Es klingt beängstigend, was einige Assistenzärzte vom Kantonsspital Baselland (KSBL) im August an ihren Vorgesetzten rapportieren: Patienten seien auf den Fluren «verloren gegangen» und eher zufällig von Ärzten gefunden worden. Die Zustände im Spital in Liestal führten zu einer «direkten Patientengefährdung». Ein Insider sagt zudem: «Es ist nicht die Frage ob, sondern nur wann etwas Gravierendes passiert.»
Der TagesWoche liegen mehrere Dokumente vor, die Missstände bei der Patientenbehandlung im KSBL aufzeigen. Die darin geschilderten Zustände werden von aktuellen und ehemaligen Kaderärzten bestätigt.
Vier Monate vor der Abstimmung über die Spitalfusion zwischen dem KSBL und dem Universitätsspital Basel zeigt sich, dass das Baselbieter Spital mit einem Durcheinander und der Überforderung vieler Mitarbeitenden zu kämpfen hat.
Abgang um Abgang
Die Geschichte der Negativspirale beginnt 2012, als die Spitäler in Liestal, Laufen und auf dem Bruderholz unter einem Dach, dem KSBL, zusammengeführt werden. Diesem KSBL laufen Kaderärzte en masse davon. Laut Medienberichten sind es über 50 Kaderärzte, die seit 2015 gingen. Bei den Abgängen der grossen Namen macht die Kurve der Patientenzahlen jeweils einen Knick nach unten. Wenn das Spital neue namhafte Chefärzte engagieren kann, geht die Kurve leicht nach oben.
Die Tendenz ist jedoch klar: Im Schnitt verliert das Spital jeden Monat etwa 400 Fälle. Der Ertrag ging von 2012 bis 2018 um rund 48 Millionen Franken zurück – das sind etwa 10 Prozent des Gesamtertrags.
Das schwerwiegendste Problem, der Abgang der Kaderärzte, hängt auch mit dem Grossprojekt Spitalfusion zusammen. Die Zukunft der Baselbieter Kaderärzte ist ungewiss; entsprechend gross die Angst, im geplanten Megaspital nur noch eine Nebenrolle zu spielen.
Auch der Spardruck und das Chaos, das auf manchen Abteilungen herrsche, trügen zum Exodus der Kaderärzte bei, sagt ein Chefarzt, der noch im Spital arbeitet. «Wer eine Option hat, geht», bringt er es auf den Punkt.
Geschäftsleitung sah alles voraus
Abgänge, Patientenschwund, die ganze Negativspirale – das alles kommt nicht überraschend. Die Geschäftsleitung hat diese Entwicklungen bereits zu Beginn der Fusionsplanung 2016 kommen sehen, wie ein internes Papier von damals zeigt. In einer Präsentation nennt die Geschäftsleitung die Risiken der «Transformationsplanung», darunter «Abgänge von Schlüsselpositionen im medizinischen Kader». Dadurch werde unter anderem die «Versorgungssicherheit gefährdet».
Als weitere Risiken sah die Geschäftsleitung: «Rückgang der Fallzahlen», «Operativer Betrieb kann nicht sichergestellt werden» und «Imageschaden durch negative Medienberichte».
Die Voraussagen trafen fast alle ein – wobei die Spitalleitung wohl die Heftigkeit unterschätzte. In der Analyse werden nur Laufen und Bruderholz als Risikofaktoren genannt. Dass nun auch Liestal, die eigentliche Cash-Cow des Spitals, unter der Transformation leidet, hat die Geschäftsleitung wohl überrascht. Auch im Spital des Kantonshauptortes gab es etliche Abgänge, die in einzelnen Abteilungen zu Problemen führten.
Das Schreiben einer Pflegefachfrau vom Frühling 2018 gibt Auskunft darüber, wie es in einer Abteilung in Liestal läuft. Die Mitarbeitenden in der Pflege sollten mitteilen, was sie im Alltag vernachlässigen, wo es Probleme gibt. Die Auflistung der Vernachlässigungen, die eineinhalb Seiten umfasst, liegt der TagesWoche vor. Darin steht zum Beispiel:
- «Bei der Körperpflege wurde nur das Nötigste gemacht, obwohl Patienten vielleicht gerne geduscht hätten.»
