Warum die Schweiz ihr EU-Beitrittsgesuch nicht zurückziehen sollte

Das alte Beitrittsgesuch behindere die bilateralen Verhandlungen, behaupten EU-Gegner. Ein Rückzug des Gesuchs würde allerdings nur die rechtsnationale Abschottungshaltung in der Schweiz stärken.

Das alte Lied: Die Welt verändert sich, aber die Schweiz bleibt gleich.

(Bild: Peter Klaunzer/Keystone)

Das alte Beitrittsgesuch behindere die bilateralen Verhandlungen, behaupten EU-Gegner. Ein Rückzug des Gesuchs würde allerdings nur die rechtsnationale Abschottungshaltung in der Schweiz stärken.

Eine wichtige Abstimmung konnte am 10. Juni nicht stattfinden, weil das traditionelle Sommerreisli der Fraktionen Priorität hatte. Jetzt kommt das Geschäft frühestens in der Herbst-Session wieder auf den Tisch. Bei dieser besonderen Abstimmung wäre es um die Frage gegangen, ob der Bundesrat endlich das Gesuch zurückziehen soll, das er am 20. Mai 1992 nach Brüssel abgeschickt hatte. SVP-Nationalrat und Auns-Präsident Lukas Reimann verlangt einen solchen Rückzug mit einer bereits im März 2014 eingereichten Motion.

Noch heute – und heute mehr denn je – wird im Gesuch um die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen ein hochgradiger Politfehler gesehen, weil es die Chancen für ein EWR-Ja stark reduziert habe. Die Gegner jeglicher institutionellen Annäherung hätten diesen Fehler zwar begrüssen müssen und taten dies insgeheim vielleicht auch, weil dieser Schritt mitverantwortlich dafür war, dass am 6. Dezember 1992 der EWR-Vertrag abgelehnt wurde.

Das Gesuch um Beitrittsverhandlungen war nicht so tollkühn, wie das aus der Distanz von ein paar Jahren den Nichtinformierten erscheinen mag.

Dieses im Bundesrat mit knapper 4:3-Mehrheit zustande gekommene und von alt Bundesrat Arnold Koller als «überstürzt» bezeichnete Gesuch um Beitrittsverhandlungen war indessen nicht so tollkühn oder gar «hirnverbrannt», wie das aus der Distanz von ein paar Jahren den Nichtinformierten erscheinen mag.

Andere Länder (Österreich, Schweden, Finnland) hatten schon vor jenem 20. Mai solche Verhandlungsgesuche eingereicht. Wollte die Schweiz beim anlaufenden Verhandlungsprozess als Vollmitglied mitreden und ihre nationalen Interessen bei den Revisionsverhandlungen der bestehenden EG-Verträge einbringen können, musste ein solches Gesuch vor dem Juni 1992 eingereicht werden.

Jakob Kellenberger, der ehemalige Chefunterhändler der später ausgehandelten Bilateralen I, sah im EWR-Abkommen, weil es eine Beteiligung ohne Mitwirkung vorsah, ebenfalls bloss einen Zwischenschritt. Es war klar, dass im Abstimmungskampf zum EWR die dahinter liegende Vollmitgliedschafts-Variante in jedem Fall ein Thema gewesen wäre, und darum sei es richtiger – auch ehrlicher – gewesen, offen dazu zu stehen.

«Die Welt verändert sich»

Wie man weiss, wurde die Einstufung des EWR als Zwischenschritt und «Trainingslager» (Adolf Ogi) als verhängnisvoll für den Ausgang der EWR-Abstimmung eingeschätzt. Allerdings gab es auf dem unglücklichen Weg zum 6. Dezember mehrere und grössere Fehler als gerade diesen.

Der EU-Beitritt war in dieser Zeit eine sowohl von der CVP als auch von der FDP verfolgte Zielsetzung: Bei der CVP gab es dazu sogar einen Parteitagsbeschluss, und die FDP ging mit der Vision «Unsere Schweiz 1999–2003» davon aus, dass die Schweiz bis zum Jahr 2007 EU-Mitglied sein werde. Noch nach Annahme der Bilateralen I vom Mai 2000 sprach sich eine starke Mehrheit (15:8) der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrats für eine Reaktivierung des Beitrittsgesuchs vor Ablauf der Legislaturperiode im Jahr 2003 aus.

Da es dabei um eine Grundsatzfrage ging und nicht bloss um eine momentane Befindlichkeit, muss man sich fragen, warum jetzt etwas total daneben sein soll, was einmal breit akzeptierte Zielsetzung war. Und dahinter wartet jetzt die Frage, ob die momentan vorherrschende Meinung definitiv sei oder ob sie gelegentlich wieder einer anderen Beurteilung Platz machen wird. «Die Welt verändert sich», ruft Reimann den «ewiggestrigen EU-Turbos» zu. Diese verändert sich möglicherweise auch wieder einmal in die entgegengesetzte Richtung, könnte man dem fundamentalistischen EU-Gegner erwidern.

Selbst die Baselbieter CVP-Nationalrätin Elisabeth Schneider-Schneiter wird als Befürworterin eines Rückzugs zitiert.

Seit ihrem Sieg von 1992 sind die rechtsnationalen Kräfte es nicht müde geworden, den Rückzug des Gesuchs zu verlangen. Bundesrat und Mehrheit des Nationalrats waren aber standhaft geblieben und hatten die Vorstösse mit dem Argument abgewehrt, dass das Gesuch ja gegenstandslos sei und darum auch nicht in aller Form zurückgezogen werden müsse. Schon im Dezember 2013 hatte der Bundesrat in einer Antwort auf eine andere SVP-Motion zu beruhigen versucht, er werde in Brüssel ausdrücklich erklären, dass die Schweiz der EU nicht beitreten wolle und das 1992er-Gesuch wirklich für gegenstandslos betrachte.

