Es wäre richtig, wenn die Briten nach den Verhandlungen mit der EU noch einmal über den Brexit abstimmen. So wie auch wir mit der Rasa-Initiative die Möglichkeit haben, die Umsetzung der MEI zu beurteilen. Bloss haben wir den Vorteil, nicht der Willkür der Regierung ausgeliefert zu sein.
«Die Briten wissen nicht, was sie wollen.» Diese so dumme wie unzutreffende Schlagzeile servierte uns die beste Qualitätszeitung der Schweiz gross auf der Titelseite (NZZ, 10.6.17). In derselben Ausgabe kündigte das Schwesterblatt allerdings einen Beitrag an mit dem Titel: «Was die Briten wollen» («NZZ am Sonntag», 11.6.17). Ebenfalls daneben. Denn «die» Briten gibt es so wenig, wie es «die» Schweiz gibt, was 1992 zum Ärger vieler Schweizer und Schweizerinnen an einer Weltausstellung mit «La Suisse n’existe pas» zutreffend in Erinnerung gerufen worden ist.
Wenn bei Parlamentswahlen, was doch völlig normal ist, die Stimmen in die verschiedensten Richtungen gehen und es eine entsprechende Fraktionierung der Volksvertretung gibt, kann das nicht zum Schluss führen, dass die Bürger und Bürgerinnen nicht wüssten, was sie wollen. Gegen aussen hingegen besteht die Erwartung (und eine gewisse Notwendigkeit), dass man sozusagen «mit einer Stimme» auftrete. Das aber ist immer weniger der Fall.
In Grossbritannien gibt es zurzeit eine Regierung ohne wirkliche Regierungsmehrheit. Diese musste, fast ein Jahr nach dem Referendum, am vergangenen Montag im Namen eines Staats und eines Volks in Brüssel zur Umsetzung des knappen Brexit-Entscheids die Verhandlungen mit der erfreulich einigen EU beginnen. Wie hat es zu dieser für Grossbritannien wirklich unglücklichen Situation kommen können?
Auf dem Weg zum Schafott
Gleich zweimal hintereinander, und vielleicht schon immer, hat Partei- und Innenpolitik die Aussenpolitik bestimmt. Der frühere Regierungschef David Cameron hat, um seine Tory-Partei zu disziplinieren, ein EU-Referendum vom Zaun gebrochen – und verloren. Und die neue Regierungschefin Theresa May hat, um ihre Regierungsbasis zu verbreitern, vorgezogene Neuwahlen ausgerufen – und verloren. Statt sich ernsthaft auf die Brexit-Verhandlungen vorzubereiten, machte sie Wahlkampf.
Theresa May hat ihr Manöver damit begründet, dass sie ihre bestehende Mehrheit ausbauen wolle, um für die Brexit-Verhandlungen den Rücken gestärkt zu bekommen. Im gleichen Zug, und dies könnte sogar das Hauptmotiv gewesen sein, nahm sie einige asoziale Vorhaben in ihr Regierungsprogramm auf, die zum Beispiel die minimale Altersvorsorge gefährdeten.
Im Lager der Tories wird bereits eine Nachfolge gesucht.
Jetzt muss sie mit den noch weiter rechts stehenden nordirischen Unionisten (DUP) wenigstens informell koalieren; also mit Kräften, denen der Kampf gegen Schwangerschaftsabbruch, Homosexualität und Glücksspiel wichtig ist und die zur Leugnung des Klimawandels und zum Kreationismus neigen. Diese Leute werden sich ihre Regierungsunterstützung so teuer wie möglich bezahlen lassen, mit Geld, aber auch mit politischen Zugeständnissen. Allerdings kommt auch eine gute Bedingung von dieser Seite: Die Grenze zwischen Nordirland und Irland müsse weiterhin durchlässig bleiben.