- «Rapport an Spätdienst oder Nachtwache nahm extrem an Qualität ab, viele Tätigkeiten wurden vergessen abzugeben.»
- «Die Betten wurden sehr selten neu bezogen.»
- «Patientengespräche bei psychischen Belastungen wurden oft nicht durchgeführt (man ging diesen bewusst aus dem Weg).»
- «Es gab viele Medikamenten-Verordnungen mit falschen Dosierungen. Diese mussten wieder von den Ärzten umverordnet werden (benötigt immer sehr viel Zeit).»
Die Auflistung wurde an die Geschäftsleitung weitergeleitet. Die KSBL-Mediensprecherin Anita Kuoni schreibt dazu, man nehme die Rückmeldungen aus den Fachbereichen sehr ernst. Sie tut die E-Mail aber –wie auch die anderen Schreiben, die der TagesWoche vorliegen – als Einzelmeinung ab: «Veränderungen können Ängste, Unsicherheiten und individuell sehr unterschiedliche Reaktionen auslösen.» Damit sei die Geschäftsleitung jeden Tag konfrontiert.
Hausärzte mit schlechtem Gewissen
Dass im Spitalalltag in Liestal nicht alles rund läuft, bestätigen auch zwei Briefe, die Hausärzte aus dem Oberbaselbiet vor einem Jahr an Spitaldirektor Jürg Aebi schickten. Hintergrund dafür war der Abgang von mehreren Kaderärzten, der das Spital aus Sicht der Hausärzte schwächte.
In einem ersten Brief, der von 19 Hausärztinnen und Hausärzten unterzeichnet wurde, ist von «massivem Vertrauensverlust», «Fehldiagnosen» und «fehlenden Kompetenzen» die Rede. «Insbesondere zeigt sich auf der Orthopädie und der Gynäkologie ein bedenkliches Bild (seit Jahren), welches eine Zuweisung unsererseits mit gutem Gewissen eigentlich nicht mehr ermöglicht.»
Ein zweiter Brief, von 30 Hausärztinnen und Hausärzten unterschrieben, beklagt ebenfalls den Verlust von namhaften Kaderärzten: «Wenn solche Leuchttürme das Spital verlassen, obwohl sie schon jahrelang engagiert im Spital arbeiten, geht extrem viel Substanz verloren. Wegen Ihnen als CEO oder Ihrer Verwaltung, Herr Aebi, schicken wir keinen einzigen Patienten nach Liestal, sondern genau wegen diesen Zusammenarbeitspartnern.»
Drei Ärzte, die die Briefe damals unterschrieben, sagen heute, es habe sich einiges verbessert. Die KSBL-Leitung sass mit den Hausärzten zusammen und ging auf ihre Wünsche ein. In Liestal sei die Lage heute weitgehend stabil, urteilen die drei Ärzte mit Blick von aussen.
Warnruf der Assistenzärzte
Von innen klingt es etwas anders. Das eingangs erwähnte Schreiben einiger Ärzte gibt Einblick in chaotische Zustände.
Die Assistenzärzte aus der Abteilung Chirurgie in Liestal schreiben, den Patienten würden Urinkulturen falsch abgenommen, Infusionen falsch gegeben, Antibiotika-Abgaben vergessen. Der Grund dafür: Die Pflegekräfte kommen aus fachfremden Abteilungen und wurden nicht richtig eingearbeitet.
Auch komme es vor, dass ein Notfallpatient in der Nacht hereinkomme und erst um die Mittagszeit oder am Nachmittag darauf von einem Arzt besucht werde. Dies sei gefährlich, denn: «Handelt es sich um gravierende medizinische Probleme, ist unter Umständen eine schnelle Intervention erforderlich. Hieraus resultiert unserer Meinung nach eine direkte Patientengefährdung.»