Die Reimann-Motion will der Bundesrat wiederum nicht annehmen. Ob er dabei vom Parlament unterstützt wird, ist jedoch fraglich. Glaubt man gewissen Pressemeldungen, ist von der alten Standhaftigkeit neuerdings nicht mehr viel übrig und die schwächelnde bürgerliche Mitte bereit, dem rechtsnationalen Drängen nachzugeben. Selbst die Baselbieter CVP-Nationalrätin Elisabeth Schneider-Schneiter wird als Befürworterin eines Rückzugs zitiert, den sie aber nicht so verstanden haben will, dass die Schweiz nicht mehr mit der EU zusammenarbeiten soll.

Ruf nach Schweiz ohne EU

Die Exponenten der bürgerlichen Mitte rechtfertigen ihre Zustimmung damit, dass der Rückzieher aussenpolitisch wenig relevant sei, aber innenpolitisch der SVP endlich ein Dauer-Wahlkampfthema entreisse. Der erste Punkt trifft zu, der EU ist diese Minikorrektur sicher egal, sie hat andere, gewichtigere Probleme zu lösen.

Der zweite Punkt dagegen geht überhaupt nicht auf. Die bürgerliche Mitte spielt mit ihrer Nachgiebigkeit dem Auns-Präsidenten in die Hände, die er sich, um im Bild zu bleiben, dann zu Recht triumphierend reiben kann. Der Effekt: Die Kräfte, die zur EU auf grösstmögliche Distanz gehen wollen, werden nicht etwa besänftigt, sie werden im Gegenteil ermuntert, den Ruf nach einer Schweiz ohne EU weiter zu akzentuieren. In der Reimann-Motion findet sich der vielsagende Satz: «Als Schweiz haben wir die Möglichkeit, zu zeigen, dass es ohne EU besser geht und dass es Alternativen gibt.»

Lukas Reimann geht davon aus, dass das schubladisierte Gesuch die Verhandlungen, die mit dem Ja zur Masseneinwanderungs-Initiative nötig geworden sind, erschwere, weil die EU wegen des noch immer nicht zurückgezogenen Gesuchs in der Schweiz keine unabhängige und selbstständige Nation erblicke, sondern weiterhin eine Beitrittskandidatin.

Wer die Auns-Motion unterstützt, ist sich nicht bewusst, wie sehr die Bilateralen nur wegen des EU-Beitrittsgesuchs möglich waren.

Dem muss man entgegenhalten, dass die schwierigen Verhandlungen, die uns die SVP eingebrockt hat, sicher nicht durch das alte Papier beeinflusst werden oder, sollte die alte Beitrittsperspektive im Hintergrund doch noch eine Rolle spielen, diese sich für die Schweiz höchstens günstig auswirken würde. Diejenigen, die vom Königsweg der Bilateralen schwärmen, zugleich jetzt aber die Motion des SVPler unterstützen wollen, sind sich nicht bewusst, wie sehr diese Bilateralen nur wegen des Gesuchs vom 20. Mai möglich waren. Die EU hat dem ausserordentlichen bilateralen Weg bloss als Zwischenkonzession gegenüber einem vorläufigen Noch-Nichtmitglied zugestimmt.

Die bürgerliche Mitte meint, mit dieser Konzession Ballast abwerfen und damit leichter für die Erhaltung der Bilateralen kämpfen zu können. Die Konzession würde aber, was erstaunlicherweise überhaupt keine Rolle spielt, gegenüber EU-Fundamentalgegnern gemacht, die sich jetzt bestärkt fühlen und die aus ihrem Erfolg Kapital schlagen können. Reimann & Co. geht es jedenfalls nicht darum, gute Voraussetzungen für deren Erhalt zu schaffen – im Gegenteil.

Fortsetzung des «Königswegs»

Heute müsste es eigentlich um zwei Ziele gehen: Erstens um die Verteidigung der Resultate dieses ausserordentlichen Entgegenkommens und zweitens um eine Fortsetzung des angeblichen «Königswegs», die darin besteht, dass ein institutionelles Rahmenabkommen für alle bisherigen Bilateralen und im Moment mindestens ein zusätzliches Abkommen im Elektrizitätsbereich zustande kommt. Und genau das wird von der Seite entschieden bekämpft, der man jetzt entgegenkommen will. Zugeständnisse von der EU erwarten und im eigenen Land rabiaten EU-Gegnern entgegenkommen, das kann nicht aufgehen.

Als der «Blick» über die inzwischen zurückgestellte Motion Reimann berichtete, löste dies eine Flut von Reaktionen aus der Leserschaft aus: Gegen 2000 Leser unterstützten mit Daumen nach oben den geforderten Rückzug, nur 55 mit Daumen nach unten waren damit nicht einverstanden. Ein Leser reagierte mit einem Argument aus der Zeit des Kalten Kriegs, als Andersdenkenden der Weg nach «Moskau» gewiesen wurde: Er forderte diejenigen, die gegenüber der EU eine kooperationsfreundliche Haltung einnehmen, sollen gefälligst in eines der EU-Länder auswandern.

Solche Stimmen übersehen, dass es auch denjenigen, die gegen die rechtsnationale Abschottungshaltung sind, um die Interessen der Schweiz geht.

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