Medizinstudent, der sich mit den schottischen Aufklärern auskannte, verteidigte Paines umstrittenste Schrift und schloss mit den Worten: «In katholischen Ländern sind alle, die zu denken wagen, Ketzer. Unter Protestanten hält man sie sofort für Atheisten.»


John Keane: Tom Paine, a political life, Bloomsbury Verlag, London, 1995, 644 Seiten; deutsch: Thomas Paine, ein Leben für die Menschenrechte Claassen Verlag, Hildesheim, 1998, 543 Seiten.

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