Die Schweiz sonnt sich in der internationalen Bewunderung über den neusten Gotthard-Durchstich. Doch ein rein schweizerisches Werk sind die neuen Tunnel nicht – schon gar nicht, wenn man betrachtet, wer die Arbeit unter Tage geleistet hat.
Mit der Neat-Eröffnung und dem 150-Jahr-Jubiläum von Nestlé hatte man in den letzten Tagen gleich zweimal Gelegenheit, sich zu überlegen, wem die Schweiz diese und andere als sehr schweizerisch verstandene Grossprodukte zu verdanken hat.
Nestlé wird mit Maggi, Brown Boveri, Hayek und vielen anderen immer wieder genannt, wenn man darauf hinweisen will, wie segensreich die Zuwanderung von Nichtschweizern für die Schweiz doch ist.
Dabei konzentriert man sich auf erfolgreiche Unternehmerpersönlichkeiten und steigt nicht hinab zu den anonymen Heerscharen von Fremdarbeitern, welche die Realisierung von Tunnel- und Staudammprojekten und wohl auch Nespresso-Fabriken möglich gemacht haben.
Die Frage der Arbeiter
Diesen «Vergessenen» hat Bertolt Brecht 1935 das Gedicht «Fragen des lesenden Arbeiters» gewidmet: Wer hat das siebentorige Theben, wer die Chinesische Mauer, wer die Paläste in Lima gebaut? Wer am Gotthard oder wer die Staumauer Grande Dixence gebaut hat, dies zu fragen kam dem grossen Schriftsteller nicht in den Sinn. Er hätte aber, bezogen auf den ersten der drei imposanten Gotthardtunnel durchaus danach fragen können.
Brechts Frage wollte bewusst machen, dass nicht nur Auftraggeber, Bauherren, Architekten glanzvolle Werke errichteten, sondern Arbeiter mit starken Armen und zuweilen auch mit ihrem Leben, das bei der Arbeit draufging.
Die vielen nichtschweizerischen Arbeiter sind sicher nicht der Schweiz zuliebe in die Schweiz gekommen, aber sie haben der Schweiz genützt und geholfen, das Werk zu realisieren, das nun als schweizerisches gewürdigt wird. Eine Win-win-Situation. Doch sie sind nicht in die Schweiz gekommen, um hier zu sterben, sondern um mit dem hier erarbeiteten Lohn in der fernen Heimat eine Familie zu ernähren.
Beim Bau des ersten Lötschberg-Tunnels ereignete sich alle 20 Tage ein Todesfall, alle fünf Stunden ein schwerer Arbeitsunfall.
Abseits vom Eröffnungs-Festrummel wurde in einem interkonfessionellen Gedenkgottesdienst der neun Todesopfer gedacht und den Angehörigen nochmals Trost zugesprochen. Renzo Simoni, Chef von Alptransit, betonte, wie sehr man darauf bedacht war, Unfälle zu vermeiden.
Im Vergleich zu früheren Tunnelbauten sind bezüglich Arbeitssicherheit tatsächlich enorme Fortschritte erzielt worden. Statistisch betrachtet entspricht die Unfallrate der über 2000 für den neusten Gotthard-Durchstich eingesetzten Arbeitskräfte in etwa jener auf anderen Baustellen.
Um nicht von den häufig genannten 199 Toten des ersten Gotthard-Eisenbahntunnels (1872–1882) zu reden: Beim Bau des in den Jahren 1906–1913 entstandenen ersten Lötschberg-Tunnels ereigneten sich 112 Todesfälle und 12’000 Unfälle – alle 20 Tage ein Todesfall, alle fünf Stunden ein schwerer Arbeitsunfall.
40 Mineure aus Lesotho protestierten gegen «sklavenähnliche» Arbeitsbedingungen im Sedruner Schacht und wurden darauf nach Hause spediert.
Man kann nicht sagen, dass bei der Neat-Einweihung der letzten Woche – Brechts Kritik entsprechend – die Tunnelarbeiter komplett vergessen worden seien. In Volker Hesses spektakulärer Theatereinlage kamen immerhin als Mineure verkleidete, in Achter-Kolonne daherstampfende Schauspieler ins Bild.
In der Pressevermittlung des Gotthard-Grossereignisses fanden sich ebenfalls Kurzpassagen, die auf die internationale Zusammensetzung der von Alptransit Beschäftigten hinwiesen. Es wurden die folgenden Zahlen genannt: 15 Prozent Schweizer, also 85 Prozent Nichtschweizer. Unter den Letzteren machten die Italiener mit 22 Prozent erwartungsgemäss den grössten Teil aus. Es folgen die Österreicher und die Deutschen mit je 20 Prozent, die Portugiesen mit 8 Prozent.
Unter den restlichen 15 Prozent dürfte es zum Beispiel ein paar Slowenen gehabt haben, aber auch Mineure aus dem fernen Südafrika. Einer von diesen ist einer der neun Toten (alles Ausländer), die es in der ganzen Bauzeit gegeben hat: Der 23-jährige Jacques du Plooy wurde am 13. März 2001 von Ausbruchmaterial verschüttet. Die Equipe der 40 aus Lesotho stammenden Südafrikaner ist aufgefallen, weil sie gegen, wie es hiess, «sklavenähnliche» Arbeitsbedingungen im Sedruner Schacht protestierte und darauf sogleich nach Hause spediert wurde.
