Wem gehört Syrien?

Die US-Angriffspläne kollidieren mit russischen Interessen in Syrien. Nicht zum ersten Mal wird das Land zum Spielball ausländischer Mächte.

Die Unfähigkeit des syrischen Regimes, auf die sozialen Probleme konstruktiv zu reagieren, ist einer der Hauptgründe für den Bürgerkrieg. Im Bild: Kämpfer der Opposition. (Bild: MUZAFFAR SALMAN / Reuters)

Die US-Angriffspläne kollidieren mit russischen Interessen in Syrien. Nicht zum ersten Mal wird das Land zum Spielball ausländischer Mächte.

Das syrische Regime kontrolliert nur noch einen Teil seines ursprünglichen Herrschaftsgebiets und markiert trotzdem – oder erst recht – den starken Staat. Dabei setzt die Regierung Waffen verschiedenster Art ein und spielt sich als legitime Verteidigerin gegen aussen wie gegen innen auf. Sie kann sich auf einen historischen Hintergrund beziehen: auf verschiedene negative «nationale» Erfahrungen, die das Land im Verlauf seiner Geschichte gemacht hat.

In den letzten hundert Jahren, um nur gerade diesen relativ kurzen Zeitraum in den Blick zu nehmen, hingen die syrischen Macht- und Rechtsverhältnisse in hohem Masse von nicht­syrischen Kräften ab. Bis 1918 waren die Osmanen die bestimmenden Kräfte, dann bis 1946 vor allem die Franzosen und ein wenig die Engländer.

Die beiden Kolonialmächte hatten 1916, mitten im Ersten Weltkrieg, im berühmten Sykes-Picot-Abkommen den Vorderen Orient unter sich aufgeteilt. Damit fegten sie die Versprechungen vom Tisch, mit denen sie der arabischen Elite nach der «Befreiung vom türkischen Joch» die Selbstbestimmung in Aussicht gestellt hatten.

Syrien stand stets im Clinch der Grossmächte.

Unter dem Deckmantel des Völkerbunds konnte sich das Kolonialregime im sogenannten Mandatsauftrag ein Vierteljahrhundert lang halten. Frankreich übte seine Herrschaft auch mit massiven Militärinterventionen aus, vor allem mit der gegen die Drusen gerichteten Bombardierung von 1925 und nochmals mit massiven Attacken im Mai 1945.

Beide Male wurden die Franzosen nur durch die Intervention der Briten gestoppt. Aus der Perspektive der longue durée kann man sich fragen, ob die heutige Interventionsbereit­schaft Frankreichs und die Interven­tionsablehnung Grossbritanniens einer Traditionslinie entsprechen.

Zu Beginn der zweiten Nachkriegs­ära brach die westeuropäische Kolo­nialherrschaft schnell zusammen. Bekannt ist der Abzug der Briten (1948) aus Palästina. Die Franzosen gaben Syrien offiziell bereits zwei Jahre früher auf und gaben den Libanon 1943 frei. Beide Länder, Syrien und Libanon, konnten somit als souveräne Staaten an der UNO-Gründung teilnehmen.

Religiöser Kolonialismus

Frankreichs Interesse an dieser Gegend hatte übrigens bereits vor über 150 Jahren zu einer «humanitären Intervention» geführt: Von den osmanischen Truppen indirekt unterstützt, verübten Drusen in Damaskus ein Massenpogrom gegen Christen, in dem zwischen 7000 und 20’000 Menschen umkamen und Zehntausende obdachlos wurden. Frankreich verstand sich als Schutzmacht der Kirche im Orient. 1856 war die Privatorganisation Œuvre d’Orient gegründet worden, 1860 eilten die Nachfahren der Kreuzritter mit einem Expeditionskorps von 6000 Mann der maronitisch-christlichen Bevölkerung zu Hilfe.

In der Folge wurde der Libanon von Syrien abgetrennt und dem Sultan in Istanbul unterstellt. Während sich die Franzosen als Schutzmacht der Katholiken verstanden, meldeten sich die Rus­sen als Schirmherren der Orthodoxen und die Briten, da es keine Protestanten oder Anglikaner zu beschützen gab, als Protektoren der Drusen.

Weniger bekannt ist die Fremdbestimmung, die von der arabischen Welt in den 1950er- und 1960er-Jahren ausging. Die ersten zwei Jahrzehnte nach der Dekolonisation Syriens waren durch grosse Instabilität, Militärputsche und häufige Regierungswechsel gekennzeichnet.

