#vemprarua: Der Hashtag und die Revolution

Der Protest gegen Brasiliens Regierung nutzt die populärsten Tribünen des Landes – jene des Fussballs und jene der sozialen Medien, wo sich Strasse und Internet verbinden. Eine Reportage.

Hunderttausende protestieren in Brasilien gegen Korruption und Ungerechtigkeit. Der Revolutionsslogan #vemprarua meint nicht nur «Geh auf die Strasse», sondern auch «Geh ins Netz», wo es unter dem Twitter-Hashtag #vemprarua Infos zu den Unruhen gibt (Bild: Reuters)

Der Protest gegen Brasiliens Regierung nutzt die populärsten Tribünen des Landes – jene des Fussballs und jene der sozialen Medien, wo sich Strasse und Internet verbinden. Eine Reportage.

1. Fussball und Politik

«Die grossartige Stadt des Fussballs wird dich umarmen.» So steht es am Eingang des Tunnels von Rio de Janeiros Stadtteil Botafogo, der den Verkehr zum Stadtteil Copacabana führt. Auf Portugiesisch – und natürlich auch auf Englisch, damit die Umarmung so weit reicht wie der Fussball.

Während sich das Land der Fussball-WM 2014 auf den internationalen Besucheransturm vorbereitet, verweigerten die Fans Präsidentin Dilma Rousseff die Umarmung und empfingen sie zur Eröffnung des Confederation Cup am 15. Juni mit Buhrufen. Als Fifa-Präsident Joseph Blatter daraufhin das Stadion zu Respekt und Fairplay ermahnte, umarmten sich Fussball und Politik jenseits des Tunnelversprechens quasi auf höchster Ebene.

Das Volk aber hatte einen Keil zwischen beide geschlagen und trieb ihn tiefer, als es zeitgleich zum Spiel Brasilien–Italien demon­strierte und dabei nicht nur «revolução» rief, sondern auch: «Não vai ter copa» (Es wird keinen Worldcup geben). Es ist eine Revolution gegen eine Regierung, die selber in einem Widerstandskampf gegen eine Militärdiktatur heranwuchs.

Alles endet in «Pizza», heisst es: Nichts ändert sich.

Aber diese Partei, die 2002 unter Lula da Silva mit dem Versprechen die Regierungsmacht übernahm, die Korruption zu bekämpfen, hatte das Ausmass der Korruption mit dem Kauf von Parlamentsstimmen selbst auf eine neue Ebene gehoben. Konnte man von ihren Vertretern Besserung erhoffen? War es schon genug, dass unter Rousseff eine Handvoll Politiker wegen Korruption ihre Ämter verloren?

«Impunidade» heisst das, was mit überführten korrupten Politikern in Brasilien passiert: Sie werden nicht bestraft oder tauchen alsbald in anderen gut bezahlten Posten auf. Ein anderer wichtiger Begriff zur Funktionsweise dieses Landes lautet «tudo acaba em pizza» – alles endet in Pizza, was so viel heisst wie: Nichts ändert sich.

Zumindest für die wirtschaftliche Situation Brasiliens stimmt diese Annah­me jedoch keineswegs. Seit der Machtübernahme von Lulas Arbeiterpartei 2002 hat sich die Mittelschicht Brasiliens prächtig entwickelt, was sich gerade in dem Stadtteil zeigt, in dem ich zwischen zwei Vorträgen über soziale Medien Quartier bezogen habe: Leblon, das fast ein bisschen wie Berlin Mitte nach der Gentrifizierung aussieht, nur alles noch extremer. Mehr SUV, die Bäckerei 24 Stunden geöffnet, die Restaurants so teuer wie in Basels St.-Alban-Vorstadt, und die Pizzeria Guanabara offeriert einen «Chateau Mouton-Rothschild» für umgerechnet 750 Franken. Was halten Leute, die hier wohnen, von den Protesten?

