A
Ich habe im Verlauf des Referendumstages in meiner Wohnstadt Barcelona am 1. Oktober 2017 den ganzen Tag über Notizen geschrieben, die ich hier, in ihrer spontan entstandenen Wahrnehmungsfolge belassen, zusammenfasse.
10.30 Uhr
Geweckt wurde ich heute um sechs Uhr in der Früh durch den Lärm eines Polizeihubschraubers, der eine ganze Stunde über unseren Stadtteil Poblenou kreiste. Nun nimmt dieser Tag seinen Lauf.
Es ist der Tag der Guardia Civil, der nationalen militärisch organisierten Polizei. Sie repräsentiert nun in Katalonien mit ihren quasi gesichtslosen Uniformauftritten, hinter ihren Schilden, bewaffnet mit gut sichtbaren Schlagstöcken und Gewehren, wohl Gummischrot-Gewehren (so höre ich es einen der TV-Journalisten sagen), den spanischen Staat. Die «Agenten», wie sie hier genannt werden, greifen nach Menschen, auch betagten, schleifen sie über Strassenkanten. Die TV-Sender sind dabei und zeigen das für viele bisher hier Unvorstellbare live.
Ein Freund, der nicht vorhatte zur Abstimmung zu gehen, macht sich nun doch auf den Weg.
Lange nicht alle Einwohner von Katalonien wollen eine Loslösung der Region von Spanien, das ist und war immer klar. Viele in meiner Umgebung – die Telefonanrufe wollen nicht enden – sind aber entsetzt, wie gegen jene, die abstimmen wollen, vorgegangen wird. J. sagt, er habe nicht vorgehabt, zur Abstimmung zu gehen. Nun mache er sich aber auf den Weg.
Natürlich werden Urnen beschlagnahmt. Die gesamte digitale Datenverarbeitung der Generalitat von Katalonien ist gestört, auch dafür hat die Guardia Civil gesorgt.
Man stelle sich vor, wie sich ein solcher polizeistaatlicher Auftritt auf Hunderttausende, die bloss abstimmen wollten, auswirkt. Ein Staat, der sich mit solch unbeherrscht vorgetragenen Gewaltexzessen gegen einen grossen Teil seiner Bürgerinnen und Bürger manifestiert, sei «demokratisch», weil das, was diese Bürgerinnen und Bürger wollen, «illegal» sei?
Wie gesagt: Sehr viele Menschen hier sind gegen eine Loslösung von Spanien. Aber: Viele unter diesen Gegnern einer Loslösung wollen ganz sicher auch keinen von Madrid aus gesteuerten Polizeistaat. Und genau dieses Rajoy-Unternehmen, da kann man sicher sein, wird dem spanischen Staat um die Ohren fliegen.
Es wäre im Übrigen an der Zeit, wenn die EU-Gremien Spaniens Regierung daran erinnern würden, dass ein EU-Mitglied der Rechtsstaatlichkeit verpflichtet ist. Dazu gehört auch das Recht auf freie Meinungsäusserung. Und genau dieses Recht wird zurzeit in Katalonien polizeilich ausser Kraft gesetzt, für Hunderttausende.
12.30 Uhr
Ich schreibe einen kurzen Zwischenbericht vom Referendumstag in Barcelona: Sehr viele Menschen beteiligen sich am Referendum. Die Bürgermeisterin von Barcelona meldet sich zu Wort. Ada Colau ist gegen eine völlige Loslösung Kataloniens von Spanien und steht diesbezüglich in Übereinstimmung mit der gesamtspanischen Podemos: Ein Referendum muss gerade auch deshalb möglich sein, um Klarheit zu schaffen und um die Alternative einer erweiterten Autonomie endlich auf den Weg zu bringen (was von Rajoy seit Jahr und Tag total verhindert wird).
Nun nimmt die Bürgermeisterin Stellung, im Rathaus und per Tweet: «Ein feiger Regierungspräsident hat unsere Stadt mit Polizei überschwemmt. Barcelona, eine Stadt des Friedens, hat keine Angst.» (mehr dazu bei «Spiegel online»)
15.30 Uhr
Es ist offensichtlich: Die Guardia Civil (zivile Garde!) widerspricht ihrem Namen durch ihre Taten. Und genau das macht einen wesentlichen Teil ihrer Geschichte aus, nämlich jener als Francos innenpolitische Unterdrückertruppe. Oder man erinnert sich an das Verhalten gewisser Einheiten der Guardia Civil in den baskischen Problemjahren. Nun benimmt sie sich als Werkzeug einer Regierung, die seit 2011 alles getan hat, um die Autonomie Kataloniens abzubauen, zu verhindern, ins Nichts zu führen.
18.45 Uhr
Kurz nach 18 Uhr, Carrer Casp, nicht weit von der Placa Catalunya. Anwohner bewachen ihr Wahllokal und andere geben ihren Wahlzettel ab. Keine Kampfstimmung, vielmehr eine Art Nachbarschaftstreffen. Die grosse Gruppe ist auffallend generationenübergreifend zusammengesetzt. Eine Gruppe Jugendlicher sitzt auf dem Boden in einem Kreis. Sie singen, begleitet von einem Gitarristen und von Rhythmen, die auf einen mitgebrachten Holzschemel geschlagen werden.
«Francos Geist ist zurück»
Eine ältere Frau sieht, wie ich mit dem iPhone fotografiere und fragt: «You are tourist?» Ich erkläre ihr, ein Migrant zu sein, der seit zweieinhalb Jahren in Barcelona lebe.
Sie: Würden Sie abstimmen, wenn Sie könnten?
