Warum sind wir stolz? Und worauf? Georg Kreis über ein zwiespältiges Gefühl, das am Nationalfeiertag gern beschworen wird.
Im Vorfeld des Nationalfeiertags stellen wir uns vielleicht die Frage, worauf wir als Schweizerinnen und Schweizer stolz sein können. Entgegen einer gängigen Meinung, schwelgen 1.-August-Reden jedoch nicht in Nationalstolz, sondern ergehen sich eher in Mahnungen, haben zuweilen gar den Charakter von zivilreligiösen Busspredigten, bringen aber auch etwas Dankbarkeit zum Ausdruck.
Wir müssen unterscheiden zwischen dem Stolz auf Eigenleistungen – dem Stolz des Bauern auf «seine» Ernte, des Zimmermanns auf «sein» Dach, des Fussballers auf «sein» Goal – und dort dem Stolz, den man über Identifikation mit anderen entwickelt, die eine Leistung erbracht haben, die man auch ein bisschen für sich in Anspruch nimmt. Darum können wir eben auch stolz sein auf «unser» Fussballteam, «unsere» Solar-Impulse-2-Weltumsegelung oder auf die Ausland-Erfolge «unserer» Basler Architekten Herzog & de Meuron.
Sicher gibt es eine persönliche Disposition zu Stolz. Diese kann Stärke wie Schwäche sein. Stärke als sympathische Anteilnahme an erfreulichen Vorgängen oder Schwäche als hohle Inanspruchnahme fremder Verdienste, die vor allem dem Bedürfnis dient, sich über andere erheben zu können.
Auch Linke lieben das Vaterland
Stolz hat auch eine kollektive Dimension, er wird von politischen Gruppierungen mehr oder weniger und mit unterschiedlichen Grundhaltungen gepflegt, ja bewirtschaftet. Besonders auffällig kultivieren Rechtsradikale ihren simplen Nationalstolz, dessen Hauptfunktion darin besteht, virulente Fremdenfeindlichkeit zu legitimieren.
Gleich daneben treten die sogenannten Schweizer Demokraten auf, welche die Nationalhymne als intonierten Nationalstolz zum Pflichtprogramm der Volksschulen machen wollen. Als Verteidigerin der traditionellsten Formen des Nationalstolzes profiliert sich im Weiteren ein paar Zentimeter daneben die SVP-Nationalrätin Yvette Estermann.
Der Nationalstolz scheint von Rechtsaussenpositionen ausgehend bis zu den linken Positionen stets schwächer zu werden. Für die Linke war eine positive Berufung auf das Nationale bis vor ein paar Jahren beinahe undenkbar. Dann trat – unvergesslich – Anita Fetz am 18. September 2001 in der UNO-Beitrittsdebatte mit dem Schweizerkreuz-T-Shirt auf, und 2003 führte die SP ihren Wahlkampf unter anderem mit Bekenntnissen zur Heimat und dem Bekunden linker Vaterlandsliebe.
Tabubruch von links: Anita Fetz 2003 während der Debatte zum UNO-Beitritt. (Bild: Keystone)
In den letzten Jahren ist aufgrund entfremdender Modernisierung und infolge fortschreitender Globalisierung das Nationale verstärkt zu einem starken Bezugspunkt der öffentlichen Bekenntnisse geworden. Man kann sich dem schwerlich entziehen, und man muss sich auch nicht entziehen. Fragt sich einfach, wofür das Nationale eingesetzt wird: ob zur Propagierung und Rechtfertigung von Nationalegoismen oder zur Mobilisierung eines kollektiven Reformwillens.
Nicht unwichtig ist, wie wir zu unserem Stolz kommen. Zu unterscheiden ist, ob der vaterländische Hang zu Stolz die primäre Realität ist und dieser dann sekundär nach geeignet erscheinenden Objekten instrumentalisierend Ausschau hält (Variante Estermann). Oder ob es primär um notwendig erscheinende Projektrealisationen geht, auf deren Gelingen man dann sekundär stolz sein kann (Variante Fetz). Unser Stolz sagt viel über unsere Werteordnung aus. Ich bin stolz auf die mit unserer «Glückskette» stets von Neuem aufgebrachte Spendierfreudigkeit, ich bin nicht stolz auf eine Partei, die zum systematischen Widerstand gegen Asylheime aufruft.
Rechtsnationale zelebrieren ihren Nationalstolz unter Berufung auf die alteidgenössische Mythengeschichte. Mit Bezug beispielsweise auf «Morgarten», das eine weitgehend erfundene Sache ist, ruft SVP-Bundesrat Ueli Maurer der Schweiz zu, sie solle gemäss dem mythischen Vorbild weiterhin Mut zur Eigenständigkeit und zum Anderssein haben.
Das Gegenstück: Scham
Gäbe die Schweizer Geschichte nicht auch reale Momente her, auf die man sich mit Nationalstolz beziehen könnte? Solche gibt es durchaus. Unser Stolz kann dem Faktum gelten, dass es in der Schweiz 1848 gelang, einen liberalen Bundesstaat zu schaffen, während analoge Versuche im Ausland scheiterten. Die Glarner können darauf stolz sein, dass sie 1866 als erster Kanton ein Fabrikgesetz erliessen, während der Rest der Schweiz noch nicht so aufgeschlossen war. Auch bei der Einführung der obligatorischen AHV nahm Glarus (1916) den ersten Platz ein, Basel-Stadt kam 1932 nach Appenzell Ausserrhoden erst an dritter Stelle.
