Italien ist das erdbebenreichste Land Europas. Doch trotz Milliardeninvestitionen ist eine Mehrheit der Gebäude noch immer nicht erdbebensicher. In Amatrice wurde das angebliche erdbebensichere Schulhaus zerstört.
Matteo Renzi gab sich am Tag der Katastrophe ebenso staatsmännisch wie mitfühlend. «Jetzt müssen die Tränen trocknen», sagte der italienische Ministerpräsident nach seinem Besuch im Erdbebengebiet, «dann geht es an den Wiederaufbau.»
Noch immer sind nicht alle Opfer und Vermissten nach dem schweren Erdbeben in Mittelitalien vom Mittwoch mit mindestens 250 Toten gefunden. Und doch ist in der italienischen Politik bereits von der Rekonstruktion die Rede. Die italienische Regierung hat signalisiert, die Überlebenden in den vom Beben zerstörten Dörfern wie Amatrice, Accumoli oder Arquata del Tronto nicht im Stich zu lassen.
Keine Präventionskultur
In Italien wurden seit dem Jahr 1986 insgesamt 180 Milliarden Euro für den Wiederaufbau nach Erdbeben investiert, hat der italienische Verband der Bauunternehmer errechnet. 13,7 Milliarden Euro wurden alleine für die Rekonstruktion nach dem Erdbeben 2009 in den Abruzzen bereitgestellt.
Alle paar Jahre wird das Land von einem schweren Erdbeben heimgesucht, zuletzt 2012 in der Emilia-Romagna. Immer wieder fielen hunderte Menschen den Naturkatastrophen zum Opfer. Der Wiederaufbau ist zweifellos notwendig, aber Geologen, Seismologen und Angehörige des italienischen Zivilschutzes beklagen vor allem den Mangel an Erdbeben-Prävention in Italien. «Immer unvorbereitet», titelte die Mailänder Zeitung «Libero» am Donnerstag auf der Frontseite.
«In Italien haben wir trotz allem keine Präventionskultur», sagt Francesco Peduto, Vorsitzender des italienischen Geologen-Rates. 24 Millionen der knapp 60 Millionen Italiener leben laut Peduto in Gegenden mit erhöhtem Erdbeben-Risiko, die betroffenen Gegenden reichen vom Friaul über den Apennin bis nach Kalabrien und Sizilien. «Wir geben uns damit zufrieden, den Notstand zu verwalten», kritisiert der Erdbebenforscher Massimo Cocco des italienischen Instituts für Geophysik und Vulkanologie (INGV).
«Zwischen 20 und 50 Prozent der Todesfälle haben ihre Ursache in Fehlverhalten der Personen während eines seismischen Ereignisses.»
Enzo Boschi, Seismologe und ehemaliger Präsident des INGV behauptet: «In Italien wird nur nach Erdbeben verantwortungsvoll gebaut.» So etwa in der umbrischen Stadt Norcia, die bereits 1979 und 1997 von Erdbeben betroffen war. Nach entsprechenden Baumassnahmen gab es beim jetzigen Beben weder Tote noch Verletzte und kaum Schäden, obwohl das Epizentrum in unmittelbarer Nähe lag.
Unisono fordern die Experten nun einen mehrfachen Wandel. Zum Einen bedürfe es einer neuen «Kultur der Prävention». Die oft ahnungslose Bevölkerung in den entsprechenden Gebieten müsse für die Risiken sensibilisiert werden und eine Anleitung für richtiges Verhalten im Fall von Erdbeben bekommen, das sei bisher nicht der Fall. Bereits in der Schule müssten Kurse gegeben werden. «Zwischen 20 und 50 Prozent der Todesfälle haben ihre Ursache in Fehlverhalten der Personen während eines seismischen Ereignisses», sagt Peduto.
Andererseits monieren die Experten die mangelnde Sicherung der Gebäude gegen Erdbeben. Deren Einsturz verursacht die meisten Todesfälle. Obwohl Italien das am meisten von Erdbeben betroffene Land in Europa ist, seien 70 Prozent aller Immobilien nicht erdbebensicher. Grund dafür ist auch die alte Bausubstanz, wie in den teilweise mittelalterlichen Dörfern Amatrice oder Accumoli.
