Überleben in St. Gallen

«Ihr mäkelt am rot-grünen Basel herum? Was soll ich dann sagen, als Linker in der konservativsten Stadt der Schweiz?»: Der Slampoet, Journalist und SP-Kantonsrat Etrit Hasler über sein Leben in St. Gallen.

Die Gallus-Stadt:Die beiden Hügel werden von Besserbetuchten besetzt – im Tal wohnt die Restbevölkerung. (Bild: Max Schmid)

«Ihr mäkelt am rot-grünen Basel herum? Was soll ich dann sagen, als Linker in der konservativsten Stadt der Schweiz?»: Der Slampoet, Journalist und SP-Kantonsrat Etrit Hasler über sein Leben in St. Gallen.

Etrit Hasler ist Slampoet, Journalist und SP-Kantonsrat in St. Gallen.

Etrit Hasler ist Slampoet, Journalist und SP-Kantonsrat in St. Gallen.

Wenn ich morgens früh von einer durchdringenden Mischung aus Baulärm und Kindergeschrei, aus Sirenengeheul und sich zankenden Eltern, aus Helikopterlärm und Kirchenglocken unsanft aus dem Schlaf geweckt werde, dann weiss ich: Ich bin zu Hause. Der erste Blick aus dem Fenster meiner überteuerten Zweizimmerwohnung – das weiss ich na­türlich schon, bevor ich mich unter meinen fieber­durchschwitzten Laken hervorzerre – bringt mir nur die Aussicht auf eine Stadt, die entweder grau vor lauter Regen und Beton ist oder sonst nicht einmal das vor lauter grauem Nebel, der sich meterdick im Tal der Stadt ansammelt.

Im Tal – da wohne ich. Falls Sie noch nie in St. Gallen waren: Die Stadt wurde zwischen zwei Hügeln erbaut, was auf Reliefkarten immer irgendwie den Eindruck einer ausufernden Falte hervorruft. In historischen Zeiten wohnten auf dem einen Hügel (dem bekannten Rosenberg mit seinen Privatschulen und Wirtschaftsinstituten) die reichen Bewohner der Stadt – also jene Familien, die mit Sklavenarbeit und/oder Stickerei ein Vermögen scheffelten –, während der andere Hügel (mit dem bedeutungsschweren Namen Freudenberg) den ärmeren Bewohnerinnen und Bewohnern vorbehalten war. Im Tal, so munkelt man heute, wohnte damals niemand ausser dem Nebel und den Zürchern, die manchmal zu Gast kamen, um entweder etwas von unserem Stickereireichtum zu erbetteln oder uns einen Globus zu stehlen.

Der stalinistische Legobaukasten

Die Zeiten sind leider längst vorbei. Inzwischen sind beide Hügel mit Besserbetuchten aufgefüllt, während die A-Menschen, wie das im Sozialjargon heisst (also Arme, Alte, Atzen, Albaner, atc. – haha!) im Tal zusammengepfercht in Blockbauten leben müssen, die alle aussehen, als ob sie aus einem stalinistischen Legobaukasten stammen – so zum Beispiel auch der neue Bau des Bundesverwaltungsgerichts, das wohl nur deswegen so gebaut wurde, damit niemand dem Architekten vorwerfen könnte, er wolle sich nicht integrieren. Sie mögen jetzt opponieren, die Stalinisten hätten niemals Legokästen gehabt – persönlich bin ich mir da nie so sicher. Gerade in der Zeit des Kalten Krieges galt dem Schweizer Nachrichtendienst lange die Devise «die Sowjetunion beginnt vor Winterthur». Wahrscheinlich zu Recht.

Da leben wir nun also, 80 000 Menschen in diesem engen Mauerdecolleté. Wenn wir arbeiten wollen, müssen wir dafür nach Zürich oder ins Rheintal fahren, das Geld, das wir dort verdienen, wird uns zu hundert Prozent wieder als Steuern abgenommen, die dann direkt als Subventionen in die Toggenburger Landwirtschaft fliessen, um dem dortigen Landwirt Toni Brunner die Existenz zu sichern.

Unser Kulturangebot besteht darin, dass wir uns einmal die Woche in einer ehemaligen Turnhalle treffen und Pingpong spielen, während wir Unmengen der ungeniessbaren lokalen Lebensmittel (Bier, Biberli und Bratwurst) konsumieren. Und wenn der einzige Pingpong-Ball kaputt geht, waschen wir uns zur Abwechslung einen Monat mit Sand, während wir einen unserer Kulturschaffenden (leidenserfüllte Poeten, die vom Elend bei uns singen, wie Manuel Stahlberger, oder seinen frühen Vorgänger Niklaus Meienberg) anpumpen, der das Geld verdienen soll, um einen neuen Ball kaufen zu können.