Ich: Ich glaube, ich würde abstimmen.
Sie: Si o no?
Ich: Vermutlich zero.
Sie: Hätte ich bis heute auch so gemacht. Aber nun habe ich Si gestimmt. Ich bin entsetzt. Meine Familie ist entsetzt. Francos Geist ist zurück. Das können wir nicht akzeptieren. Das dürfen wir nicht hinnehmen.
22.05 Uhr
Ein Fazit, keineswegs allgemeingültig, vom 1. Oktober hier in Barcelona. Ein gewaltiger Pfannendeckel-Auftritt von Hunderttausenden, heute begleitet durch viele Rufe, durch intensives, dreimal wiederholtes Händeklatschen von Hunderten auf der Rambla Poblenou und in den Anlagen der Avinguda Diagonal vor unserem Wohnhaus.
Die katalanische Polizei regelt den Verkehr und hilft älteren Menschen beim Überqueren der Strasse.
Mich berührt die Gestaltungskraft, die ich heute auch vor einigen (als Wahllokale genutzte) Schulen beobachtete, die ich aufgesucht habe: Kein blödes Herumschreien, keine wüsten Beschimpfungen, nicht einmal gegenüber der Guardia Civil. Sondern eine Demonstration mit Liedern, mit dem rhythmischen Klatschen, mit Umarmungen und, man sieht das allenthalben, der Übergabe von roten Rosen, einem Symbol für Friedfertigkeit in der katalanischen Gesellschaft, an Polizisten der katalanischen Mossos d’Esquadra.
Diese einheimischen Polizisten markieren diskret und ohne martialische Verkleidungen Präsenz. Sie arbeiten offensichtlich bewusst nicht mit der Guardia Civil zusammen. Stattdessen regeln sie an diesem aufregenden Tag den Verkehr, helfen älteren Menschen beim Überqueren der Strasse. Einzelne dieser Polizisten geben die Blumen an Anwesende weiter.
B
In den nächsten Tagen wird die katalanische Regierung handeln. Was sie genau unternehmen wird? Zurzeit sind drei Szenarien in der Diskussion.
- Die einen, unter ihnen der ehemalige Regionalpräsident Artur Mas, sind der Ansicht, dass Rajoy wegen der ausserordentlich hohen Beteiligung am Referendum sowohl aus Spanien als auch von der EU her unter Druck gerät, damit er endlich Verhandlungen mit Katalonien aufnimmt. Darauf solle man setzen und dafür sorgen, dass die Bürgerinnen und Bürger und die Unterstützer Kataloniens in der EU bei den Independistas bleiben. Ob sich diese Ansicht durchsetzen wird, ist sehr ungewiss.
- Eine weitere Richtung vertritt die Ansicht, dass man in Katalonien erneut Parlamentswahlen ansetzen müsse, wobei die Unabhängigkeitsseite eine klare «declaracion unilateral de independencia» (DUI, eine einseitige Unabhängigkeitserklärung) als ihr einziges Ziel zur Wahl stellen würde. Nicht zuletzt aus Zeitgründen ist dieses Szenario eher unwahrscheinlich.
- Die dritte, derzeit wohl stärkste Richtung will auf Zeit spielen. Nach dem von der Parlamentsmehrheit in Katalonien Anfang September beschlossenen Unabhängigkeits-Gesetz ist es nämlich so: Falls mehr als zwei Millionen Ja-Stimmen abgegeben wurden, folgt daraus die Proklamation der Unabhängigkeit. Die dritte Richtung möchte diese Proklamation um sechs Monate verschieben, um Madrid Zeit zu geben, in Katalonien ein Referendum über Unabhängigkeit oder ausgebaute Autonomie durchzuführen.
Fest steht, dass das Unabhängigkeitslager sowohl im Parlament als auch in der katalanischen Regierung nicht monolithisch agiert, sondern verschiedene Wege zum Ziel verfolgt. Zudem steht inzwischen fest, dass die in Barcelona sehr starke politische Bewegung der Bürgermeisterin Colau, die gesamtspanisch mit der Podemos verbündet ist, für ein reguläres Referendum eintrittt. Sie gehört also nicht ins Lager der Referendumsgegner, sondern ist diesbezüglich offen.
Andererseits: Rajoy wird sich kaum bewegen. Er benimmt sich wie ein Sieger nach einem Eroberungskrieg, unversöhnlich, voller Autoritarismus.
In unmittelbarer Zukunft wird es zu einem Generalstreik kommen, alle Gewerkschaften und die Unternehmerverbände stehen diesbezüglich unter massivem Druck ihrer Mitglieder. Viele in Katalonien hoffen, dass die Linken (PSOE und Podemos sowie mit teilweiser Unterstützung der liberalen Ciudadanos) in der Abgeordnetenkammer des spanischen Parlaments einen Misstrauensantrag gegen Rajoy starten und ein solcher auch durchgebracht werden kann.
C
Ich beende diesen Artikeltext am 2. Oktober 2017 um 22.10 Uhr. Seit zehn Minuten schallt wieder diese seit dem 20. September immer um 22 Uhr beginnende Pfannendeckel-Manifestation durchs Quartier.
Das erzählt mir, der bei offenem Fenster am Schreibtisch sitzt und zuhört: Wir sind da! Wir geben nicht auf! Diese Stimmung habe ich heute auch am Kiosk, wo ich jeweils Zeitungen kaufe, unter den dort immer diskutierenden, meist älteren, Frauen und Männer angetroffen. Kurz: Es handelt sich um eine sehr ernste und ernstzunehmende Angelegenheit.