«Wenn wir populär werden, können wir aufhören»

Im Oktober ist der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern wieder eskaliert. Mit der Organisation Breaking the Silence setzen sich israelische Soldaten dafür ein, dass die Gesellschaft erfährt, was in den besetzten Gebieten geschieht. Jehuda Schaul, einer ihrer Mitgründer erklärt, was sie sich davon erhoffen.

Jehuda Schaul, Gründer von Breaking the Silence.

(Bild: Quique Kierszenbaum )

Im Oktober ist der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern wieder eskaliert. Mit der Organisation Breaking the Silence setzen sich israelische Soldaten dafür ein, dass die Gesellschaft erfährt, was in den besetzten Gebieten geschieht. Jehuda Schaul, einer ihrer Mitgründer erklärt, was sie sich davon erhoffen.

Nach Gerüchten, wonach Israel die Zugangsrechte zur Al-Aksa-Moschee in Jerusalem zu seinem Vorteil ändern wolle, ist der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern Anfang Oktober ein weiteres Mal eskaliert. Bei Attacken starben mittlerweile fast 20 Israelis, über 100 Palästinenser wurden getötet.

Für Jehuda Schaul, Gründer der Organisation Breaking the Silence («Das Schweigen brechen»), liegt der Ursprung des Problems in der Besetzung palästinensischer Gebiete durch Israel und im Schweigen der Gesellschaft zu diesem Thema.

Jehuda Schaul, wie wirkt die aktuelle Situation auf Sie: Hat die dritte Intifada begonnen?

Palästinenser in meinem Alter wissen nicht, was das Wort Freiheit bedeutet. 2017 jährt sich der Sechstagekrieg und damit die Okkupation von Westjordanland und Gazastreifen zum fünfzigsten Mal. Dieser Zustand ist also normal geworden. Personen in meinem Alter können sich ein Israel ohne besetzte Gebiete nicht einmal mehr vorstellen. Die Frage, ob nun eine dritte Intifada begonnen hat, finde ich nicht interessant. Ich weiss nicht, ob die aktuellen Ausschreitungen den Beginn der dritten Intifada darstellen oder nicht. Doch wenn das der Status quo bleibt, dann werden wir auch noch die zwanzigste Intifada erleben.

Um etwas zu bewegen, haben Sie die Organisation Breaking the Silence gegründet. Was ist Ihr Ziel?

Menschen sollen über sich selbst bestimmen können und nicht regiert werden von einer fremden Armee. Hier startet und endet das ganze Problem für uns. Unser Ziel ist es folglich, einen Beitrag zum Ende der israelischen Besetzung in Palästina zu leisten.

Wo müsste eine Lösung ansetzen?

Die israelischen Verteidigungskräfte (IDF) sind nicht das Problem. Das Problem ist die politische Mission, wegen der die Armee ausgesandt wird. Die Lösung ist es also nicht, einfach das Verhalten der IDF zu ändern, sondern die politische Mission.

«Du kommst zurück und findest dich in der Rolle eines Zivilisten wieder. Was du während deines Militäreinsatzes getan hast, ergibt plötzlich keinen Sinn mehr.»

Was motiviert Soldaten, bei Breaking the Silence eine Zeugenaussage machen?

Ein häufig genannter Grund ist der Schock der Rückkehr nach der Zeit im Militär: Du wirst in den besetzten Gebieten stationiert, verbringst dort drei Jahre, kommst danach zurück und findest dich in der Rolle eines Zivilisten wieder. Was du während deines Militäreinsatzes getan hast, ergibt plötzlich keinen Sinn mehr, du kannst deine Taten nicht mehr rechtfertigen.

Mittlerweile hat Ihre Organisation mit über tausend Zeugen gesprochen. Was fällt auf?

Ich denke, man kann die Aussagen in drei Kategorien einteilen: Zum einen hören wir Geschichten, in denen Soldaten Regeln brechen und ein Verhalten aufzeigen, das selbst das Militär als illegal und unmoralisch bezeichnen würde. Da geht es zum Beispiel um Plünderung. Zur zweiten Gruppe gehören für mich Berichte über Aufträge vom Militär, die strafbar sind. So zum Beispiel Racheattacken.

Können Sie hierfür ein Beispiel nennen?

Mir fällt ein Fall aus der Zeit der zweiten Intifada ein: In der Nacht vom 19. Februar 2002 wurden während einer palästinensischen Attacke auf einen Checkpoint des israelischen Militärs sechs israelische Soldaten ermordet. In der darauffolgenden Nacht sandten die Befehlshaber drei Trupps der Israelischen Verteidigungskräfte (IDF) aus, um sich zu rächen. Einen Trupp nach Gaza, einen zweiten nach Ramallah und den dritten nach Nablus. Sie bekamen den Auftrag, um zwei Uhr nachts zum palästinensischen Checkpoint vor Ort zu gehen und jede Person dort zu töten. Am Ende dieser Nacht waren 15 palästinensische Polizisten tot.

Worauf bezieht sich die dritte Kategorie von Zeugenaussagen?

Die dritte Gruppe betrifft das, was ich als Rückgrat einer permanenten Okkupation bezeichne. Im Militär haben wir das als «unsere Präsenz spürbar machen» bezeichnet. Ich kann hier von meiner eigenen Dienstzeit in Hebron erzählen. Die IDF setzen darauf, dass Palästinenser davor zurückschrecken, Angriffe auszuüben, wenn sie das Gefühl bekommen, die IDF seien immer und überall präsent. Während unserer Acht-Stunden-Schichten in Hebron sind wir zum Beispiel in der Stadt herumgelaufen, haben willkürlich ein Haus ausgewählt, es beschossen, alle Bewohner herausbefohlen, ein paar Schockgranaten umhergeworfen und Lärm gemacht. Dann zogen wir weiter zu einem anderen Haus, wo wir die nächste Familie aufgeweckt haben. Diese Methode wurde während der zweiten Intifada entwickelt und ist bis heute gang und gäbe.

