Die türkische Regierungspartei AKP verdankt ihre Wahlerfolge nicht zuletzt den Stimmen vieler kurdischer Wähler. Aber jetzt wenden sich immer mehr Kurden von ihr ab. Damit schwinden Tayyip Erdogans Chancen, ein Präsidialsystem einzuführen.
Ende 2002 gewann die ein Jahr zuvor gegründete islamisch-konservative Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) in der Türkei ihre erste Wahl. Dass die AKP seither ununterbrochen regiert, dass sie von Mal zu Mal höhere Stimmenanteile erzielte, und dass ihr charismatischer Chef Recep Tayyip Erdogan 2014 mit fast 52 Prozent zum Staatsoberhaupt gewählt wurde, ist nicht zuletzt den Stimmen vieler Kurden zu verdanken.
Aber jetzt beginnt die Regierung die Unterstützung der Kurden zu verlieren. Das könnte der AKP herbe Stimmenverluste bei der Parlamentswahl am Sonntag bescheren und Erdogans Pläne zur Einführung eines Präsidialsystems durchkreuzen.
Manche Kurden erinnern sich noch an den denkwürdigen Auftritt Erdogans 2005 in der Kurdenmetropole Diyarbakir. «Es gibt ein kurdisches Problem, und ich mache es zu meinem Problem», rief der damalige Premier der Menge zu – und erntete Jubel. Erdogan setzte damit nach zwei Jahrzehnten Bürgerkrieg, in dem fast 40’000 Menschen ihr Leben verloren hatten, einen Prozess der Aussöhnung in Gang.
«Erdogan hat den Friedensprozess missbraucht.»
Er brach Tabus, die bis dahin als unantastbar galten: In Erdogans Auftrag verhandelte der türkische Geheimdienst sogar mit Abdullah Öcalan, dem inhaftierten Führer der PKK und bis dahin «Staatsfeind Nr. 1». Erdogan lockerte die kurdischen Sprachverbote, gab der Minderheit mehr kulturelle Rechte. 2013 verkündete die PKK einen Waffenstillstand. Doch der Friedensprozess ist festgefahren. Heute erklärt Erdogan: «Es gibt kein Kurdenproblem.»
Viele Kurden fühlen sich betrogen. «Zuerst haben wir geglaubt, dass Erdogan aufrichtig an einer Lösung arbeiten will», sagt die prominente Kurdenpolitikerin Pervin Buldan. «Jetzt glauben wir das nicht mehr. Er hat den Friedensprozess missbraucht, um die Wählerstimmen der Kurden zu gewinnen.»
Auch Sezgin Tanrikulu, Anwalt, kurdischer Bürgerrechtler, Mitbegründer der Menschenrechtsvereinigung IHD und Vizepräsident der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP), sagt: «Erdogan meint es nicht ernst in der Kurdenfrage. Ich kenne ihn. Er will Stimmen gewinnen und instrumentalisiert deshalb den Friedensprozess, wie es ihm passt. Es ist eine Karte, die er ausspielt.»
Allen Versprechen zum Trotz: Nichts hat sich geändert
Trotz aller Versprechen der AKP-Regierungen hat sich an der tristen Wirklichkeit in der Kurdenregion wenig geändert. Immer noch gibt es hier viel zu wenige Schulen, Kindergärten, Altersheime und Krankenhäuser. Die Arbeitslosenquote liegt rund doppelt so hoch wie im Landesdurchschnitt. Die Kriege im Irak und Syrien haben dazu geführt, dass die südostanatolischen Kurdenprovinzen von ihren traditionellen Handelsverbindungen mit den Nachbarländern abgeschnitten sind.
Viele werfen der Regierung vor, dass sie im heroischen Abwehrkampf der syrischen Kurdenstadt Kobane gegen die Terrormiliz IS untätig zusah. Schlimmer noch: Viele türkische Kurden sind überzeugt, dass Ankara sogar den IS mit Waffenlieferungen unterstützte, um die Bildung einer kurdischen Autonomiezone in Nordsyrien zu verhindern und damit auch den Selbstbestimmungsbestrebungen der türkischen Kurden einen Riegel vorzuschieben.
Pro-kurdische Partei im Aufwind – Gefahr für Erdogan
Für die Regierung könnte das massive Stimmenverluste in der Kurdenregion bedeuten. Ende Mai trat in der kurdischen Stadt Varto der komplette, bis dahin von der AKP dominierte Stadtrat zurück und erklärte seinen Übertritt zur pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP).
Nicht nur in der Kurdenregion bekommt die HDP wachsenden Zulauf. Sie stellt sich bei dieser Wahl neu auf, definiert sich nicht mehr ethnisch sondern will ein Sammelbecken linker und liberaler Regierungskritiker sein. Damit wird sie wählbar auch für assimilierte Kurden im Westen des Landes und für Angehörige anderer ethnischer, religiöser und sozialer Minderheiten.
Im Aufwind: die HDP und ihr Vorsteher Selahattin Demirtas könnten zu den Wahlgewinnern gehören. (Bild: MURAD SEZER)
Schafft die HDP den Sprung über die Zehnprozenthürde und verhindert so eine Zweidrittelmehrheit der AKP, muss Erdogan seine Ambitionen zur Einführung einer Präsidialverfassung, die ihm noch mehr Macht geben soll, wohl abschreiben. Und vielleicht büsst die Regierung sogar ihre absolute Mehrheit im nächsten Parlament ein. Dann würden die Karten völlig neu gemischt.