In dieser ganz im Zeichen des Panarabismus stehenden Zeit versuchten andere arabische Staaten – Jordanien, Irak, Ägypten – wiederholt, Syrien unter ihre Kontrolle zu bringen. Unter der Leitung Nassers bildeten Ägypten und Syrien 1958 bis 1961 einen gemeinsamen Staat. 1963/64 stand eine syrisch-irakische Vereinigung auf dem Programm und 1971 eine Fusion von Syrien, Ägypten und Libyen.

Russland zahlte und errichtete in Syrien einen Marinestützpunkt.

Unter den Gegebenheiten des Kalten Krieges folgte die Anlehnung an Russland – mit diversen Folgen: Syrien konnte sich bei der UdSSR hoch verschulden, profitierte von russischen Experten, umgekehrt zogen viele Syrer nach Russland. Die Sowjetflotte erhielt 1971 eine Marinebasis in Tartus, den einzigen sowjetischen Stützpunkt im Mittelmeer, und die ­syrische Armee wurde ein wichtiger Abnehmer russischer Waffen.

Die aktuellen Interventionspläne der USA kollidieren, ob gesucht oder nur in Kauf genommen, mit russischen Interessen. Hinzu kommt mit Saudi-Arabien und Iran ein anderes antagoni­s­tisches Paar, das in Syrien seine entgegengesetzten Einflüsse spielen lässt.

Im Weiteren fühlen sich die syrischen Machthaber von Israel und der Türkei umstellt und beeinträchtigt. Angesichts der gestiegenen Interventionsgefahr kann man nicht einfach sagen, man solle Syrien doch gefälligst sich selbst überlassen. Das Land ist in den Händen eines Regimes, das einerseits nicht ohne externe Unterstützung auskommt und andererseits derart rücksichtslos gegen Menschen vorgeht, dass es gestoppt werden muss.

Zwei Optionen

Grundsätzlich stehen zwei Möglichkeiten der Zurückbindung zur Verfügung: ein «Strafschlag» der USA (ein neues Wort) oder der «freundschaftliche» Druck der Protektoren Russland und Iran. Von der ersteren Variante muss man annehmen, dass sie das Leid der Bevölkerung nur verstärkt und dass sie das Regime nicht beseitigt, ihm indirekt sogar hilft. Die zweite Option, sollte sie zum Zug kommen, könnte eine Eskalation verhindern – und das Regime könnte dabei das Gesicht wahren.

Dies würde freilich bedeuten, dass Syrien noch längere Zeit mit dem System Assad leben müsste, obwohl dessen Beseitigung das erklärt Ziel der syrischen Opposition und der Antrieb für die Fortsetzung des bewaffneten Kampfes ist. In beiden Varianten handelt es sich um «Einmischung». Von «humanitärer Intervention» ist nicht die Rede, denn diese würde ein grösseres Engagement voraussetzen.

Der importierte Bürgerkrieg

Doch warum ist es überhaupt zum Bürgerkrieg in Syrien gekommen? Nicht die Einmischung landesfremder Kräfte bildet die primäre Ursache. Ebenso wenig die religiösen Gegebenheiten. Am Anfang des aktuellen Konfliktbogens stehen einerseits der Arabische Frühling, andererseits die Misere im benachbarten Irak.

Die Welle der arabischen Revolution erreichte auch Syrien und führte dort im Februar 2011 zu ersten Protestaufmärschen von Tausenden, die den Sturz von Präsident Baschar al-Assad forderten. Die Sicherheitskräfte gingen äusserst brutal gegen die Demon­strierenden vor.

Man sollte Geschichte nicht unterschätzen: Das Ausbleiben von Gegenmassnahmen der Staatengemeinschaft nach der Abschlachtung von 20’000 bis 30’000 Muslimen in Hama unter Vater Hafiz al-Assad 1982 könnte die spätere Rücksichtslosigkeit in heutiger Zeit begünstigt haben.

Gewalt erstickt den Widerstand nicht

Der aktuellen Repression, so massiv sie war, ist es jedoch nicht gelungen, die Bewegung zu ersticken, die Brutalität der Repressionsversuche hat vielmehr brandbeschleunigend gewirkt.

Zum zweiten Punkt: Die Misere im Irak bescherte Syrien mit seiner Be­völkerung von gut 20 Millionen Menschen einen Flüchtlingsstrom von bisher 1,3 Millionen Menschen, vor allem sunnitische Muslime und Christen. Inzwischen sind auch die eingesessenen Syrer zu Flüchtlingen geworden, zwei Millionen ausserhalb und vier Millionen innerhalb des Landes.

