Vier Monate nach dem Massaker in einer Grundschule im US-Staat Connecticut macht sich der US-Senat an die Verschärfung der Waffengesetze – ein schwieriges Unterfangen angesichts des Waffenwahns vieler Amerikaner.
Vertrauen Sie keinem Verkäufer», sagt Justine, der Leiter der Sportabteilung der Einkaufskette Wal-Mart nahe der Kleinstadt Severn im US-Staat Maryland. «Er will Ihnen bloss eine Waffe andrehen.» Der Rat wirkt ein bisschen komisch – doch komisch ist auch die Situation. In der Vitrine vor uns stehen ein Dutzend Gewehre aufgereiht. Auf den offenen Regalen daneben liegen Druckluft- und Paintballpistolen. Die kann man sich einfach greifen und gleich mit zur Kasse am Ausgang nehmen.
Wal-Mart ist die grösste Einkaufskette in den USA. Praktisch in jeder Stadt findet man eine Filiale. Hier bekommt man zu günstigen Preisen alles: Lebensmittel, Kosmetik, Kleider, Haushaltsartikel – und eben auch Waffen jeglicher Art.
«Kaufen Sie das nicht»
Justine sperrt die Vitrine auf und nimmt ein schwarzes Gewehr hervor, Kostenpunkt: 137 Dollar. «Dieses Ding ist ideal, um auf Ziele zu schiessen. Möchten Sie es einmal in der Hand halten?», fragt er. «Nein, kaufen Sie das lieber nicht», unterbricht ihn seine Kollegin Kira, die gerade aus der Mittagspause zurückkommt.
Kira ist im siebten Monat schwanger und gilt im Laden als Spezialistin für Feuerwaffen. «Für das hier brauchen Sie Munition mit Kaliber 22, was praktisch unmöglich zu kriegen ist, nicht nur bei uns. Weil diese Munition so billig ist, ist sie überall ausverkauft», erklärt sie.
Nicht nur Munition ist derzeit Mangelware in den Waffenläden. Seit Präsident Barack Obama eine Verschärfung der Waffengesetze ankündigte, kaufen viele Amerikaner im grossen Stil Gewehre und Pistolen ein – auf Vorrat, bevor die strengeren Regeln in Kraft treten. Halbautomatische Gewehre sind in mehreren Wal-Mart-Läden im Land ausverkauft.
Waffenerwerb wird erschwert
Auch in der Wal-Mart-Filiale bei Severn ist es seit Kurzem nicht mehr ganz so einfach, sich eine Remington Express oder eine Elite Force mit 300-Kugel-Magazin zu kaufen. Der Staat Maryland hat die lokalen Waffengesetze verschärft. Wer eine Waffe kauft, wird künftig strenger kontrolliert, muss seine Fingerabdrücke fürs Polizeiregister abgeben und einen achtstündigen Kurs über den korrekten Umgang mit Waffen absolvieren. «Hintergrundkontrollen» heisst das hier, weil man dem Käufer nicht unbedingt ansieht, ob er Enten jagen will oder ein Schulmassaker plant.
Geht es nach Obama, sollen die Waffengesetze im ganzen Land markant verschärft werden – was laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Gallup 53 Prozent der Amerikaner unterstützen. Einen ersten Erfolg konnte der Präsident letzte Woche verbuchen: Der US-Senat machte den Weg frei für eine Debatte und eine Abstimmung über ein Gesetz zur Verschärfung des Waffenrechts.
Damit beendete die Kongresskammer die Blockade von mehreren republikanischen Senatoren gegen das Gesetz. In den kommenden Tagen sollen Senat und Repräsentantenhaus über den Gesetzesentwurf entscheiden: Dieser sieht neu auch Kontrollen bei Waffenkäufen an Messen oder im Internet vor; bisher gilt das nur für Käufe in lizenzierten Läden. Wenn man aber von einer Privatperson eine Waffe erwirbt, wird das weiterhin unkontrolliert bleiben.
Sturmwaffen-Verbot ohne Chance
Kaum eine Chance habe Obamas Idee eines grundsätzlichen Verbots von Sturmwaffen, sagt Garen Wintemute vom Davis Medical Center in Kalifornien. Der Mediziner forscht seit Jahren über Waffengewalt. «Was nun diskutiert wird, ist eine sehr reduzierte Form von Waffenkontrollen. In den USA haben wir eine lange Tradition, starke Vorschläge zu machen – und sie dann zu verwässern.»
Wintemute selber ist mit Waffen aufgewachsen, er mag das Schiessen und war mal Mitglied des Uni-Waffenklubs. «Ich bin kein Waffengegner, ich bin gegen die Gewalt», sagt der Medizinprofessor.