Das Gegenstück zum Stolz ist die Scham, die man über Schweizerisches empfinden muss. Da kann einem ebenfalls allerhand in den Sinn kommen. Beschränken wir uns hier auf das lange verweigerte Frauenstimmrecht. Basel-Stadt kann da allerdings seinen kleinen Stolz ausleben, 1966 als erster Deutschschweizer Kanton diese Ungerechtigkeit aufgehoben zu haben. Im kommenden Jahr soll das gebührend in Erinnerung gerufen werden.
Im Weiteren dürfen uns als historische Errungenschaften und substanzielle Gegenwart stolz machen: unsere ETH, speziell die Leistungen der Ingenieure, speziell die von ihnen realisierten Brücken und Tunnels, unsere Neat (obwohl oder gerade weil – wie schon beim alten Gotthardtunnel – unter kräftiger Mitwirkung nicht-schweizerischer Kräfte verwirklicht); sodann die exzellente Arbeit des Bundesamts für Statistik, das uns mit präzisen Abbildungen der gesellschaftlichen Realitäten unseres Landes versieht, oder die hohe Qualität unserer Landestopografie, die humanitären Leistungen des IKRK, die sozialen Werke der Gemeinnützigkeit. In einer solchen Aufzählung darf die direkte Demokratie nicht fehlen, obwohl ihr Gebrauch in letzter Zeit Scham und nicht Stolz hervorruft. Es müssen im Übrigen nicht nur «grosse Dinge» sein. Stolz darf auch aufkommen, wenn man sieht, was auf Gemeindeebene für Kinderspielplätze aufgewendet wird.
Alles aufgezählt? Gewiss nicht. Ich bin kein grosser Kenner der Sportszene, aber auf die bernische Schweizerin Mujinga Kambundji bin ich stolz. Und die Patrouille Suisse? Dann lieber die Akrobatik der Synchronschwimmerinnen mit ihren einfachen Nasenklemmen.
Dürfen wir stolz sein auf das soeben wieder gefeierte Matterhorn? Die schöne Landschaft, so weit es sie noch gibt, dürfte als Objekt unseres Stolzes weniger infrage kommen. Es sei denn in der indirekten Form, dass wir stolz auf Bemühungen sind, Verschandelungen zu verhindern. Also nicht auf das Matterhorn selber, sondern auf den einmal nötig gewordenen und erfolgreichen Widerstand von 1907 gegen eine geplante Bahn aufs Matterhorn.
Als Kind war ich, vielleicht geleitet vom Pestalozzi-Kalender oder dem Helveticus, stolz auf unsere SBB und zwar in dem Sinn, dass ich meinte, dass «wir» (wie im Fall der alten Swissair) die Besten der Welt seien. Inzwischen musste ich feststellen, dass andere überhaupt nicht schlechter sind.
Mein Stolz auf den öffentlichen Verkehr ist inzwischen einfach ein anderer geworden. Er kommt schon auf, wenn die Fahrpläne so funktionieren, dass ich an einem Ort aus dem Zug aussteigen kann und da ein Bus auf mich wartet – denn das ist nicht selbstverständlich. Wir müssen auch nicht, wie vollmundig erklärt wurde, «die beste Armee der Welt» haben, es genügt eine durchschnittlich gute.
Vorausschauender Stolz
Reflexe der nationalen Identifikation kommen vor allem im Verhältnis zum Ausland auf. Wenn Statistiken belegen, dass «wir» besonders gut sind. Dass «wir», gemessen an der kleinen Bevölkerungszahl, besonders viele Patente anmelden und Nobelpreise zugesprochen erhalten. Daran reiht sich die Frage nach den schweizerischen Erfindungen. Dazu gehört zwar nicht die Schokolade, hingegen – welch ein Geschenk an die Menschheit! – das Schoggi-Stängeli von Cailler.
Zurzeit ist übrigens in Zürich eine Ausstellung zu sehen, mit der dokumentiert wird, dass eine ungewöhnlich hohe Zahl (63) von Nobelpreisträgern zeitweise (mindestens ein paar Wochen) in dieser Stadt gelebt haben. Was ist das? Selbstbespiegelung von Seldwyla oder Signal gegen Abschottung des Forschungsplatzes Schweiz? Die Ausstellung bietet zu beidem Hand, wohin sie führt, hängt von uns ab, was wir daraus machen.
Wichtig ist die Unterscheidung, ob sich unser Stolz bloss auf alte Leistungen oder auch auf neue Projekte bezieht, ob nur auf Errungenschaften oder auch auf Ambitionen. Die Vergangenheit war auch einmal nur Zukunft. Es gibt einen Stolz auf das, worauf man hinarbeitet und was man herbeiführen will. Das heisst, dass man sich noch nicht am Ziel fühlt und die Hoffnung auf Verwirklichungen in sich und mit sich trägt. Dazu gehört auch die Entwicklung eines besseren Verhältnisses zur EU.