Was war 1914 – was ist 2014?

Der 1. Weltkrieg entzündete sich in einer Randzone der damaligen Staatenwelt. Denkbar wäre eine ähnliche Eskalation auch heute – Europa glaubt allerdings, es habe seither dazugelernt.

Attentäter oder Freiheitsheld: Die Serben in Ost-Sarajevo gedenken Gavrilo Princips, der den österreichisch-ungarischen Thronfolger Franz Ferdinand tötete. (Bild: DADO RUVIC)

Der 1. Weltkrieg entzündete sich in einer Randzone der damaligen Staatenwelt. Denkbar wäre eine ähnliche Eskalation auch heute – Europa glaubt allerdings, es habe seither dazugelernt.

Im Mai 2014 wurde Günter Grass gefragt, ob er es für möglich halte, dass die Ukraine-Krise einen Krieg in Europa auslösen könnte. Der Grossschriftsteller antwortete: Ja, es könnte ihn geben. Er erinnerte an den 1. Weltkrieg und bemerkte: Die damaligen Zufälligkeiten und das Zusammenkommen von vielen Dingen – «so etwas erleben wir im Ansatz jetzt auch». Es habe sich da so viel Stroh angehäuft, dass bloss jemand ein Zündholz dranhalten müsse, sagte er in der «Zeit».

Grass ist nicht alleine. Auch der Schriftsteller Richard Wagner warnte in der NZZ mit der Ukraine im Blick, dass Europa «auf der Hut» sein sollte. Sarajevo sei 1914 kein Ort gewesen, auf den man besonders geachtet habe, und Geschichte sei oft genug von ihren Nebenschauplätzen her neu aufgerollt worden.

So viel Geschichtsbewusstsein ist nicht selbstverständlich: Wäre der 1. Weltkrieg mit dem 100-Jahr-Gedenken in unserer kollektiven Erinnerung nicht vorübergehend wieder etwas näher und präsenter, wir würden angesichts des  Konflikts in der Ukraine kaum so schnell an die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts denken.

«Sogar» in Europa: Krieg

In vielen Weltgegenden ist der Krieg fast permanent präsent: in Libyen, im Sudan, in Somalia, in Afghanistan, im Irak, in Syrien, in Abchasien und Tschetschenien, in den Städten Mexikos. Aber – einmal mehr – erscheint es als etwas Besonderes, dass militärische Auseinandersetzungen sogar in Europa stattfinden. Das «Sogar» geht davon aus, dass dieser Kontinent den Krieg als barbarische Form der Auseinandersetzung eigentlich überwunden und hinter sich gelassen haben sollte.

Das ist eine Gemeinsamkeit mit 1914, denn diese Haltung gab es schon damals: Krieg ja, aber an der Peripherie in den Kolonien – Krieg aber nicht im blühenden eigenen Garten. Entsprechend fielden die Reaktionen in den 1990er-Jahren beim Auseinanderfallen Jugoslawiens aus: eine Mischung aus besonderer Empörung und Betroffenheit, dass so etwas im heutigen Europa noch passieren kann, derweil das «Einschlagen von Köpfen» in entfernteren Regionen der Welt eher als fatale Normalität hingenommen wird.

Seit 1914 sind die Staatschefs klüger geworden. Sonst wäre der Ukraine-Konflikt in eine grössere Auseinandersetzung ausgeufert.

Es ist gut, dass man in fortgeschrittenen Zivilisationsgraden keine Garantie gegen den Krieg sieht. Andererseits darf man den Eindruck haben, dass diejenigen, welche im Namen ihrer Nationen noch immer über eine Militärmaschinerie verfügen, seit 1914 doch etwas klüger geworden sind. Ohne diesen Lernprozess wäre der ukrainische Regionalkonflikt bereits in eine grössere Auseinandersetzung ausgeufert.

Wir sehen Anzeichen dafür, dass auch die USA hinzugelernt haben. Die Vietnam-Erfahrung hatte allerdings George W. Bush Junior nicht daran gehindert, 2003 einen, wie wir gerade in unserer Zeit deutlich feststellen können, unsäglich dummen und verheerenden Krieg im Irak zu führen. Mittlerweile wurde deutlich, dass es leichter ist, einen Krieg zu beginnen, als aus ihm wieder herauszukommen. Das hätte auch schon eine Lektion des vier sehr blutige Jahre dauernden Krieges von 1914 bis 1918 sein können.

Deutungsangebote am Haufen

Es scheint, als gelte es, etwas Vernachlässigtes nachzuholen, als drängten wir erwartungsvoll darauf, diese vergessene Vergangenheit aufzuwärmen. Wohl darum sind die ersten Wortmeldungen zum 1. Weltkrieg bereits zum Jahreswechsel 2013/14 in die Welt gesetzt worden. So hat NZZ-Feuilletonchef Martin Meyer den letzten Tag des alten Jahres genutzt, um seine «Gedanken zum 1. Weltkrieg» zu publizieren. Seither werden wir – auch im Büchermarkt – mit Deutungsangeboten geradezu überhäuft.

