Der Nahe Osten befindet sich im Umbruch wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Zu den Gewinnern könnten die Kurden gehören. Allerdings gibt es auch Bedenken, dass ein allfälliger Kurdenstaat für noch mehr Spannungen sorgen könnte.
Noch ist unvorhersehbar, wie sich die Kräfteverhältnisse im Nahen Osten in Zukunft verschieben werden. Seit Jahrzehnten war die Region nicht mehr derart im Umbruch wie jetzt. Ob und wann das Chaos in stabile Verhältnisse mündet, lässt sich ebenso wenig absehen wie der Verlauf der künftigen Grenzen in der Region. Eine Prognose kann man aber wagen: Die Kurden könnten zu den Gewinnern der Umwälzungen gehören.
Wie schon im Irakkrieg vom Frühjahr 2003 sind die irakischen Kurden auch jetzt ein gesuchter Verbündeter – damals für die USA und Grossbritannien bei der Invasion des Irak zum Sturz Saddam Husseins, jetzt für die irakische Regierung und westliche Länder im Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS).
PKK-Terroristen kämpfen gegen IS-Terroristen, demnächst vielleicht sogar mit westlichen Waffen – ein erstaunlicher Paradigmenwechsel.
Und diesmal kämpfen nicht nur die Peschmerga-Soldaten der irakischen Kurden gegen die IS-Dschihadisten, sondern auch die als Terrororganisation geltende kurdische Arbeiterpartei PKK, deren blutiger Krieg für einen eigenen Kurdenstaat seit 1984 in der Türkei über 40’000 Tote forderte.
Die PKK hat seit 1999 ihr Hauptquartier in den Kandil-Bergen des Nordirak und verfügt über mehrere tausend gut ausgebildete Guerillakämpfer. Bei der Vertreibung des IS aus der nordirakischen Stadt Machmur spielten die PKK-Kämpfer bereits eine entscheidende Rolle. Ihr syrischer Ableger, die «Volksverteidigungseinheiten» YPG, kontrolliert im Nordosten Syriens eine autonome Region und hält den IS bisher auf Distanz.
PKK-Terroristen kämpfen gegen IS-Terroristen, demnächst vielleicht sogar mit westlichen Waffen – ein erstaunlicher Paradigmenwechsel. Steht am Ende dieser Entwicklung ein Kurdenstaat, der die kurdischen Siedlungsgebiete im Nahen Osten umfasst, oder doch Teile dieser Territorien? Viele Kurden hoffen darauf.
Spielball rivalisierender Mächte
Etwa vier Millionen Kurden leben im Nordirak, rund fünf Millionen im westlichen Iran, etwa 14 Millionen in der Ost- und Südosttürkei. Kleinere kurdische Minderheiten gibt es in Syrien, nämlich etwa 600’000 Menschen, und in Armenien, wo an die 200’000 Kurden leben. Sie seien «ein Volk ohne Freunde», sagen Kurden über sich selbst. Der legendäre Kurdenführer Mustafa Barsani bezeichnete sie als «die Waisen des Universums». Die Kurden sind allerdings auch ein zerstrittenes, von Stammesfehden, Bruderkämpfen und religiösen Rivalitäten zwischen Schiiten und Sunniten zerrissenes Volk. Damit machten sie sich immer wieder zum Spielball der rivalisierenden Mächte in der Nahostregion.
In ihrem Bestreben nach Selbstbestimmung gingen die Kurden oftmals absurde Allianzen ein. So mobilisierte Mustafa Kemal die Kurden im Feldzug gegen die Griechen, Armenier und Georgier. Aber nach der Gründung der Republik liess er sie fallen. Ihre Schulen wurden geschlossen, ihre Sprache verboten. Die irakischen Kurden beteiligten sich 1958 am Sturz König Feisals, in der Hoffnung auf einen eigenen Staat. Doch das Saddam-Regime verfolgte sie hernach umso brutaler. Die iranischen Kurden paktierten mit den Mullahs und halfen beim Sturz des Schahs. Doch Chomeini unterdrückte sie nach seiner Machtübernahme noch brutaler, als es das Schah-Regime getan hatte.
«Ein unabhängiger Staat der Kurden würde die Region weiter destabilisieren und neue Spannungen hervorrufen.»
Aber jetzt scheint die Vision eines eigenen Kurdenstaates Wirklichkeit zu werden, zumindest im Nordirak. Schon 1970 gewährte Saddam Hussein den Kurden eine Teilautonomie, die aber nur von kurzer Dauer war. 1988 bombardierte die irakische Luftwaffe kurdische Dörfer mit Giftgas. Mit der Einrichtung einer Flugverbotszone der Alliierten wurde die Region 1991 der Kontrolle Bagdads entzogen.
Nach dem Sturz Saddam Husseins garantierte die neue irakische Verfassung der Kurdenregion weitgehende Souveränität. Während der Irak immer mehr ins Chaos abdriftete, war die kurdische Autonomiezone eine Insel der Stabilität und des relativen Wohlstands. Dank reicher Ölvorkommen und Investitionen aus dem Ausland hat sie auch eine solide wirtschaftliche Basis. Die ölreiche Region Kirkuk, die bisher ausserhalb der Autonomiezone lag, haben die Peschmerga im Juni bereits erobert. Dass sie Kirkuk wieder hergeben werden, ist nicht zu erwarten.
Sorgen um Stabilität
Der deutsche Bundesaussenminister Frank-Walter Steinmeier erteilte Gedankenspielen über einen Kurdenstaat allerdings jetzt eine Absage. «Ein unabhängiger Staat der Kurden würde die Region weiter destabilisieren und neue Spannungen hervorrufen, möglicherweise auch mit den Nachbarstaaten des Irak», sagte Steinmeier vergangene Woche.
Vor allem in der Türkei beobachtet man die Entwicklung mit Argwohn. Zwar hat man sich mit der kurdischen Autonomiezone längst arrangiert. 70 Prozent der dortigen Auslandsinvestitionen kommen aus der Türkei, der Handel mit dem Nordirak ist für die Menschen in den türkischen Grenzprovinzen ein wichtiger Wirtschaftsfaktor.
In Ankara fürchtet man, die Waffenlieferungen in den Irak könnten letztlich auch den Kurdenkrieg in der Türkei wieder aufflammen lassen.
Doch es gibt die Sorge, ein Kurdenstaat im Nordirak werde neue Autonomiebestrebungen der türkischen Kurden fördern. Zwar hat die PKK die Forderung nach einem eigenen Staat offiziell fallengelassen. Allerdings gibt es innerhalb der PKK rivalisierende Fraktionen. In Ankara fürchtet man, ausländische Waffenlieferungen an die Peschmerga könnten letztlich ihren Weg zum militanten PKK-Flügel finden und den Kurdenkrieg in der Türkei wieder aufflammen lassen.
Umso mehr steht die türkische Regierung jetzt in den Verhandlungen über eine friedliche Lösung der Kurdenfrage unter Zugzwang. Um möglichen Autonomiebestrebungen die Spitze zu nehmen, muss sie wohl den Kurden Angebote zur regionalen Selbstverwaltung machen, die über das hinausgehen, was bisher in den streng zentralistischen Türkei denkbar war.
Immerhin scheint man in Ankara begriffen zu haben, dass man den stockenden Friedensprozess mit der PKK und ihrem politischen Ableger, der Kurdenpartei HDP, schleunigst wieder in Gang bringen muss. So ist wohl die Ankündigung von Vizepremier Besir Atalay zu verstehen, man wolle nunmehr direkt mit «Kandil» verhandeln, also mit der militärischen Führung der PKK in den nordirakischen Bergen.