2. Das Revolutionsidyll

Nicht viel, wie das Zigarren-Restaurant Esch vermuten lässt, wo die Gäste den Wechsel des TV-Programms von «Global News» zu Fussball verlangen. Nicht, um dem Spiel zu folgen (niemand schaut auf den Bildschirm), ­sondern um sich von den sozialen Pro­­blemen des Landes nicht den Abend verderben zu lassen. In der Pizzeria Guanabara dagegen läuft der News­kanal auf allen Bildschirmen, und als am 21. Juni die Rede der Präsidentin übertragen wird, schauen auch fast alle hin.

Am gleichen Tag bekam Leblon seinen eigenen Protestort, vor dem Haus des Gouverneurs von Rio. Nur rund 600 Menschen versammeln sich hier, um gegen Polizeigewalt zu demonstrieren. Am nächsten Tag wird diese ­Stras­senecke am Strand zum Revolutions­idyll: Neben vier Zelten mit Gitar­renspielern gibt es einen Speakers Corner, der es jedem der 50 bis 60 Versammelten erlaubt, eigene Erfahrungen, Ansichten und Forderungen mitzuteilen.

Nach dem Aufruf eines Studenten, sich nicht für Parteiinteressen einspannen zu lassen, tritt ein etwa 40-jähriger Mann, ein Kleinunternehmer, wie er sagt, in die Mitte, um an den Aufschwung der letzten Jahre zu erinnern. Man solle vorsichtig mit seinen Forderungen sein, das Neue könnte sich als schlimmer erweisen als das, was man hat. Das ist die Stimme Leblons, die natürlich viele Buhrufe erntet.

Soziale Medien untergraben die Informationshoheit der Massenmedien.

Einige diskutieren am Rande heftig weiter mit dem Unternehmer, als in der Mitte bereits das umstrittene Wasserkraftwerk Belo Monte Thema ist, für das 20 000 Xingo-Indianer umgesiedelt werden sollen. Aber die Körperkontakte (man fasst sich am Arm an, sogar an beiden Schultern) übersteigen nicht die Gebräuche brasilianischer Gesprächskultur.

Statt Handgreiflichkeiten gibt es eine Einladung, woanders zu sprechen – von einem jungen Mann, der nicht wie viele hier einen Che-Guevara-Bart trägt, sondern ein T-Shirt mit der Aufschrift «The Here and Now». Die Idylle ist perfekt bis zum Widerspruch, ohne den revolutionäre Meinungsbildung nur eine Farce wäre.

Am nächsten Tag, am Sonntag, hat sich der Redekreis verdoppelt und das Polizeiaufgebot halbiert. Es geht längst nicht mehr um den Gouverneur. Es geht um Selbstverständigung und Umarmung über die Generationen hinweg. Nun reden auch die Alten mit, gratulieren den Jungen zu ihrem Mut. Und es geht um Hoffnung: «Nicht alles endet in Pizza», steht auf einem Plakat.

3. Die Macht der sozialen Medien

Wer Facebook und Twitter nicht kennt, neigt zu Verschwörungstheorien. Das rasche Wachsen der Protestbewegung könne nicht ohne einen geheimen Plan geschehen, glauben die Rentner in einem Café in Leblon. Dahinter stecken politische Kräfte, die die Regierung schwächen wollen, um dann selbst die Macht zu übernehmen. Wer das sein könnte, weiss man nicht.

Die alten Medien erklären die Situation unter dem Begriff «horizontale Kommunikation»: Man informiert sich online über nächste Aktionen, was schnell und führungslos Massen auf die Stras­se bringt. Die Hierarchielosigkeit der Kommunikation führe dann auch zu einer gewissen Ziellosigkeit, was von «Globo», der mächtigsten Nachrichtenagentur Brasiliens, schon mal gern als adoleszentes «contra tudo» (gegen alles) diskreditiert wird.

