Im Halbfinale der Fussball-Europameisterschaft treffen Frankreich und Deutschland aufeinander. Nach dem Brexit geht es für die verbleibenden EU-Grössen nicht nur um die Vorherrschaft auf dem Spielfeld.
Der Vorfall liegt 34 Jahre zurück, doch den Franzosen ist er in bester Erinnerung. Es war der 8. Juli 1982, im WM-Halbfinale in Sevilla spielte Frankreich gegen Deutschland. Die «Platini-Boys» waren in Spiellaune, und Henri Battiston zog mit dem Ball gerade Richtung deutsches Tor, als das geschah:
Der Franzose wurde mit einer Gehirnerschütterung, einem angebrochenen Halswirbel und zwei ausgeschlagenen Zähnen vom Feld getragen, während der deutsche Torwart Toni Schumacher unbeteiligt mit dem Ball spielte. Die geschockten Franzosen gingen noch in Führung, verloren aber die Partie schliesslich im Elfmeterschiessen.
Die Sieger hatten allerdings auch den Ruf der «hässlichen Deutschen» zurückgewonnen. Und die verbitterten Verlierer eine Rechnung offen. Seit 1958 haben sie die Deutschen in einer Welt- oder Europameisterschaft nie mehr besiegt. Jetzt ist der Moment.
Dauergast auf der Tribüne, wenn Frankreich spielt: François Hollande. Dem Präsident gehts allerdings nicht nur um die taktischen Finessen. (Bild: REUTERS/Yves Herman Livepic)
Am Donnerstagabend in Marseille haben die «Bleus» Heimvorteil, und im Turnierverlauf spielen sie immer stärker auf. Vor EM-Beginn litten sie unter Starallüren, Rassismus-Vorwürfen und mangelndem Teamgeist – Ausdruck auch der schweren Krise, die Frankreich seit Monaten mit Terroranschlägen und Sozialprotesten durchmacht.
Seit dem letzten, souveränen Sieg gegen Island keimt die Hoffnung. Auch Präsident François Hollande, bei jeder Partie seiner Nationalelf dabei, setzt inbrünstig auf einen Turniererfolg, der ihm die Wiederwahl im kommenden Jahr erleichtern soll.
Wer hat in der EU das Sagen? Der Fussball soll es zeigen
Dabei sind in Paris für einmal keine chauvinistischen Töne oder gar antideutschen Ressentiments zu vernehmen. Das neue französische Wir-Gefühl hinter den Blauen ist noch zu schwach, um bereits in nationale Euphorie umzuschlagen.
Ausserdem ist man sich in der «deutsch-französischen Freundschaft» verbunden; erst vor Kurzem haben die beiden Weltkriegsgegner auf dem Schlachtfeld von Verdun zusammen das «Nie wieder» zelebriert. Und schliesslich verlangt «la Mannschaft», wie sich die Pariser Medien gerne ausdrücken, in Frankreich einfach Respekt ab.
Aber niemand würde verhehlen: Frankreich will die Revanche, will endlich einen Sieg gegen den übermächtigen Angstgegner, etwa so, wie Deutschland am vergangenen Samstag seinen eigenen Angstgegner Italien niedergerungen hat. Und das nicht nur wegen «Sevilla». Nicht nur wegen des Fussballs.
«Hollande macht Vorschläge, aber sie beschliesst»
Seit Monaten, wenn nicht Jahren – also keineswegs erst seit dem Brexit – geht es auch darum, wer in Europa das Sagen hat. Die Franzosen, die laut General de Gaulle «nur im ersten Rang sich selbst» sind, haben das ungute Gefühl, in der EU nur noch Nummer zwei zu sein.
«Hollande macht Vorschläge, aber sie beschliesst», brachte es das Pariser Newsportal «Atlantico» diese Woche auf den Punkt. «Sie», das ist natürlich Angela Merkel, «die Pastorentochter, die nach den wirtschaftlichen auch moralische Lektionen erteilt», wie die Zeitung «Libération» schon in der Flüchtlingskrise geschrieben hatte.
Jetzt, da die Briten der EU den Rücken kehren, wünscht die Regierung in Paris eine ehrgeizigere Wirtschafts- und Investitionspolitik von Seiten der EU. Das heisst weniger deutsche Sparpolitik. «Wenn die Antwort auf den Brexit ein noch deutscheres Europa ist, dann fahren wir gegen die Wand», klagt der konservative Oppositionspolitiker und Sarkozy-Vertraute Henri Guaino.
Die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» räumt ein, dass Berlin und Paris bei den zentralen EU-Themen Griechenland, Flüchtlingen oder Post-Brexit nicht am selben Strick ziehen: «Ohne Grossbritannien gewinnt das deutsch-französische Tandem in der EU an Gewicht – und damit auch sein eingebauter Konfliktstoff.»
Die Kritik am linksrheinischen Nachbarn ist aber in Deutschland wie gewohnt weniger offen. Die «Süddeutsche Zeitung» ortet zwar «Minderwertigkeitskomplexe» bei der einstigen Grande Nation, aber nur, um ihr Mut zuzusprechen: «Ein innerlich erstarktes Frankreich hilft Europa, auch den Deutschen.»
In Sachen Fussball zieht das Blatt aus München den Hut vor dem «schönen Spiel» der Franzosen und meint zum anstehenden EM-Halbfinale sogar in seltener Grosszügigkeit: «Der Triumph wäre den Nachbarn zu gönnen.»
Fehlt nur noch, dass Bastian Schweinsteiger seinen Elfmeter diesmal absichtlich verschiesst. Aber so weit geht die deutsch-französische Freundschaft wohl doch nicht.