Über dem Schnitt

In Schweizer Spitälern wird immer öfter operiert – und längst nicht jeder Eingriff ist medizinisch nötig.

Guter Schnitt: Operationen sind für Ärzte und Spitäler lukrativ. (Bild: Keystone)

In Schweizer Spitälern wird immer öfter operiert – und längst nicht jeder Eingriff ist medizinisch nötig.

Beschwerden habe sie keine ­gehabt, erzählt Marianne D. (Name d. Redaktion bekannt). Trotzdem wurde ihr die Gebärmutter entfernt, berichtet die Baslerin. «Der Arzt meinte: ‹Was nicht mehr da ist, kann auch nicht krank werden.›»

Wie Marianne D. geht es vielen Frauen. Manche Ärzte raten zu Gebärmutteroperationen – auch wenn diese nicht immer nötig sind. Ein Trend, der auch statistisch belegt ist: Allein zwischen 2008 und 2011 ist die Zahl der Eingriffe von 10 380 auf 11 436 gestiegen – das ist ein ungewöhnlich starkes Plus von mehr als zehn Prozent. Doch auch bei anderen Operationen zeigen die Zahlen kontinuierlich nach oben. Die Spitalverantwortlichen begründen das in erster Linie mit dem Bevölkerungswachstum.

Wie Unter­lagen des Bundesamts für Statistik belegen, haben einige Massnahmen aber deutlich überproportional zugenommen. So wuchs etwa auch die Zahl der implantierten künstlichen Hüftgelenke zwischen 2008 und 2011 von 16 575 auf 18 417. Das entspricht – wie bei den Gebärmutteroperationen – ebenfalls ­einem Anstieg von mehr als zehn Prozent. Wachstumstendenzen gibt es ­zudem bei Knie- und Schultergelenkpro­thesen sowie implantierbaren Defibrillatoren, die das Herz stimulieren. Die Liste liesse sich weiter fortsetzen. Oft handelt es sich dabei um teure Eingriffe, deren medizinischer Nutzen umstritten ist.

Demografische Erklärung hinkt

Mit dem demografischen Wandel ­allein lassen sich diese Ergebnisse nicht erklären. Beim Schweizer Spital­verband H+ beruft man sich auf den medizinischen Fortschritt. «Gerade Gelenkoperationen stellen eine immer geringere Belastung für den ­Pa­tienten dar», heisst es auf Nach­frage. Auch Christian Gerber, Leiter der ­Klinik Balgrist und Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für ­Orthopädie und Traumatologie, sagt: «Das Vertrauen der Menschen in die Technologie wächst.» Bei der Ärztevereinigung FMH geht man noch weiter: «Die Menschen informieren sich heute über Möglichkeiten im Internet und wollen das auch haben.»

Gruppenzwang also, ein Run auf Gelenkprothesen? «Daran, dass auch hierzulande unnötige Leistungen erbracht werden, besteht kaum Zweifel», sagt eine Sprecherin des Krankenkassenverbands Santésuisse.

Falsche Anreize

Krank ist womöglich das System. «Der ökonomische Druck wächst. Finanzielle Anreize werden oft an den falschen Stellen gesetzt», sagt FMH-Vizepräsident Pierre-François Cuénoud. Wie der Spitalverband bestätigt, gibt es auch in der Schweiz Bonusprogramme, die leitenden Ärzten mehr Geld versprechen, wenn häufiger operiert wird. Das ist nicht überall so, aber vereinzelt.

Philippe Perrenoud (SP), Gesundheits- und Fürsorgedirektor des Kantons Bern, beobachtet das Prinzip schon länger kritisch. «Wo Anreize gesetzt werden, zeigen sie auch Wirkung», sagt er. «Eine starke Ökonomisierung der Spitalversorgung birgt das Risiko, dass Behandlungsentscheide nicht aus rein medizinischen Gründen getroffen werden.»

«Es gibt Eingriffe, die man als missbräuchlich bezeichnen kann.»

Besorgt erwarten Gegner deshalb die Behandlungszahlen für 2012. Seit der Einführung der Fallpauschale vor einem Jahr, so die Befürchtung, könnten die OP-Zahlen nochmals ­rapide geklettert sein. Vorher wurden Kliniken pro Tag bezahlt, den sich ein Patient in ihrer Obhut befand. Heute gibt es lediglich Geld für den Eingriff an sich. Die Spitäler haben deshalb ein Interesse an einem hohen Patientendurchlauf.

«Die soziale Tätigkeit ist weiter in Richtung eines Marktgeschehens bewegt worden. Das war eine politische Entscheidung», sagt Chefarzt Chri­s-tian Gerber. Er weist darauf hin, dass künstliche Gelenke auch aufgrund ihrer immer längeren Haltbarkeit früher eingesetzt werden als noch vor ein paar Jahren, räumt aber ein: «Ich bin sicher, es gibt Eingriffe, die man als missbräuchlich bezeichnen kann.»

Um einen übermässigen Anstieg zu verhindern, schlägt Gesundheitsdirektor Perrenoud eine Limitierung vor: Erreicht ein Spital eine vorher festgelegte Zahl an Eingriffen, soll es weniger Abgeltungen erhalten.

Es wird zweimal kassiert

Wie die Fallpauschale die Statistiken noch in die Höhe treibt, zeigt der Fall einer weiteren Baslerin. Die 65-Jährige leidet unter Knie-Beschwerden. Ihr Arzt riet zur Operation. «Am besten beide Knie auf einmal, dann sind Sie damit durch», habe er gesagt. Im Merian-Iselin-Spital aber erklärte man ihr, die Knie müssten separat operiert werden. Als die Patientin nachforschte, erfuhr sie: Wenn das Spital die Eingriffe einzeln vornimmt, kann es zweimal kassieren.

Für die Patientin bedeutet dieses Spiel zweimal Narkose, zweimal Schmerzen, zweimal Reha. «Ich beschwerte mich bis zum Geschäfts­führer», sagt sie. Die Klinik blieb stur. Die Patientin sagte die OP darum vorläufig ab. Im Merian-Iselin-Spital wollte man sich zu dem Fall bis zum Redaktionsschluss nicht äussern.

Studien zufolge werden Eingriffe einer bestimmten Art dort am häufigsten vorgenommen, wo es die höchste Dichte an Spezialisten gibt. Folglich dürfte die Aufhebung des ­Zulassungsstopps auf Anfang 2012 zu einem weiteren Anstieg der Opera­tionen führen. Mehr Gynäkologen, mehr Gebärmutterentfernungen – eine einfache Formel. Ein weiterer interessanter Aspekt: Bei Frauen, die mit einem Gynäkologen verheiratet sind, fand die OP deutlich seltener statt. Noch seltener lediglich bei Frauen, die selber Gynäkologin sind.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 25.01.13

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