Was Basel von Berlin bei der Zwischennutzung von Brachen lernen kann

Das Tempelhofer Feld in Berlin ist ein gelungenes Beispiel dafür, wie auf einer Brache Freiraum entstehen kann: Wenn man sie nicht den Stadtplanern zur Entwicklung überlässt. Dazu muss sich die Bevölkerung aber wehren, so wie es in der deutschen Hauptstadt – mit Erfolg – geschah.

(Bild: Claudius Prößer)

Das Tempelhofer Feld in Berlin ist ein gelungenes Beispiel dafür, wie auf einer Brache Freiraum entstehen kann: Wenn man sie nicht den Stadtplanern zur Entwicklung überlässt. Dazu muss sich die Bevölkerung aber wehren, so wie es in der deutschen Hauptstadt – mit Erfolg – geschah.

Ein älteres Paar sitzt, ziemlich entspannt lächelnd, wie man sehen kann, in einem tretbootähnlichen Gebilde und befördert das mit vier Pneurädern ausgestattete Gefährt über die Nordpiste des ehemaligen Zentralflughafens Tempelhof. Als ob das Paar seinen Sonntagsausflug in einem Tretboot über einen See im Bois de Vincennes in Paris oder in einem Londoner Park unternehmen würde. Es rollt über unendlich breiten und kilometerlangen Asphalt, der bis vor einigen Jahren als Lande- oder als Abflugpiste der US-Militär- und der zivilen Luftfahrt gedient hat: das Tempelhofer Feld mitten in Berlin. Nachdem der Flugbetrieb eingestellt worden ist, öffnete «man» die Einzäunungen für «die Bevölkerung».

I
Der Öffnung des Areals ging eine Volksabstimmung voraus: Vor allem Westberliner Nostalgie, versammelt in der West-CDU, wollte den Flugbetrieb in Tempelhof unbedingt aufrechterhalten. Dem damaligen regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit warf man vor, Westberlin und seine Geschichte zu verraten, wenn der Flugbetrieb eingestellt werde. Derweil der Grund für die Schliessung ein Staatsvertrag war, den der Wowereitvorgänger Diepgen, CDU, mit dem Bundesland Brandenburg und dem Bund abgeschlossen hatte, um den nun seit Jahren im Gerede des Nichtvollendeten stehenden Flughafen «Willy Brandt» südlich von Berlin, aber in Stadtnähe, bauen zu können. Die «Westberlinnostalgiker» verloren das von ihnen angestrengte Volksbegehren, mit welchem sie den Flugbetrieb aufrecht erhalten wollten. Beispielsweise, wie sie behaupteten, für die Ansiedlung eines US-Medizinkonzerns, der dann Patienten aus aller Welt nach Berlin eingeflogen hätte, oder für Lufttaxis, die sicher im Kommen wären, wenn das Landeangebot mitten in der Stadt vorhanden sei. Sie verloren die Abstimmung haushoch.

In der Folge wurde also das Flugfeld zum Tempelhofer Feld. Der Riesenbau aus der Nazizeit, eines der grössten Gebäude Europas mit einer 1,2 km langen geschlossenen, in einer halbrund geformten Fassadenfront, welche Flugzeughangars, Bürofluchten, Empfangshallen, Werkstattkeller und allerhand Terrassen in ein einheitliches Bauwerk versammelt, wurde für Modemessen, für Riesenkonferenzen, für Events aller Art hergerichtet. Einen Teil der Gebäude nimmt die Berliner Polizeidirektion in Anspruch.

Die Bürger wollten das Feld nicht für teure Gartenbaueskapaden hergeben, wenn es doch «ungestaltet» Dutzende, ja Hunderte von Lebensbedürfnissen befriedigen kann.

Das Feld selber sollte mit «Randüberbauungen» der baulichen Stadterweiterung dienen, teilweise, wie die Stadtpolitik im Abgeordnetenhaus diskutierte und in ihren institutionalisierten Gremien mehrheitlich beschloss, mit günstigem Mietangebot, teilweise mit freier, das heisst luxuriöser Wohnbebauung. Ursprünglich plante die Stadtverwaltung, eine internationale Gartenbauausstellung auf dem Tempelhofer Feld aufzubauen. Die Planungsskizzen sahen – natürlich – Seen, Blumenparks, kleine Wälder, Spazierwege, die eine oder andere Grillstation, auch, selbstredend, kommerzielle Restauration in Fülle und so weiter vor. Die Struktur des Geländes mitsamt den beiden Start- und Lande-Pisten, der Rundpiste, des Flughafenvorfelds vor dem Riesenbauwerk wäre «gestaltet» worden. Was immer dann an Form und Garten-Stil geblieben wäre, es wäre für immer nicht mehr das Tempelhofer Feld gewesen. Die Stadtpolitik sah bald ein, dass eine solche, auch zeitlich fixierte, Gestaltung weder finanziert noch den Bürgerinnen und Bürgern der Stadt näher gebracht werden könnte. Schliesslich sind diese Bürgerinnen und Bürger in Berlin inzwischen geübte «direkte Demokraten». Es war längst klar geworden, dass sie das Feld nicht für teure Gartenbaueskapaden hergeben würden, wenn es, wie zunehmend erlebt, doch «ungestaltet» Dutzende, ja Hunderte von Lebensbedürfnissen alltäglich befriedigen kann.

