«Wenn es sein muss, sterben wir für unsere Stimme»

Tausende Mursi-Anhänger protestieren jeden Tag vor der Kairoer Universität. Abgeriegelt von der Armee, verschanzt hinter eigenen Barrikaden, sind sie trotz Ramadan wild entschlossen zu bleiben, bis der entmachtete Präsident wieder im Amt ist. Ein Besuch im Mursi-Camp.

Sie richteten sich einen eigenen Tahrir-Platz ein, nachdem die Gegner des abgesetzten Präsidenten sie nicht mehr unter sich gewollt hatten. (Bild: ASMAA WAGUIH)

Tausende Mursi-Anhänger protestieren jeden Tag vor der Kairoer Universität. Abgeriegelt von der Armee, verschanzt hinter eigenen Barrikaden, sind sie trotz Ramadan wild entschlossen zu bleiben, bis der entmachtete Präsident wieder im Amt ist. Ein Besuch im Mursi-Camp.

Armee und Polizei haben alle Zufahrtsstrassen zur Kairoer Universität weiträumig mit Stacheldraht und ihren eigenen Fahrzeugen abgesperrt. Die Metro Station bleibt geschlossen. In einem grossen Umkreis sind die Tore von Geschäften mit Gittern und Metallplatten verrammelt, nur ein paar Kioske und Tante-Emma-Läden bleiben offen. Wer sich der Universität nähert, muss jungen Soldaten Tasche und Ausweis zeigen. Die Sicherheitskräfte stünden im Dienst des ganzen Volkes, steht auf speziellen Plakaten, die auf den Mannschaftswagen der Polizei angebracht sind.

Diesem Versprechen trauen die Demonstranten nicht. Seit sie vor einigen Tagen zum ersten Mal angegriffen und 16 von ihnen getötet wurden, haben sie eigene Barrikaden aus schweren Steinblöcken, Müllcontainern und Eisentoren aufgeschichtet. Dahinter liegen Haufen von Steinen, die sich als Wurfgeschosse eignen. «Das ist nur zu unserer Verteidigung», rechtfertigt sich Mohsen. Ausgerüstet mit einem leuchtend gelben Schutzhelm, versieht der Englischlehrer seinen Wachdienst. Fast jede Nacht würden sie überfallen, die Schläger kämen im Schutz von Polizei und Armee, berichtet er. Wie zum Beweis humpelt Mohammed auf Krücken daher. Am Fuss trägt er einen Verband. Er sei von einem Geschoss getroffen worden, sagt der Student. Wenn die ganze Truppe der Wächter zusammensteht und mit ihren Schlagstöcken defiliert, bleibt kein Zweifel mehr an ihrer Entschlossenheit.

Der Tahrir der Mursi-Anghänger

Der Platz vor der mächtigen Kuppel der prestigeträchtigsten ägyptischen Universität ist seit dem Ultimatum der Generäle am 1. Juli so etwas wie der Tahrir der Mursi-Anhänger. Dort, im Epizentrum der Revolution, bleiben die Islamisten jetzt ausgesperrt, dafür sorgen Rebellen der Tamarod-Bewegung. Ihren Tahrir nennen sie al-Nahda – Renaissance – nach dem Programm der Muslimbrüder. Er liegt in Fussdistanz vom Tahrir. Auch hier gibt es Strassenhändler mit kühlen Getränken und Verpflegung. Aber hier fehlen die Verkäufer von Revolutionsinsignien. Die schwarz, weiss, rote Landesfahne ist zu einem Symbol der Mursi-Gegner geworden, einer der offensichtlichsten Belege für die unüberbrückbare Spaltung des Landes.

Die schwarz, weiss, rote Landesfahne ist zu einem Symbol der Mursi-Gegner geworden.

Dafür sind zwischen den Zelten jetzt Stoffbanderolen mit den Bildern ihrer Märtyrer gespannt. Ein anderes Spruchband verkündet, dass sich das Volk seinen Präsidenten nicht von den Feloul – den Mubarak-Loyalisten – wegnehmen lasse. Während sich im Laufe des Tages nur einige Hundert Frauen und Männer auf dem grossen Platz aufhalten und viele von ihnen im angrenzenden Zoo schlafen, schwillt die Menge in den kühlen Abendstunden jeweils an. Millionen seien sie dann, meint einer von ihnen. «Millionenmarsch der Rache» heisst an diesem Dienstag, dem Tag nach dem Blutbad vor dem Hauptquartier der Republikanischen Garden mit 51 Toten und 435 Verletzten das Motto.