Die Irak-Flüchtlinge liessen sich schon vor 2011 vor allem in den Vororten von Damaskus nieder – was zur Folge hatte, dass die Miet- und Lebensmittelpreise stiegen, die bereits prekären Lebensverhältnisse schlimmer wurden und die soziale Unrast zunahm. Die Unfähigkeit des Regimes, auf die sozialen Probleme konstruktiv zu reagieren, ist einer der Hauptgründe für die heutige Krise.

Das Regime versteht Syrien als sein Land, dessen Menschen als sein Volk, und sein Hauptziel besteht darin, um jeden Preis an der Macht zu bleiben. Wer Regime sagt, meint verständlicherweise zuerst Baschar al-Assad. Er ist aber nur der Kopf eines komplizierten Machtapparats, basierend auf Verwandtschaftsbeziehungen und Klientelwirtschaft.

Assad ist nur der Kopf eines komplizierten Machtapparats.

Die Herrschaft stützt sich auf eine staatliche Bürokratie, auf halbprivate Wirtschaftspfründen, zahlreiche Sicherheitsdienste sowie – zumindest bis anhin – auf die Massenbasis der Baath-Partei. Die legitimierende Bestätigung durch das Volk erhielt der Assad-Clan seit 1971 stets in der Grössenordnung von 97 bis 99 Prozent. Ausgehend von seinem alawitischen Kern, hat es das Regime stets verstanden, Unterstützung von verschiedensten Minderheiten und selbst in der sunnitischen Geschäftswelt zu gewinnen und so von der sunnitischen Mehrheit unabhängig zu bleiben. Vor der Machtübernahme durch Vater Hafiz al-Assad im Jahr 1971 war immer ein Sunnit Präsident.

Mit seinem skrupellosen Repres­sionsapparat hat Assads Regime eine eigene Qualität entwickelt. In manchem hat das Regime aber auch bloss perfektioniert, was die Franzosen in der Mandatszeit vorgespurt hatten: regionale Auftei­lungen, um religiöse und ethnische ­Gruppierungen gegeneinander auszuspielen, zugleich überpro­portionale Begünstigung von Minderheiten bei der Rekrutierung im Polizei- und Militärsektor – bis vor Kurzem funk­tionierte der syrische Unterdrückungsapparat perfekt.

«Humanitäre Interventionen» sollen das Volk vor seinen Herrschern schützen

Gehört brutalste Repression gegenüber der widerstän­digen Bevölkerung zu Verhältnissen, welche die inter­nationale Welt nichts angehen? In den kommenden Wochen wird es darum gehen, dem syrischen Regime, aber auch anderen Akteuren zu demonstrieren, dass man Giftgas nicht ungestraft einsetzen kann.
Das wird wohl mit Luftschlägen geschehen. Der blosse Besitz von geächteten Massenvernichtungswaffen war 2003 im Falle des Iraks erstmals ein Interventionsgrund. Bemerkenswert ist, dass die syrischen Einsatzmöglichkeiten von Giftgas erst jetzt eine derartige Wichtigkeit bekommen und zuvor die dezentral angelegte Herstellung (rund 100 Tonnen Kampfstoff pro Jahr) des weltweit grössten Bestands hingenommen wurden, als ob dieser nicht im Hinblick auf einen Einsatz hergestellt und gelagert worden wäre.
Was bedeutet das alles völkerrechtlich? Mit der Formel der «humanitären Intervention» soll das in der UNO-Charta in Art. 2.7 festgeschriebene Prinzip der Unantastbarkeit der nationalen Souveränität relativiert werden, um die Bevölkerung vor den eigenen Herrschern zu schützen. 1992 beschloss die UNO eine solche Intervention in Somalia. Besser ­erinnert man sich an die gleich begründete Intervention von 1999 im Kosovo und von 2011 in Libyen.
Russland und China wehren sich, selbstverständlich auch aus eigenem Interesse, gegen solche Schutzkonzepte und taxieren sie als Einmischung in innere Verhältnisse. Weniger wichtig als der Wortlaut der UNO-Bestimmung ist das dahinterstehende Verständnis. Dennoch spielen die Formulierungen eine gewisse Rolle. Art. 2.7 schützt den «Staat» vor fremden Eingriffen. Das Land, die Nation oder das Volk werden hier nicht genannt, wie dies in anderen Artikeln der UNO-Charta der Fall ist. Zudem gilt die Interventions­beschränkung nur für Angelegenheiten, «die ihrem Wesen nach» zur inneren Zuständigkeit eines Staates gehören.

Artikelgeschichte

Erschienen in der Wochenausgabe der TagesWoche vom 06.09.13

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