Nun wird im Osten der Stadt, in Marzahn, eine internationale Gartenbauausstellung vorbereitet. Es blieb die «Randbebauung». Die Planung sah vor, den westlichen und teilweise den südlichen Rand des Feldes mit einem Stadtteil mit rund 1700 Wohnungen zu bebauen. Die Planung hiess wie meistens in solchen Fällen «Masterplan».

Eine Bürgerbewegung sammelte genügend gültige Unterschriften für ihr Volksbegehren «100% Tempelhofer Feld». Das Begehren musste zur Abstimmung gebracht werden. Der Senat und die Mehrheit des Abgeordnetenhauses (SPD und CDU) beschlossen, gleichzeitig einen Gegenvorschlag, in dem die Randbebauung enthalten war, zur Abstimmung zu bringen.

Abstimmungsvideo der Initiative «Rettet das Feld».

Am 25. Mai 2014 nahmen 46 % der Berechtigten an der Abstimmung teil. Das Bürgerbegehren erhielt eine Zustimmung von über 64 %, der Gegenvorschlag erzielte knapp 40 % Zustimmung, dagegen stimmten über 59 %.

Nun bleibt also das Tempelhofer Feld – vorderhand – , was es ist: Ein nur sehr mässig «offiziell» gestaltetes riesiges Landstück mitten in der Metropole Berlin.

II
Die Geschichte dieses Landstücks versinnbildlicht den Wandel der Zeitläufte. Einst, bis in den Ersten Weltkrieg hinein, vor allem ein Exerzierfeld der preussischen Armee, dann der kaiserlichen Generalitäten, deren technische Neugier sich im Verlauf des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts auf Luftfahrzeuge, namentlich auf lenkbare Ballons richtete. Das Tempelhofer Feld wurde für Luftfahrtexperimente benutzt, die Zivilbevölkerung durfte hie und da zuschauen und konnte so spektakuläre Unfälle miterleben.

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde wegen der Versailler Verträge (Verkleinerung der Deutschen Wehrmacht) das Exerzierfeld auf dem Tempelhof unnötig. Der damalige Berliner Stadtbaurat Leonhard Adler setzte durch, dass das Feld als Areal für einen stadtnahen Zentralflughafen der entstehenden Zivilluftfahrt ausgebaut wurde.

1923 wurde mit Linienflügen Berlin-Königsberg der Flughafenbetrieb in Tempelhof aufgenommen. Gemessen am Passagieraufkommen war Tempelhof bereits 1930 der grösste Flughafen Europas. Die Gebäude und die Pistenanlage in ihrer heutigen Form wurden zwischen 1936 und 1941 gebaut. Ein Nazibau, in seinen Einzelteilen monumental, aber wegen der schieren Gebäudelänge nicht wirklich «mächtig» wirkend.

Die Geschichte des Gebietes während und nach der Nazidiktatur ist auf diesen Seiten knapp und präzise dargestellt. 

III
Das weite Feld lädt zu zahlreichen Benutzungen ein. An einem frühsommerlichen Sonntagnachmittag kann man in einem von wildem Pflanzenwuchs beherrschten Feld – vor Jahren asphaltierter Boden, den sich das Gras und Haselnussbüsche wieder zu ihrer Wachstumszone zurückgeholt haben – eine Gruppe älterer Leute beobachten, welche offensichtlich das Licht und den Wind anbeten, Kelten seien sie, eine Vorbeterin schreit «Hucke Licht, Hucke Wind, Hucke immerdar» oder so ähnlich. 100 Meter weiter liegen Liebespaare im hohen Gras. Mehrere weite Felder, gemäht, stehen als Grillorte zur Verfügung. Es raucht und Grossfamilien, Wohngemeinschaften und Jugendgruppen braten, essen, tanzen, Kinder rennen umher. Auf den beiden Lande- und Startpisten fahren Radler um die Wette, lassen sich Windsurfer auf selbstgebauten Landsurfgeräten oder auf Skaterausrüstungen in grosse Geschwindigkeiten hineinziehen, Drachen flattern überall auf dem Gelände. Zehntausende Menschen sind unterwegs und man spürt trotzdem eine Weite, ist zwar nicht allein, aber man kann sich zurückziehen, ins Gras legen, den unglaublich präsenten Vogelstimmen zuhören, das Basketballturnier migrantischer und berlinerischer Jungs beobachten und sich in das Jetzt und das Nichts fallen lassen.
Einige Hinweistafeln erklären die Geschichte des Feldes, weisen auf die Pioniere der Luftfahrt genauso hin wie auf die Verbrechen der Nazizeit, welche auf diesem Feld in Form von Zwangsarbeit und einem KZ jahrelang betrieben wurden.