Aber die Meldungen der Massen­medien sind längst nicht mehr die einzige Informationsquelle, woran diese selbst erinnern, wenn sie wie «Global News» Videos zeigen, die von Demonstranten ins Netz gestellt wurden. Während die TV-Kamera die informative Lufthoheit besitzt und vom Helikopter aus das Geschehen zeigt (inklusive Polizeigewalt und Plünderungen), beherrschen die Smartphones die Strasse.

Dass die Demonstranten ihre eigenen Bilder produzieren, überrascht kaum, wohl aber das Ausmass an Transparenz, mit dem dies geschieht.

Fürchtet man nicht die Identifikationsarbeit der Polizei in den sozialen Me­dien? Oder ist der Verzicht auf Anonymität ein Zeichen der Hoffnung: dass friedliche Demonstranten nichts zu befürchten haben und so viele sowieso nicht verfolgt werden können? Wer doch Bedenken hat oder Gewaltakte plant, trägt eine Guy-Fawke-Maske, die geschäftstüchtige Leute während der Demonstration verkaufen.

Erstaunlich ist auch, dass sich die Plünderer noch beim Plündern aufnehmen, wie die TV-Bilder des «Globo»-Helikopters zeigen. Beweismittel vom Tatort als Trophäe für die Favela-Kumpels?

Die Bilder der Smartphones berichten spontan von dort, wo die Kameras nicht sind oder sein wollen, und schaffen so eine Realität, an der sich jene der Massenmedien messen lassen muss. Wie hätte man früher die Eskalation der Gewalt objektiv rekonstruieren können? Wie hätte man gewusst, was die Leute denken, die man nicht kennt oder unmittelbar beobachten kann?

Heute findet man auf Facebook nicht nur Tausende von Meinungsäus­serungen, sondern auch kommentar-l­ose, aber vielsagende Dokumentationen. Wie etwa das Video aus einer Wohnung in Barra da Tijuca (ein boomendes Stadtviertel für Neureiche), das die Buhrufe festhält, die Rousseffs Rede aus den Fenstern der umliegenden Apartmenthäuser erhält.

Nicht nur die Bilder der Revolution werden von der Masse selbst produziert, auch die Texte.

Aber nicht nur die Bilder der Revolution werden nun von der Masse selbst produziert, auch die Texte. Das war schon immer der Fall, was Slogans und Transparente betrifft. Mit den sozialen Medien aber führt jede Losung – durch das #-Zeichen davor – zu einer Unmenge an Information. Wenn ein Demonstrant sich #vemprarua auf die Stirn schreibt, sagt er nicht nur «Komm auf die Strasse», sondern auch: «Geh ins Internet und schau, welche Kommentare und Links es zum Hashtag #vemprarua auf Twitter gibt.»

Das Gleiche gilt für Slogans wie #ogiganteacordou (der Gigant ist erwacht) oder #desculpeotranstornoestamosmudandoobrasil (Verzeihung für die Störung, wir ändern Brasilien). Insofern ist auch der Slogan «Somos a rede social» (Wir sind das soziale Netzwerk), den man auf vielen Transparenten sieht, nicht als Gegenpol zu Online-Netzwerken zu verstehen. Vielmehr umarmen sich zwei Kommunikationsmodelle, die Strasse und das Internet, in gemeinsamer Sache.

Apropos Umarmung und Fussball. Der Slogan #vemprarua hat eine weitere Bedeutung: «Vem pra rua, a maior arquibancada do Brasil» (Komm auf die Strasse, die grösste Tribüne Brasiliens) heisst es in einem Werbeclip, der einen Fiat unter tanzenden Menschen zeigt. Verständlich, dass dieser Clip nun, nachdem man brennende Autos auf den Stras­sen sah, nicht mehr ausgestrahlt wird. Zu gross ist die Gefahr, dass dieser Aufruf vor allem von jenen umarmt wird, die nicht einmal das Geld für höhere Bustarife haben.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 28.06.13

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