Es braucht einen Schnauz

Und wer von uns tatsächlich den jugendlichen Übermut beweist, in die Politik zu gehen, um etwas an diesen unmenschlichen Zuständen zu ändern, der merkt schnell, dass links der SVP nur gewählt wird, wer sich einen Schnauz wachsen lässt und damit die Autoritätsgläubigkeit der Menschen ausnutzt, weil er dauernd für einen Polizisten gehalten wird.

Und ja, diesem Grundzug der hiesigen Bevölkerung ist es auch zu verdanken, dass repressive Gesetze wie der Wegweisungsartikel oder die Videoüberwachung im öffentlichen Raum ihren Siegeszug durch die Schweiz von hier aus angetreten haben. Und Frauen in der Politik? Machen Sie Witze? Natürlich haben wir das Frauenstimmrecht schon vor den Appenzellern eingeführt. Was ja nicht gleich heisst, dass die das auch ausüben sollen. Ausser sie seien bei der FDP und sind härter als jeder Mann, natürlich.

Wer schuld ist an der ganzen Misere, das wissen wir in St. Gallen ganz genau: Napoleon. Dieser miese kleine korsische Invasor, der unseren stolzen Gottesstaat unter Herrschaft des Klosters St. Gallen entmachtete, die damals unabhängige, protestantische Stadt St. Gallen mit dem Umland in eine Zwangs­gemeinschaft presste und das Ganze dann noch – ausgerechnet – dem helvetischen Staat hinzufügte. Dabei weiss doch jeder, dass wir eigentlich nur Österreicher sind, die zu weit gewandert sind. Was man nur schon unserer Sprache anhört – oder was glauben Sie, weswegen es im nationalen Fernsehen nur gerade zum Thema Fussball erlaubt ist, dass jemand die Schweizer Restbevölkerung mit unserem Regiolekt quälen darf.

Im Gegenzug dafür verlieren wir in dieser einzigen Sportart, die neben Pingpong hier noch betrieben wird, mit grösster Regelmässigkeit gegen alle Provinzmannschaften und machen uns zum Gespött der Nation. Ausser natürlich einmal alle zehn Jahre, wenn wir den FC Basel schlagen – aber glauben Sie mir, das ist immer eine abgekartete Sache, die so vom Bundesrat angeordnet wird, wenn ein weiteres Mal die sozialistische oder bäuerliche Revolution auszubrechen droht.

Falls Sie sich wundern: Ja, diese Revolution scheint derzeit gerade wieder einmal zu drohen. Nach der überwältigenden Wahl des bekanntesten Ostschweizer Schnauzträgers, Paul Rechsteiner, in den Ständerat (ausgerechnet gegen den ebenso bekannten Subven­tionsempfänger Toni Brunner) muckt in der Stadt St. Gallen das Volk auf. Die versammelte rot-grüne Bewegung hat Siegesluft geschnuppert und strebt bei den bevorstehenden Stadtratswahlen – man wagt kaum, es auszusprechen – einen zweiten Sitz in der Stadtregierung an, womit sie den absoluten Macht­anspruch von FDP und CVP infrage stellt, die bisher mit zusammengerechneten 39 Wahlprozenten 80 Prozent der Regierungsgewalt unter sich verwalten.

Die Basler Hoffnung

Und dabei blicken wir natürlich hoffnungsvoll nach Basel – jenem Paradies in der von uns am weitesten entfernten Ecke der Schweiz (die für unser Verständnis nur die deutschsprachigen Kantone beinhaltet, weil Französisch ist etwas für «frömde Fötzel»). Jene rot-grüne Utopie, die regelmässig in allem so stimmt, wie wir das auch gerne hätten: für den EWR, gegen die Armee. Wo es keinen Geldabfluss gibt von der Stadt zu den umliegenden parasitären Gebieten, weil man dort schon lange gemerkt hat, dass eine richtige Stadt eben gleichzeitig auch ein eigener Kanton sein sollte. Wo die Reichen und die Grossfirmen gerne Steuern zahlen und wo man sogar alle zwei Jahre einen Fussballschweizermeistertitel feiern darf. Davon träumen wir dann, nachdem wir uns morgens um zwei nach dem Pingpong an den Händen halten und ein feierliches «Hopp Sangallä» rufen. Ausser natürlich davon, dass wir Schweizermeister werden. So realistisch sind wir noch.

Quellen

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 31.08.12

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