Fünf Mal an der Urne – immer in der Mehrzahl

Ihre Wut richtet sich vor allem an eine Person, Armeechef General Abdel-Fattah al-Sisi. Sobhi versteht die Welt nicht mehr, er ist ganz niedergeschlagen. Warum dieser Hass, die Muslimbrüder hätten doch über Jahre so viel Gutes für so viele Ägypter getan. Seit dem Putschabend sei eine Hexenjagd gegen die Islamisten ausgebrochen, ihre Führer würden verhaftet, ihre Medien geschlossen, Mursi festgehalten, stellt Hazem fest, der mit einer Gruppe von Männern diskutiert. Diese seien ein «Cocktail», Islamisten aller Schattierungen, von moderat bis Salafist. Sisi und die Generäle hätten geputscht. Das sei nicht der Wille des Volkes gewesen, das müsste man doch vor allem im Westen verstehen, wo die demokratischen Spielregeln bekannt seien, meint er an die Adresse der Journalistin und Ausländerin.

«Seit der Revolution waren wir fünf Mal an der Urne, immer waren wir die Mehrheit. Das ist Betrug.»

«Ich frage Sisi, wo ist meine Stimme», mischt sich Karim ein. «Seit der Revolution waren wir fünf Mal an der Urne, immer waren wir die Mehrheit. Das ist Betrug», stellt er klar. In der Diskussion wird auch deutlich, dass sie befürchten, Säkularisten könnten in Zukunft den Ton angeben und der islamische Charakter Ägyptens gefährdet sein. Über Fehler der Mursi-Regierung wollen sie nicht reden. Seit seinem Amtsantritt hätten Polizei und Justiz gegen den Präsidenten gearbeitet, man hätte ihm nie eine Chance gelassen, betont Hazem.

Frauen machen kräftig mit

Mit der Revolution sei die Zeit der Strasse vorbei, seither entscheide nur die Urne, sagt Karim dezidiert. Spielraum für einen Dialog gibt es in den Augen der Mursi-Anhänger nicht. Was die «Putschisten» tun, geht sie nichts an. Erst muss der frei gewählte Präsident Mohammed Mursi wieder eingesetzt werden, erst dann könne man weitersehen (mehr dazu in der Meldung der Agentur: Muslimbrüder lehnen eine Beteiligung an neuer Regierung ab). Die Demonstranten wollen deshalb nicht weichen, auch nicht während des Fastenmonats Ramadan, der am Mittwoch begonnen hat. Das solle aber friedlich geschehen. Die Gewalt käme von der andern Seite, der Armee – das sei nach dem Massaker der Republikanischen Garden ganz offensichtlich – der Polizei und den Schlägerbanden aus dem Dunstkreis des alten Regimes, betont die Männergruppe unisono. «Aber wenn es sein muss, werden wir auch für unsere Stimme sterben», beschreibt einer von ihnen die allgemeine Entschlossenheit.

Die Gewalt käme von den andern Seite, der Armee, der Polizei und den Schlägerbanden aus dem Dunstkreis des alten Regimes.

Am Ausgang des Platzes kontrollieren drei in einen schwarzen Tschador gehüllte Aktivistinnen die Taschen und Ausweise der Demonstrantinnen. Es herrscht ein ständiges Kommen und Gehen. Dies sei für sie eine Pflicht, der sie gerne nachkommen würden, lächelt Rida, eine Lehrerin. Die Frauen bleiben auch während der Nacht. Hier müssten sich Frauen nicht fürchten. Hier gebe es keine sexuelle Belästigung wie auf dem Tahrir. Die Frauen würden von den Männern beschützt, berichtet Ärztin Hanan stolz. Deshalb seien auch die Frauen ein wichtiger Teil dieses Protestes. Einem Protest, den sie unerschrocken bis zum Ende mittragen würden.

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