Es ist verständlich, aus der Geschichte leicht abrufbare Verhaltensempfehlungen gewinnen zu wollen. Doch die Empfehlung des Historikers lautet eher, sich mit einer vergangenen Zeit, mit einer speziellen Thematik, ohne allzu gegenwartsbezogene Auswertungsabsichten zu beschäftigen. Die distanziertere Beschäftigung wird dann indirekt genug oder gar bessere Einsichten und vor allem Fähigkeiten zu Einsichten vermitteln, die man genereller für das Verständnis der Gegenwart einsetzen kann.

Schlafwandelnd in die Katastrophe

Die Debatte um den 1. Weltkrieg gilt drei Hauptfragen: erstens nach der Verantwortung für den Krieg, zweitens nach der langen Dauer dieses Krieges und drittens nach den Auswirkungen des Kriegs nach 1918. Die erste Frage steht noch immer im Vordergrund, nicht nur, weil wir 2014 erst am Anfang der Rekapitulation stehen.

Der australisch-britische Historiker Christopher Clark hat mit einem Bestseller die Kollegen seiner Zunft irritiert. Hat er doch die These aufgestellt, dass sozusagen ganz Europa als «Schlafwandler» – zugleich allerdings in hell wachem Zustand – in den Krieg hineingeschlittert sei. Auf den Einwand, dass er damit Deutschland unschuldiger mache, als es gewesen sei, krebste er etwas zurück. Aber die Wirkung blieb, der Anteil derjenigen, die vor allem in Deutschland meinen, den Deutschen sei 1918 zu viel «Schuld» aufgebürdet worden, nahm sprunghaft zu.

Sich auf eine neue Art selbst beschuldigend, ist gerne davon die Rede, dass die Deutschen eben schuldbesessen seien. Ähnliche Statements hört man übrigens von der Rechten auch in der und in Bezug auf die Schweiz.

Kein «Recht auf Wegsehen»

Inzwischen hat die Debatte in Deutschland eine neue Wende genommen. Bundespräsident Joachim Gauck sprach sich bei der Eröffnung der 50. Münchner Sicherheitskonferenz Anfang Jahr für mehr deutsches, nötigenfalls auch militärisches Engagement in der weltweiten Sicherung der Sicherheit aus. Wohl mehr auf den 2. als auf den 1. Weltkrieg bezogen, sagte er: «Ich muss wohl sehen, dass es bei uns – neben aufrichtigen Pazifisten – jene gibt, die Deutschlands historische Schuld benutzen, um dahinter Weltabgewandtheit oder Bequemlichkeit zu verstecken.»

Auch der Politologe Herfried Münkler sowie der Historikers Heinrich August Winkler, beide von der Humboldt-Universität Berlin, wollen Deutschland kein fragwürdiges «Recht auf Wegsehen» einräumen, grössere Zurückhaltung sei bis zur Wende von 1989 angebracht gewesen, jetzt aber soll sich Deutschland zwar nicht besonders hervortun, aber auch nicht «vom Acker» stehlen.

Warum vier Jahre Krieg?

Für die Debatte um das unsäglich lange Andauern dieses Krieges hätten wir noch länger Zeit, nämlich die vier vor uns liegenden Jahre von 2014 bis 2018. Schon jetzt kann man aber sagen, dass das grosse Sterben paradoxerweise kein Grund zum Aufhören, sondern im Gegenteil zum Weitermachen war. Dies sowohl auf der obersten Verantwortungsebene, wo man einem Sieg nachhing, der alle vorangegangenen Verluste gerechtfertigt hätte, als auch auf der untersten Ebene, wo der Tod von lieben Kameraden die Kampfbereitschaft erhöhte. Den Rest erledigte die professionell und industriell gewordene Kriegspropaganda.

1914 gab es im Unterschied zu 2014 keine Kommunikationskanäle, mit denen die verfeindeten Lager unter einander in Kontakt bleiben konnten. Das ist einer der wesentlichsten Unterschiede. Die UNO scheint diesbezüglich im Moment zwar nicht sehr wichtig zu sein, dagegen spielt die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) im Konflikt zwischen Russland und der Ukraine eine nicht zu überschätzende Rolle.

Der 1. Weltkrieg war ein europäischer Konflikt. Nichteuropäer werden sich das Recht nehmen, eigene Erfahrungen zu machen.

Herfried Münkler, selbstverständlich ebenfalls Autor eines dicken Buches zum 1. Weltkrieg, meint, dass Europa inzwischen seine Lektion aus «1914» gelernt habe. Er hält es aber für möglich, dass sich China in unserer Zeit ähnlich verhalten könnte wie Deutschland vor 100 Jahren, weil es sich ebenfalls nicht seiner Grösse und Stärke entsprechend anerkannt fühle. «So manches, was 2014 in Europa schiefgelaufen ist, könnte dort auch schieflaufen», sagte er im März gegenüber von «Deutsche Welle». Darum seien die dortigen Politiker und Staatsmänner aufgerufen, sich die Vorgeschichte des 1. Weltkrieges und der Julikrise sehr genau anzuschauen, um nicht dieselben Fehler zu wiederholen.

«1914-1918» war in seinem ganzen Kern ein europäischer Krieg, Europäer mögen daraus ihre Lektionen ziehen. Die Nichteuropäer dagegen werden sich explizit oder implizit das Recht herausnehmen, ihre eigenen Erfahrungen zu machen. Auch die Europäer haben bisher nicht viel aus der Geschichte anderer gelernt.

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