Von ihrem ehemaligen Ministerkollegen, dem Ex-Schatzkanzler George Osborne, ist Theresa May als «dead woman walking» bezeichnet worden, also als jemand, der zu seiner Hinrichtungsstätte marschiert. Im Lager der Tories, die schon unter Cameron stark zerstritten waren, wird bereits eine Nachfolge gesucht. Der für die Brexit-Verhandlungen eingesetzte EU-Chefunterhändler Michel Barnier fragte sich, ob er am Schluss mit sich selber verhandeln müsse.
Von Anfang an fragwürdig
Unter all dem leidet das europäische Integrationsprojekt. Die Geschichte der EU, die systematisch aufzeigen könnte, wann und warum die Vertiefung der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit wegen innen- und parteipolitischer Querelen blockiert oder gar zurückgeworfen wurde, ist noch nicht geschrieben.
Im konkreten Fall sollte mittlerweile klar geworden sein, dass der Ausgang des Brexit-Referendums vor einem Jahr nicht einfach als gerechtfertigte Absage an das Vergemeinschaftungsprojekt und als Bestätigung der auch auf dem Kontinent (und insbesondere in der Schweiz) bestehenden Vorbehalte verstanden werden muss.
Es wäre richtig, am Schluss mit einem zweiten Referendum darüber zu befinden, ob man das konkrete Resultat auch wirklich so gewollt hat.
Das Bexit-Referendum war von Anfang an eine höchst fragwürdige Angelegenheit. Es gab diffusen und disparaten Wunschvorstellungen die Möglichkeit, an der Urne eine Mehrheit zu bilden, ohne dass sich die Abstimmenden zu dem äussern mussten und äussern konnten, was bei der Umsetzung des Entscheids herauskommt. Darum wäre es richtig, am Schluss mit einem zweiten Referendum darüber zu befinden, ob man das konkrete Resultat auch wirklich so gewollt hat. Das wäre keine Wiederholung der Abstimmung, sondern ein sehr gerechtfertigter zweiter Teil eines Referendums.
Es wäre theoretisch und formal stets gerechtfertigt, derart schwerwiegende Entscheide nur in Doppelabstimmungen zu fällen.
Daneben gibt es im konkreten Fall jedoch auch einen weiteren, inhaltlichen Grund, eine zweite Brexit-Abstimmung zu wünschen: Die momentanen Verlierer sollten schlicht nicht aufgeben und für ein besseres Resultat kämpfen. Auch die Brexit-Befürworter, die jetzt als knappe Sieger selbstverständlich gegen eine weitere Abstimmung sind, hätten als Verlierer weitergekämpft; das haben sie sogar selber so in Aussicht gestellt. Jetzt aber würden die Brexit-Leute, die sich täglich darauf berufen, dass «das Volk gesprochen» habe, nichts mehr fürchten, als dass das Volk noch mal sprechen könnte.
Beides, eine zweite Abstimmung und die Fortsetzung des Kampfes für ein Verbleiben in der EU, ist vom grossen britischen Schriftsteller Ian McEwan in einem eindrücklichen Aufruf in der Central Hall in Westminster/London gefordert worden. Der integrale Wortlaut konnte dank der eingangs gescholtenen NZZ auch Leser und Leserinnen in der Schweiz erreichen.
Der Schriftsteller Ian McEwan erinnert daran, dass das Referendum bloss konsultativen Charakter hatte.
McEwan erinnert daran, dass das von einer Handvoll Milliardäre generös unterstützte und mit schamlosen Falschaussagen garnierte Referendum bloss konsultativen Charakter hatte. Er übt aber auch ein wenig Selbstkritik: Die Brexit-Gegner hätten zu rational und zu wenig emotional argumentiert und auch jetzt seien sie noch immer etwas zu nachdenklich, unglücklich und führungslos.
Inzwischen habe sich aber eine proeuropäische Zivilgesellschaft herausgebildet, die bereit sei, für ihre Überzeugungen zu kämpfen. Der bald Siebzigjährige spricht die Hoffnung aus, dass in zwei Jahren bei einem zweiten Referendum zweieinhalb Millionen Jungwähler für ein Verbleiben stimmen und anderthalb Millionen Menschen seiner Generation, die mehrheitlich Brexit-Befürworter waren, «dannzumal unter der Erde» sein werden.