Erdbebensichere Gebiete gibt es seit 2004 in Italien offiziell nicht mehr.
Steuerbegünstigungen für erdbebensichere Renovierungen privater Gebäude erwiesen sich bislang als Flop, Eigentümer haben oft weder Mittel noch Interesse an aufwändigen Umbauten. Gegen die Kategorisierung privater Gebäude wehrten sich Italiens Immobilieneigentümer bislang erfolgreich. Die Etikettierung eines Hauses als unsicher hätte entweder eine Entwertung oder aufwändige Umbaumassnahmen zur Folge.
«Die Regierung müsste wenigstens Krankenhäuser und Schulen sichern lassen», sagt Seismologe Massimo Cocco. Geologe Peduto fordert gar einen «nationalen Plan» zur Sicherung der Gebäude.
Erst als im Herbst 2002 in der Region Molise 27 Kinder und eine Lehrerin nach einem Erdstoss in ihrer Schule erdrückt wurden, begann die Regierung mit der Unterteilung des Landes in verschiedene Gefahrenzonen. Erdbebensichere Gebiete gibt es demnach seit 2004 in Italien offiziell nicht mehr. Konsequenzen aus der Erfassung der besonders sensiblen oder strategisch wichtigen Gebäude wurden aber nur ungenügend gezogen. Immer noch sind etwa zahlreiche Schulen nicht erdbebensicher.
So stürzte beim jetzigen Beben in Mittelitalien auch das Schulgebäude von Amatrice ein, in dem sich Kindergarten, Grund-, und Mittelschule befanden, obwohl es 2012 angeblich erdbebensicher renoviert worden war. Da sich das Beben nachts um 3.36 Uhr ereignete, war das Gebäude glücklicherweise leer. Auch das Rathaus von Amatrice fiel in sich zusammen, das Krankenhaus wurde evakuiert und ist unbegehbar.
Die Staatsanwaltschaft aus der nahegelegenen Provinzhauptstadt Rieti ermittelt. Oberstaatsanwalt Giuseppe Saieva sagte nach Angaben der Zeitung La Stampa: «Es geht zunächst darum, die Leichen zu identifizieren und die Todesursachen festzustellen.»
Dem Erdboden gleichmachen und wieder aufbauen
Insbesondere richtete sich das Augenmerk der Ermittler auf den Einsturz der Grundschule in Amatrice, die 2012 erdbebensicher renoviert werden sollte, beim Erdstoss von Mittwochnacht aber in sich zusammen stürzte. Ob es dabei Opfer oder Verletzte gab, ist bislang nicht klar. Untersucht wird auch der Einsturz eines alten, aber offenbar mehrfach restaurierten Kirchturms im Ort Accumoli, bei dem eine vierköpfige Familie, darunter zwei Kinder, ums Leben kam. Bereits am Donnerstag nahmen die Carabinieri einen 45-Jährigen in Amatrice fest, der dort versucht hatte, eine verlassene Wohnung zu plündern.
Im Hinblick auf den Wiederaufbau sagte Premierminister Renzi, die Regierung wolle keine «New Towns» wie noch nach dem Erdbeben 2009 in L’Aquila errichten lassen, also neue Retortenstädte am Rande der zerstörten Gebiete. Die lokalen Behörden sollten in die Entscheidungen miteinbezogen werden. «Wir wollen hier nicht weg», sagte der Bürgermeister der zerstörten Ortschaft Arquata del Tronto nach Angaben der Zeitung La Stampa. Die Häuser müssten exakt wieder so aufgebaut werden, wie sie waren.
Sergio Pirozzi, Bürgermeister von Amatrice, forderte, der grösstenteils zerstörte mittelalterliche Ort müsse angesichts der Schäden «vollständig dem Erdboden gleichgemacht und anschliessend neu aufgebaut» werden. Wegen seines historischen und kulturellen Erbes war Amatrice Mitglied im Verein der «schönsten Ortschaften Italiens», in dem sich 257 italienische Kleinstädte und Dörfer zusammen geschlossen haben. Laut Kulturminister Dario Franceschini wurden bei dem Erdbeben 293 historische Gebäude beschädigt.