Die Ärzte nennen noch ein weiteres Beispiel für Patientengefährdung: Auf einigen Stationen fehle medizinisches Material. Dieses müsste bei Bedarf aus der chirurgischen Abteilung mitgebracht oder geholt werden. «Sollte beispielsweise eine akute, vital bedrohliche Blutung aus einem gerade operierten Gefäss auftreten, wäre eine schnelle Klemmung (und Stabilisierung) nicht möglich, da kein Material auf der Station vorhanden wäre.»
Weiter ist die Rede von wechselndem Pflegepersonal, unklaren Zuständigkeiten und «massivem Stress».
Fast dreimal so hohe Fluktuation am KSBL wie am Unispital
Dass Spardruck und Spitalumbau mit diesen Zuständen zu tun haben, ist naheliegend; für die Kaderärzte, mit denen die TagesWoche sprach, ist der Zusammenhang offensichtlich.
Ein Kernproblem sei, dass nicht genügend gut ausgebildete Ärzte gefunden werden. Und bei denen, die sich anstellen lassen, dauere es einige Zeit, bis sie mit den Abläufen vertraut sind. So erklärt ein Kaderarzt den Zerfall am KSBL.
Die offiziellen Zahlen zeigen: Die Fluktuation insbesondere bei den leitenden Ärzten und Chefärzten ist enorm. Bei allen Ärzten ausser Assistenz- und Oberärzten, die naturgemäss häufig wechseln, lag die Fluktuationsrate der letzten zwei Jahre im Schnitt bei 9,8 Prozent. Zum Vergleich: Beim Unispital betrug sie 3,7 Prozent.
«Das KSBL ist nach der Zusammenlegung der drei Standorte sicher nicht effizienter geworden.»
Ein Blick in die Geschäftsberichte zeigt, dass seit 2012 bei den Pflegekräften massiv gespart wurde. Der Lohnaufwand für die Ärzte stieg moderat, in der Administration nahm er hingegen massiv zu.
Das KSBL sei nach der Zusammenlegung der drei Standorte sicher nicht effizienter geworden, drückt es ein ehemaliger Kaderangestellter aus der Verwaltung vorsichtig aus.
Tatsächlich gibt das KSBL deutlich mehr für seine Verwaltung aus als andere Spitäler. Bei vergleichbaren Institutionen wie dem Kantonsspital Aarau und den Solothurner Spitälern machte der Bereich Verwaltung im letzten Jahr zwischen 6 und 9 Prozent des gesamten Lohnaufwands aus – beim KSBL waren es 15 Prozent.
Fusion als Erlösung?
Die Planung der Spitalfusion kostet ebenfalls einiges. Das KSBL kommuniziert offiziell, für die Phase 2016 bis 2019 zahle das Spital 6,5 Millionen Franken. Ein Insider sagt hingegen, die bisherigen Kosten seien deutlich höher als das, was das KSBL offiziell kommuniziert.
Klar ist, die Geschäftsleitung wartet gespannt auf den 10. Februar, wenn in Baselland und Basel-Stadt über die Fusion abgestimmt wird. Aus Geschäftsleitungskreisen sei im Moment häufig zu hören, man müsse nur bis zum 10. Februar durchhalten – dann werde alles besser. So sagen es zwei Quellen aus dem Spital übereinstimmend.
Mit der Aussage konfrontiert, antwortet KSBL-Sprecherin Kuoni: «Es ist selbstredend, dass die Volksabstimmung vom 10. Februar entscheidend sein wird.» Für die Mitarbeitenden sei die derzeitige Phase «eine grosse Belastung», die Geschäftsleitung freue sich, dass dann «endlich ein definitiver Entscheid vorliegen wird».
Dass die Geschäftsleitung intern Durchhalteparolen durchgibt, streitet Kuoni indes nicht ab. Für den Spitaldirektor werden es lange vier Monate bis zum 10. Februar 2019.