Gemeinsamkeiten und Unterschiede
In der Schweiz wird aller Voraussicht nach eine Abstimmungswiederholung fällig: Bürger und Bürgerinnen können wohl im kommenden Jahr über die Rasa-Initiative befinden, das heisst über den Vorschlag, die vier Jahre zuvor mit 50,3 Prozent Ja-Stimmen knapp durchgerutschte Masseneinwanderungs-Initiative (MEI) ersatzlos wieder aus der Verfassung zu streichen.
Man kann, wie der Bundesrat es tat, eine solche Abstimmungswiederholung als demokratiepolitisch problematisch einstufen. In der Schweizer Geschichte lassen sich aber Urnengänge finden, die dies mit Erfolg angestrebt haben. Paradefälle sind die Abstimmungen von 1872 und 1874 zur Totalrevision der Bundesverfassung.
Selbstverständlich kann man aus migrationspolitischen Überlegungen gegen die Aufhebung des 2014 gefallenen MEI-Entscheids sein. Dass es sich um eine Abstimmungswiederholung handelt, sollte aber kein ins Gewicht fallender Grund für das Festhalten am früheren Volksvotum sein. Dies auch darum, weil inzwischen ein Bremsmechanismus (der Inländervorrang light) beschlossen worden und im entsprechenden Verordnungsentwurf für Regionen und Branchen mit über fünf Prozent Arbeitslosigkeit eine Stellenmeldepflicht vorgesehen ist, sie soll den Inländern einen Bewerbungsvorsprung von fünf Tagen geben. Davon könnten zurzeit rund 187’000 Stellensuchende profitieren.
Die britischen Abstimmungen entspringen der Willkür der Regierung. Die schweizerischen dagegen entspringen der ordentlichen Nutzung verbindlicher Verfassungsbestimmungen.
Eine Funktion der Rasa-Initiative hätte darin bestehen können, entsprechend der regelmässig geübten Usanz einen zahmeren Gegenvorschlag zu provozieren. Einen solchen hätte der Bundesrat denn auch gerne vorgelegt. Seine politischen Sondierungen im Vernehmlassungsverfahren zeigten aber, dass im Parlament dazu keine Mehrheit zustande gekommen wäre. Das Rasa-Komitee hat noch immer die Kompetenz, seine Initiative zurückzuziehen, falls das Hauptziel der Aktion – der Erhalt der bilateralen Verträge durch eine sanfte Umsetzung der MEI mit den erwähnten Bremsvorrichtungen – erreicht ist.
Zwischen den britischen und schweizerischen Volksbefragungen besteht ein wesentlicher Unterschied: Die britischen Abstimmungen entspringen ganz der Willkür der gerade die Macht innehabenden Regierung. Die schweizerischen Abstimmungen dagegen entspringen der ordentlichen Nutzung verbindlicher Verfassungsbestimmungen. Das aber gilt nicht nur für die Migrations-Initiative, sondern auch für die Rasa, die formal nicht weniger berechtigt ist.
Es fällt noch ein weiterer Unterschied auf und damit ein Vorzug, über den wir in der Schweiz verfügen, ohne uns dessen anerkennend bewusst zu sein: Der Bundesrat kann nicht, wenn es ihm günstig erscheint, Neuwahlen ausschreiben. In Grossbritannien sind erst wenige Tage seit den Wahlen vom 8. Juni vergangen und schon wieder ist von Neuwahlen die Rede. Diese könnten erneut kleinere Verschiebungen der Kräfteverhältnisse bescheren, die dann aber so genutzt würden, als ob man alleine auf der Welt wäre.
Von Wirtschaftsseite hört man, dass klare Rahmenbedingungen und absehbare Planungshorizonte wünschbar sind und von der Politik erwartet wird, dass sie diese sicherstellt. Politik bietet derzeit, ob in Grossbritannien, in der Schweiz oder anderswo, so ziemlich das Gegenteil. Unsicherheit ist offenbar ein Normalzustand geworden, und offensichtlich lassen sich auch unter diesen Umständen schöne Wirtschaftserfolge erzielen.