«Können wir eine Geschichte nicht komplett nachvollziehen, gelangt sie auch nicht an die Öffentlichkeit.»

Wie ging es Ihnen persönlich nach der Zeit in der Armee?

Der Militärdienst ist in Israel für Männer und Frauen obligatorisch. Meinen Dienst habe ich als Soldat und später dann als Kommandant im Westjordanland, in Hebron, verbracht. Was ich dort tat, begann ich danach in Frage zu stellen und mit immer mehr Leuten zu diskutieren. Ausgehend von diesen Erlebnissen gründete ich 2004 mit anderen Soldaten die Organisation Breaking the Silence.

Wie gelangen Sie zu den Zeugenaussagen?

Meistens vermitteln uns bereits interviewte Zeugen neue Kontakte. Diese versuchen wir dann zu erreichen und erzählen ihnen, wer wir sind und aus welchen Gründen wir tun, was wir tun. Vereinzelt treffen wir aussagewillige Zeugen während der Rundgänge, die wir in Hebron und Ramallah anbieten und an denen vor allem Israelis teilnehmen. Manchmal kommt es auch vor, dass Leute uns unabhängig von irgendeiner Veranstaltung oder einem Kontakt ansprechen. Da sind wir jedoch grundsätzlich misstrauisch.

Weshalb?

Ich kann von dem prominenten Beispiel von Oren Asaf Hazan erzählen. Er meldete sich im Sommer 2014 bei uns. Zu der Zeit nahm er angeblich als Soldat an der Operation Protective Edge in Gaza teil und wollte eine Aussage machen. Schon bei seinem ersten Gespräch mit uns flog er als Betrüger auf; das Interview mit ihm wurde nie veröffentlicht. Nach einiger Zeit erkannte ihn jemand von Breaking the Silence auf der Liste der Likud-Partei für die Knesset, unser Parlament, wieder. Wir gaben unsere Informationen an die Presse weiter und schliesslich gab Oren Asaf Hazan zu, dass er uns falsche Informationen gegeben hatte. Er habe Breaking the Silence und unsere Methode der Zeugenaussagen in Verruf bringen wollen. Glücklicherweise hat er genau das Gegenteil erreicht.

Wie verfahren Sie nach einer Zeugenaussage mit der gewonnen Information?

Viele Zeugen erzählen uns von ihren Erlebnissen, während sie noch im Militärdienst sind. Damit verletzen sie geltendes Militärrecht und gefährden sich selbst. Unsere erste Handlung nach der Aussage ist es deshalb, die Sicherheit des Zeugen zu gewährleisten. Aus diesem Grund veröffentlichen wir die meisten Aussagen anonymisiert. Diesen Grundsatz halten auch Medien ein, die uns um Quellen und Interviews bitten. Zudem überprüfen wir sämtliche Aussagen vor ihrer Veröffentlichung auf ihren Wahrheitsgehalt. Dieser Prozess dauert teilweise Monate. Können wir eine Geschichte nicht komplett nachvollziehen, gelangt sie auch nicht an die Öffentlichkeit.

«Wir wollen guten Journalismus aus den besetzten Gebieten machen.»

Ein immenser Aufwand.

Der sich aber lohnt. Bis heute hat sich nicht eine einzige publizierte Geschichte nachträglich als unwahr herausgestellt.

Welche Grundidee steht hinter Breaking the Silence?

Unsere Idee ist es, einen guten Journalismus aus den besetzten Gebieten zu machen. Unser Militär ist wie die aktuelle israelische Politik bestrebt, dass möglichst wenige Informationen über die besetzten Gebiete zu uns gelangen. Würden israelische Medien diese Geschichten publizieren, dann wäre Breaking the Silence nicht nötig. Wir sagen stets, dass wir an dem Tag, an dem Breaking the Silence populär wird, mit unserer Arbeit aufhören können.

_
Jehuda Schaul (32), geboren in Jerusalem, verbrachte seinen Militärdienst in Hebron im Westjordanland. Zusammen mit anderen ehemaligen Soldatinnen und Soldaten gründete er 2004 Breaking the Silence (Hebräisch: Schovrim Schtika). Erklärtes Ziel der Organisation ist es, die israelische Gesellschaft mit der Realität in den von Israel besetzten Gebieten zu konfrontieren und dadurch eine öffentliche Debatte anzuregen.

Die Organisation besteht aus einem Kernteam von 18 Personen und hat bis heute über tausend Zeugenaussagen ehemaliger und aktiver Soldaten der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte gesammelt. Daneben veranstaltet Breaking the Silence Touren in Hebron und Ramallah und organisiert Ausstellungen.

Eine solche war im letzten Sommer im Kulturhaus Helferei in Zürich zu sehen und führte zu einer Debatte über die Legitimität solcher Kritik. Streitpunkt war etwa die Frage, ob eine solche Ausstellung die «politische Dämonisierung Israels» zum Ziel habe. Kritisiert wurde auch die Förderung der Ausstellung durch die Stadt Zürich. Auch die finanzielle Unterstützung von Breaking the Silence durch zahlreiche europäischen Regierungen – auch durch das Eidgenössische Departement des Äusseren – wird in Israel immer wieder kritisiert.

Nächster Artikel