Je mehr gute Gründe gegen die Durchsetzungsinitiative vorgebracht werden, desto eher könnte sie angenommen werden. Dieser absurde Effekt gehört zu den Eigenheiten unserer schönen direkten Demokratie.
Der Chor der Gegner der Durchsetzungsinitiative schwillt immer weiter an. Mittlerweile haben 273 aktuelle und ehemalige Parlamentarier ihre Stimme erhoben, 161 Rechtsprofessoren und zuletzt auch elf alt Bundesräte. Eingestimmt haben natürlich auch die Hilfswerke, die Konferenz der Staatsanwälte und der Städteverband. Ausnahmsweise lassen sich auch kantonale Regierungen vernehmen, obwohl es sich um ein Bundesgeschäft handelt.
Dazu kommen viele Gruppierungen, etwa der Club Helvétique (dem ich selbst angehöre), sowie eine ausserordentliche zivilgesellschaftliche Aktion mit über 41’237 Unterschriften und 688’933 Franken Spendengeldern dazu (Stand Dienstag, 2. Feb., 8.15). Schliesslich sind da auch noch die Stimmen der Richter, die freilich in eigener Sache sprechen, wenn sie dafür sind, dass die Gerichte weiterhin sorgfältig prüfen können.
Nachweisbar gibt es im «Stimmvolk» so etwas wie einen Trotzeffekt, der freigesetzt wird, weil man sich «bedrängt» fühlt. Das war so bei der EWR-Abstimmung (1992) wie auch bei der Anti-Minarett-Initiative (2009) und der Anti-Abzocker-Initiative (2013). Die Initianten, obwohl selbst kleine Giganten, können sich als einsame Kämpfer gegen eine Übermacht präsentieren, sozusagen als David gegen Goliath.
Der «Souverän» demonstriert gern seine «Souveränität» – unberührt und unabhängig von guten Argumenten.
Gerade weil der Bundesrat, die Parlamentsmehrheit, die Medien, die Kirchen, die Grossparteien, die Verbände, natürlich die «classe politique» und alle «da oben» eine Vorlage ablehnen, ist man dafür. Der «Souverän» demonstriert so seine «Souveränität» – unberührt und unabhängig von guten Argumenten.
Wie ordnet sich dieses «Trötzele» in das Spektrum der verschiedenen Verhaltensmöglichkeiten bei Abstimmungen ein? Es besteht ein bemerkenswert grosses Spektrum von Varianten – in freier Reihenfolge nämlich:
- An keiner Abstimmung teilnehmen. Dies mit dem Argument, dass alles kompliziert sei, man nicht richtig informiert werde, Politik ein «schmutziges» Geschäft sei und die anderen ohnehin machen würden, was sie wollen.
- An allen Abstimmungen teilnehmen, aus Bürgerpflicht und guter Gewohnheit und in der Idee, dass jede Stimme zählt, was allerdings fragwürdiger wird, je grösser die Zahl der Stimmberechtigten ist. Allerdings: Im Juni letzten Jahres wurde über die Radiogebühren mit einem 50,08 Prozent-Resultat entschieden.
- Nur dann abstimmen, wenns interessiert beziehungsweise direkt betrifft, wenn man etwa von der Abschaffung der sogenannten «Heiratsstrafe» einen persönlichen Vorteil hat und den Nachteil (Ausfall von Steuersubstrat) der Allgemeinheit anhängen kann. Dieses interessen- und nützlichkeitsorientierte, rationale Verhalten im Gegensatz zu dem oben aufgeführten traditionellen Verhalten ist schon 1983 von Erich Gruner, dem Altmeister der schweizerischen Politologie, als neues Phänomen konstatiert worden.
- Einfach immer Nein stimmen. Es gibt diese Karikatur von einem Basis- und Wutbürger, der allerdings daneben zielt, wenn man – was vorkommen kann – Ja stimmen muss, wenn man Nein meint.
- Vom Wetter abhängig machen oder, was moderner wäre, vom Ausgang von Fussballspielen. Das heisst von der Stimmung. Dass diese eine gewisse Rolle spielt, lässt sich mindestens als plausible Vermutung belegen (vgl. unten).
- Sich von Parteiparolen leiten lassen. Von Parteien wird erwartet, dass sie ihre eigenen Mitglieder und Anhänger gemäss der beschlossenen Parolen in Bewegung setzen können. Parteigebundenes Verhalten scheint aber stark zurückzugehen.
- Auf einzelne Persönlichkeiten abstellen, welche fallweise oder durchgehend die Funktion von «opinion leaders» haben. Man ist bei einzelnen Vorlagen überfordert und/oder unsicher und orientiert sich darum an Fachexperten oder an moralischen Instanzen.
- Abstimmen, wie das örtliche Umfeld es tut. In der Abstimmungsgeografie gibt es Orte und in der Stadt Quartiere (solange es Abstimmungslokale wie «Bläsi» oder «Sevögeli» gab), die ein auffallend eindeutiges Kollektivverhalten aufweisen. Das wirft die Frage auf, ob die Bewohner den Ort gleichsam machen oder der Ort eine an ihn sich anpassende Bewohnerschaft macht.