Es ist ein Nebeneinander, welches das Miteinander nicht ausschliesst, aber auch nicht notwendig werden lässt.

Ein Feld des urbanen Experiments. Ein Experiment deshalb, weil es keine organisierte, keine «geordnete» Aufsicht, keinerlei «Muss» gibt. Angebote kommen von vielen NGOs, sozialen, ökologischen, bildungsorientierten. Plötzlich steht man vor einem Schulgarten. Anderswo zeigen Imker, was sie mit Bienenvölkern veranstalten. Einige frei zugängliche Gemüsegärten, keine Zäune darum herum, zeigen, was man pflanzen kann, was wächst. Im Süden des Areals ist eine grössere Wiese unter Naturschutz gestellt. Hier nisten die zahlreichen Vögel – man hört tatsächlich den wunderbaren Ruf der Nachtigall.

Und: überall «Freiwillige», auch in den drei oder vier rot bemalten Informationsrundbauten.

Die Feldbesucher sind die Menschen, welche in Berlin leben. Kopftuchtragende Frauen sitzen neben Bikinifrauen und unterhalten sich in lautem Türkisch. Ältere deutsche Sportsmänner zeigen ihre glattrasierten und braun eingefärbten Waden, indem sie auf Rennrädern über die Pisten rasen, und tun so, als wären sie auf der Tour de France unterwegs. Natürlich nimmt man immer wieder den Geruch von Marihuana wahr, auch von allerhand Tabaksorten, was sich mit dem Duft von Gegrilltem und von Sonnenöl vermischt.
Das Feld generiert sich in seiner Unorganisiertheit als ein wahres Durcheinandertal. Es ist ein Nebeneinander, welches das Miteinander nicht ausschliesst, aber auch nicht notwendig werden lässt. Nachrichten über kriminelles Tun auf dem Feld existieren nicht. Und: Kaum Kommerz. Nahe den Eingängen kann man sich mit Getränken eindecken, kann ein Rad oder ein batteriebetriebenes Fortbewegungsgefährt mieten, mehr nicht.

IV
Eine Lehre lässt sich aus den Jahren, in denen das Tempelhofer Feld sein unorganisiertes Alltagsleben nun fortgesetzt hat, von zwei in direkter Demokratie zur Abstimmung erzwungenen Beschlüssen der Bürgerinnen und Bürger von ganz Berlin, ziehen:
Urbanität heisst nicht, dass jeder Pflasterstein nummeriert sein muss.

Urbanität heisst nicht, dass jede «Zwischennutzung» von irgendwelchen Behörden «bewilligt» werden muss.

Urbanität heisst nicht, dass jede «Zwischennutzung» von irgendwelchen mehr oder weniger (nicht) zuständigen Behörden «bewilligt» werden muss.
Urbanität auf innerstädtischen Brachen bedeutet, dass «man» nicht für jeden Quadratmeter städtischen Bodens detailversessene Stadtplaner braucht, die behaupten, den Bedürfnissen der Allgemeinheit am besten dadurch zu entsprechen, indem man sofort baut, sofort Lücken schliesst, Zwischennutzungen mit enggefassten Verträgen gängelt.
Das Tempelhofer Feld zeigt täglich, wie viel Phantasie Menschen entwickeln können, um sich gut zu erholen, um Freude am kleinen Stadtleben empfinden zu können, um sich, schlicht, zu treffen.

«Man» – damit meine ich: Behörden, Politikerinnen und Politiker, auch so genannt «gutmeinende» oder gar «fortschrittliche» – «man» muss lernen, bürgerliche Freiheit endlich wieder im Sinn des Citoyen zu verstehen: Experimente sind frei! 


Happy! Die Tempelhofer Feld Edition.

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