Am 19. September 1985 wurde Mexiko-Stadt von einem verheerenden Erdbeben heimgesucht, welches über zehntausend Todesopfer forderte. Heute wird der Katastrophe, welche auch eine politische Dimension hatte, gedacht. Zeitzeugen erinnern sich an die Tragödie und ihre Folgen.
Eigentlich wollte Cuauhtémoc mit seinem Lastwagen wie gewohnt zur Arbeit fahren. Der damals 22-Jährige arbeitete für die Stadtbezirksverwaltung von Cuajimalpa auf dem Bau. Aber in Gedanken war er an diesem 19. September ganz woanders. Heute, morgen, vielleicht auch erst übermorgen, aber jeden Tag konnte sein zweites Kind zur Welt kommen.
Cuauhtémocs kurvte gedankenversunken über die engen Strassen des hoch gelegenen und hügeligen Bezirks im Nordwesten von Mexiko-Stadt und nahm zunächst gar nicht wahr, was genau um 7.19 Uhr morgens im Zentrum vor sich ging. Als sein Radiosender plötzlich verstummte, kam ihm das seltsam vor, aber wirklich mitbekommen hat er die Katastrophe erst, als ihn eine Polizeipatrouille stoppte: «Das Stadtzentrum liegt in Trümmern.»
Der Stadtchronist Carlos Monsiváis sprach später angesichts der Freiwilligen von einer «Übernahme der Stadt durch die Zivilgesellschaft gemäss dem Prinzip der Solidarität». Auch Prominente wie der spanische Tenor Plácido Domingo legten Hand bei den Rettungsarbeiten an. Der weltbekannte Sänger verlor kurz zuvor mehrere seiner Verwandten beim Einsturz des Wohnblocks «Nuevo León». Hilfe kam für Mexiko auch aus dem Ausland – die Schweiz beteiligte sich damals am Hilfseinsatz.
Das Wunder in den Spital-Trümmern
Was aber geschah mit Alma, der hochschwangeren Ehefrau von Lastwagenfahrer Cuauhtémoc?
Während ihr Mann noch dabei war, nach Verschütteten zu suchen, verliess sie beim Nachbeben am zweiten Tag fluchtartig das Haus ihrer Grossmutter. «Es war ein schlimmes Bild, all die in Panik herumrennenden Leute», erinnert sich Alma. Das Baby liess sich davon zum Glück nicht beeindrucken – erst als sich die Tektonik am 21. September beruhigt hatte, setzten die Wehen bei Alma ein. Die Geburt wurde dennoch zum Abenteuer: Die anvisierte Geburtsklinik fanden Cuauhtémoc und Alma leer und schwer beschädigt vor. Die Patienten waren längst evakuiert worden.
Verzweifelte Suche nach Überlebenden: Helfer durchwühlen die Ruine des «Hospital Juarez». Tatsächlich konnten mindestens 13 Babys aus den Trümmern gerettet werden. (Bild: Keystone/JESUS VILLASECA)
Schliesslich blieb den werdenden Eltern nichts anderes übrig als ins nächstgelegene Spital zu gehen: eine Klinik für Atemwegserkrankungen. «Es war überhaupt nicht für gebärende Mütter eingerichtet», erinnert sich Alma. Aber das Spitalpersonal improvisierte und noch am Tag der Geburt ihrer Tochter konnten Cuauhtémoc und Alma die Klinik verlassen. Sie hatten mehr Glück als viele andere: Mütter, die genau zwei Tage zuvor ihre Kinder zur Welt brachten, wurden vom Erdbeben überrascht. Mehrere Spitäler fielen in sich zusammen, was die humanitäre Katastrophe noch vergrösserte.
Und doch gab es auch Happy Ends: In den Trümmern des Juárez-Spitals hatten drei Babys Glück im Unglück. Relativ spät konnten die Neugeborenen noch heil aus den Trümmern geborgen werden und gingen somit als «Kinder des Wunders» in die Stadtgeschichte ein. Ihnen hat die Dramaturgin Itzel Lara letztes Jahr ein Theaterstück gewidmet – ein Dialog zwischen Erdbebenkindern, die nun erwachsen sind.
Unter dem Druck der Fifa
Der Regierung von Präsident Miguel de la Madrid Hurtado kam die Naturkatastrophe äusserst ungelegen: Die Fussball-WM 1986 stand bevor. Am gleichen Tag noch berief die Fifa in Rio de Janeiro eine Notsitzung ein. Dort wurde festgehalten, dass neun Monate vor der WM der Austragungsort nicht geändert werden könne. Dass eine Tragödie mit einem grossen Sportereignis kollidierte, passierte in Mexiko nicht zum ersten Mal. Schon als im Oktober 1968 Studentenproteste beim «Platz der drei Kulturen» blutig niedergeschlagen wurden, versuchte die PRI-Regierung angesichts der bevorstehenden Olympischen Spiele in Mexiko, die Sache unter dem Deckel zu halten.
Nicht selten nennen manche Intellektuelle das Massaker von Tlatelolco und das Erdbeben in einem Atemzug: Die zwei ganz unterschiedlichen Tragödien blieben als historische Momente in Erinnerung und provozierten auf ihre Weise Kritik an den Autoritäten. So hat, wie das Jahr 1968, auch 1985 deutliche Spuren in der Kultur hinterlassen: Chronisten wie Carlos Monsiváis und Elena Poniatowska sammelten Stimmen aus der Stadt, kritisierten pointiert die Rolle der Regierung und zeigten als Gegenbeispiel das Engagement der Zivilgesellschaft. Auch der international bekannte Schriftsteller Carlos Fuentes erwähnte das Beben in einem seiner Romane. Ferner beschäftigen sich zahlreiche Gedichte, Lieder, Theaterstücke, Filme und sogar ein Kinderbuch sowie eine Graphic Novel mit den Ereignissen von 1985.
Wie in Mexiko der Katastrophe gedacht wird
Heute wird auf verschiedene Arten des Erdbebens gedacht: Geplant sind eine riesige Erdbebenübung in mehreren Landesteilen, zudem Lesungen und Ausstellungen. Das nationale Symphonieorchester wird ein Gedenkkonzert geben. Dazu wurde das eigens dafür komponierte Stück «Magnitud 8.1», welches auf die Stärke des Bebens anspielt, uraufgeführt. Bereits stattgefunden hat beim «Platz der drei Kulturen» ein Requiem – eingeladen wurde kein Geringerer als Plácido Domingo.
Cuauhtémocs Tochter feiert in drei Tagen ihren 30. Geburtstag.
Auch Cuauhtémoc wird wohl wieder zurückdenken. Schliesslich änderte das Beben seinen Werdegang: Statt sich wie eigentlich geplant für ein Studium einzuschreiben, half er noch während über eines Jahres bei den Aufräumarbeiten und dem Wiederaufbau der betroffenen Stadtteile mit. Er blieb somit noch lange im Bau tätig. Seine Tochter, die alles heil überstanden hatte – beinahe ein «Kind des Wunders» und demzufolge fast so alt wie das Erdbeben – feiert in drei Tagen den 30. Geburtstag.