- Sein Abstimmen von den Umfrageergebnissen zu bevorstehenden Abstimmungen abhängig machen. Entweder will man zu den Siegern gehören oder man hält den Sieg für aussichtslos. Was tun, wenn wir zum Zeitpunkt X serviert bekommen, dass 64 Prozent die zweite Gotthardröhre gutheissen würden?
- Abstimmen, um einfach ein Zeichen zu setzen, das heisst, das Angenommene oder Abgelehnte nicht wirklich meinen, sondern mit einem möglichst starken Protestvotum zu verstehen geben, dass im Lande nicht Freude «herrscht», sondern Unzufriedenheit.
Die meisten Punkte könnte man ausführlich kommentieren. Hier wollen wir uns aber auf drei Punkte beschränken.
Zu Punkt 5: Im September 1922 wurde über den Staatsschutz abgestimmt, eine Vorlage, die vor allem von der Linken bekämpft wurde. Es gab aber Zeichen, dass auch die Bauern dagegen stimmen könnten. Der St. Galler CVP-Nationalrat Carl Zurburg schrieb aus dem Rheintal dem für das Dossier verantwortlichen Bundesrat Heinrich Häberlin nach Bern: «Witterung und schlechter Herbst tun das ihrige. Dann sagt man eben gerne nein.»
Und zum knappen EWR-Nein von 50,3 Prozent vom 6. Dezember 1992 kann man die These wagen, dass es zu einer Volksmehrheit gereicht hätte, wenn sich die Schweiz für die 9. Fussball-Europameisterschaft in Schweden qualifiziert und dort sogar gut abgeschnitten hätte – was indirekt zum Ausdruck gebracht hätte, dass die kleine Schweiz draussen in der grossen Welt durchaus bestehen kann.
Die Spitze und die Basis
Zu Punkt 6: In den Umfragen auch zur Abstimmung über die bevorstehende Durchsetzungsinitiative zeigte sich, dass die FDP-Basis im Moment der Befragung in 46 Prozent Befürworter und 42 Prozent Gegner teilt, während doch die FDP-Delegierten mit 263 zu 8 Stimmen eindeutig die Nein-Parole ausgegeben haben.
Das lässt zwei Schlussfolgerungen zu: Die Spitze sollte nicht an ihrer Basis vorbeipolitisieren oder sie sollte ihre eigene Gefolgschaft besser einbinden. Als einst zu wenig Arbeiterstimmen für das Frauenstimmrecht oder gegen die Überfremdungsinitiativen anfielen, wurde den Sozialdemokraten vorgeworfen, sie hätten ihre Hausaufgaben schlecht gemacht.
Zu Punkt 8: Drinnen in der kleinen Schweiz gibt es das noch kleinere Schwyz, den Nein-Champion unter den Kantonen mit den über die Jahrzehnte meisten negativen Abstimmungsresultaten. Dies hat selbst in Schwyz derart irritiert, dass man eine Politologengruppe um Adrian Vatter beauftragt hat, die Gründe dafür zu untersuchen. Auslösend dürfte gewesen sein, dass das Bundesamt für Statistik nach der Abstimmung über die bilateralen Abkommen im Mai 2000 aufgezeigt hat, dass der Kanton Schwyz in den eidgenössischen Volksabstimmungen seit 1871 – vor dem Kanton Wallis – am häufigsten Nein gesagt hat.
Noch heute herrscht im Abstimmungsraum im Bahnhof ein beinahe staatsbürgerliches Gedränge mit fast feierlicher Stimmung.
Eine weniger inhaltliche als formale Variante besteht in der Modalität und im Zeitpunkt der Stimmabgabe: entweder mit dem Gang zur Urne am gegebenen Wochenende oder lange zuvor auf dem Korrespondenzweg. Die Erweiterung der Abstimmungsphase macht es schwieriger, den idealen Zeitpunkt für Kampagnen zu finden. Jetzt haben wir erst den 5. Februar, wahrscheinlich haben viele bereits für den 28. Februar abgestimmt.
Im vergangenen Jahr habe ich einmal vor einem der wenigen noch verbliebenen Abstimmungslokale Unterschriften für eine Initiative (die Rasa) gesammelt und war beeindruckt, wie viele Bürgerinnen und Bürger selbst in Begleitung von nicht Stimmberechtigten den Weg in den unansehnlichen Abstimmungsraum im 1. Stock des Bahnhofs auf sich genommen und ein beinahe staatsbürgerliches Gedränge mit fast feierlicher Stimmung produziert haben. Darauf angesprochen, sagte jemand, er habe nicht die Frist für das Korrespondenzverfahren verpasst, sondern mache bewusst diesen Gang, aber am Samstag und nicht am Sonntag, der davon unbelastet bleiben solle.
Es gäbe theoretisch und versuchsweise in der welschen Schweiz auch eine dritte Art der Stimmabgabe: das elektronische Votum per Mausklick. Diese Variante wird kommen, sobald alle Sicherheitsbedenken überwunden sind. Es stellt sich aber die Frage, ob dann nicht, noch mehr als bereits beim Korrespondenzvotum, zu impulsiv und ohne das nötige Nachdenken abgestimmt wird. Was dann wiederum Trotzreaktionen des «Souveräns» begünstigen würde.