«Die USA haben viele gute, aber auch bizarre Seiten, der Hang zu Waffen ist eine davon», sagt David Hemenway. Auch der Ökonom der Eliteuniversität Harvard forscht über Waffengewalt und über die Ursachen der Leidenschaft vieler Amerikaner für Pistolen und Gewehre. Waffen seien eines der wenigen Themen, über die sich ein sonst politisch mehr denn je gespaltenes Land einig sei.
Woher kommt der Waffenwahn? Das ungewöhnliche Verhältnis so vieler Amerikaner zu Waffen lässt sich historisch erklären. Die Schusswaffe hatte die Eroberung des Landes überhaupt erst möglich gemacht. Amerikas Ureinwohner wurden mit Waffengewalt zurückgedrängt. In dem sich stetig nach Westen ausdehnenden Streifen Land, in dem die weissen Einwanderer lebten, gab es keinen Rechtsstaat, der das Privateigentum beschützte. Jeder musste selber für Recht und Ordnung sorgen.
Die Waffe ist das Recht
Daraus erwuchs auch das «Second Amendment», der zweite Verfassungszusatz, der jedem Amerikaner erlaubt, Waffen zu tragen. Der Bürger hat nicht nur das Recht, eine Waffe zu besitzen, die Waffe selber ist das Recht. Dabei hatten die Gründerväter wohl nicht im Sinn, was heute Alltag ist: Rund 300 Millionen Waffen sammeln sich in den Haushalten, und das Land weist eine der höchsten Raten von Schusswaffentoten weltweit auf – über 30’000 pro Jahr. Dass sich daran nichts ändert und die Privathaushalte systematisch weiter aufgerüstet werden, dafür sorgt der verlängerte Arm der Waffenindustrie, die politisch einflussreiche National Rifle Association.
Für die meisten Demokraten und Republikaner gehört der Waffenbesitz zu den unhinterfragbaren Persönlichkeitsrechten. Und so sehen es auch viele aufgeklärte Leute aus dem Volk. «Es ist besser eine Waffe zu besitzen und sie nicht zu benutzen, als eine zu brauchen und keine zur Hand zu haben», sagt etwa Dawn Jones, eine Versicherungsanwältin aus Georgia. Das sei das Motto von vielen Leuten in ihrem Land, sagt die 47-jährige Afroamerikanerin und überzeugte Anhängerin von Obama.
Ihre erste Waffe erwarb sie gleichzeitig mit dem Kauf des ersten Eigenheims – aus einem Pfandhaus für 50 Dollar. «Wenn man in einem Appartmentblock lebt, hat man viele Nachbarn um sich. In einem Haus ist man aber allein», begründet Jones den Waffenerwerb. «Alles nur zum Selbstschutz, Gott sei Dank habe ich sie noch nie benützen müssen!»
«Burg-Doktrin» nennt man diese Haltung in den USA, erklärt Wintemute: «Wenn man zu Hause ist, unmittelbar vor einer Gefahr steht und keine andere Möglichkeit hat, dann darf man auch tödliche Mittel anwenden, um sich zu verteidigen.»
Der Waffenverkauf ist ein grosses Geschäft in den USA. Wie kaum in einem anderen Land gelten Pistolen und Gewehre als normales Konsumgut – und dieses wird von der Industrie stark beworben. «Die Vorstellung, Waffen seien gut für die Selbstverteidigung, ist weit verbreitet», erklärt Garen Wintemute. Zwar gehe die Zahl der Amerikaner, die Waffen besitzen, zurück, sagt der Medizinprofessor: «Vor 40 Jahren gab es in fast der Hälfte der amerikanischen Haushalte Waffen; heute sind es etwa 30 Prozent. Was wir aber heute sehen ist, dass Menschen, die bereits Waffen besitzen, noch mehr Waffen kaufen.»
Beliebt sind vor allem Sturmwaffen, die die Industrie vor rund 20 Jahren auf den Markt brachte. Ein Riesengeschäft, denn mit den neuen Waffen lassen sich auch neue Accessoires wie Magazine unterschiedlicher Grössen oder Laser zur Zielsuche unter die Leute bringen.
Es bleibt einfach
«Sie brauchen nur Ihren Führerschein und die Sozialversicherungsnummer, dann können Sie das Hintergrundcheck-Formular ausfüllen», erklärt uns Verkäufer Justine im Wal-Mart bei Severn. «Nach ein paar Tagen werden Sie von uns benachrichtigt und können dann die Waffe abholen.»
Für sehr viel mehr Sicherheit sorgen diese neuen Waffenbestimmungen in Maryland aber nicht. Wie leicht es etwa nach wie vor für Minderjährige ist, an Waffen zu kommen, zeigt uns das Beispiel des hochgewachsenen Mannes um die 50, der gerade neben uns am Tresen steht: Er nimmt einen Kugelschreiber und füllt das Formular aus. «Mein Sohn ist noch nicht volljährig», sagt er freundlich lächelnd, «ich kaufe ihm das Gewehr – damit er lernen kann, auf Ziele zu schiessen.»
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 19.04.13