Die Neat wurde als Materialisierung schweizerischer Tugenden gepriesen. Doch solche Werke sind das Resultat internationaler Kooperation.
Die Feier zum transnationalen Werk stand fast gänzlich im Dienste der nationalen Selbstvergewisserung. Und die ausländischen Gäste spielten mit, sparten nicht mit Lob. Der Vertreter der Grande Nation wollte sich vor dem kleinen Nachbarn sogar verneigen. Die Neat wurde als Materialisierung schweizerischer Tugenden gepriesen. Gemeint sind damit: Ingenieurkunst, gute Planung, Präzision, Organisation und Finanzierungspotenzial.
Ohne diese zentrale Leistung zu schmälern, sei aus gegebenem Anlass jedoch darauf hingewiesen, dass solche Werke wie viele für das Funktionieren unserer Gesellschaft relevante Betriebe das Resultat trans- und internationaler Kooperation sind.
Dieser Hinweis ist darum nötig, weil eine Tendenz besteht, dies auszublenden. Zwar werden separiert einerseits das Schweizerische der Leistung herausgestrichen und andererseits das Nichtschweizerische der Beiträge erwähnt. Aber die Konsequenzen des verflochtenen Mit- und Ineinander dieser beiden Welten wird wenig reflektiert.
Die transnationale verflochtene Schweiz
Im Falle der Neat blieben die beiden Welten auch räumlich weitgehend separiert. Die Arbeit in den tiefen Stollen und das Leben in den Containern nahm man nur zur Kenntnis, wenn das Fernsehen uns das vermittelte. Es gibt aber, nahe beieinander und verteilt auf das ganze Land, eine bezüglich Herkommen und Staatsbürgerschaft transnational verflochtene Schweiz, die man als das anerkennen und würdigen sollte.
Dieser Hinweis schliesst die mittlerweile etwa eine halbe Million Bewohner mit einer mehr oder weniger muslimischen Religiosität mit ein. Daran muss im Zusammenhang mit der Gotthard-Feier erinnert werden, weil es um die polyreligiöse Segnung des neuen Tunnels eine zwar wenig erstaunliche, doch entschieden zurückzuweisende Polemik gab: Die Tatsache, dass für dieses Ritual neben Repräsentanten der christlichen und jüdischen Religion und sogar einem Vertreter der Religionslosen auch ein Imam als muslimischer Geistlicher vorgesehen wurde, bildete für einige den nicht unwillkommenen Anlass für islamophobe Polemik.
Ein Walliser SVP-Nationalrat (der Name sei ausgespart, um nicht indirekte Reklame zu betreiben) ging so weit, Bundesrätin Leuthard in zwei Schreiben seine schärfste Missbilligung auszudrücken: Der Imam sei «Ausländer» und Vertreter einer «zweifelhaften Organisation»; die von ihm vertretene Religion sei «weder altüberliefert noch offiziell», sei eine «politische Religion», im Wesentlichen «unvereinbar mit unserer Zivilisation» etc., etc. Der SVP-Mann gab, um bei seiner eigenen Polit-Klientel zu punkten, öffentlich bekannt, dass er deswegen den Eröffnungsfeierlichkeiten fernbleiben werde.
Andere Mitglieder dieser Fraktion gingen bekanntlich aber hin, um via die sozialen Medien negative Kommentare über das Fest absondern zu können.
Segnung mit breiter Zustimmung
Dem Walliser Volksvertreter und seiner Anhängerschaft sei die Lektüre der von Lessings 1783 bekannt gemachten Ringparabel empfohlen: Ein Vater ist Besitzer eines Rings mit der Eigenschaft, seinen Träger «vor Gott und den Menschen angenehm» zu machen. Da er seinen drei Söhnen gleich verbunden ist, weiss er nicht, wem er nach seinem Ableben den Ring geben soll. Also lässt er zwei Kopien anfertigen, sodass man nicht weiss, welcher der drei Ringe der echte ist. Der im Streit um die Echtheit der Ringe von den drei monotheistischen Religionen angerufene Richter erklärte, es sei an ihnen, mit ihrem Verhalten zu beweisen, dass sie den echten Ring besitzen.
Der Walliser Parlamentarier hat sich mit seinem engen Schweizverständnis jedenfalls im vorneherein selber aus diesem Wettbewerb genommen.
Die Segnung des Tunnels ohne Live-Publikum, nur über Bildschirm und Pressefotos vermittelt, dürfte das kostengünstigste Element der über zwölf Millionen Franken teuren Einweihung gewesen sein. Wegen der Diskussion, ob ein Imam dabei sein soll, kamen aber kaum Gedanken darüber auf, was eine solche Segnung überhaupt soll. Wichtiger als die Segnungsgesten selber wäre, dass sie in der Bevölkerung eine breite Zustimmung fände.
Die Segnung ist archaischer Bannzauber und aufgeklärtes Eingeständnis, dass dem eigenen Können Grenzen gesetzt sind.
Mit Segenshandlungen wird Schutz und Bewahrung angestrebt und zugleich zum Ausdruck gebracht, dass das Angestrebte doch nicht restlos selber hergestellt werden kann, sondern von einer höheren Kraft abhängt. In seiner archaischsten Form handelt es sich um einen Bannzauber, der Unheil und Böses abhalten soll.
In der aufgeklärten Version ist es ein Eingeständnis, dass dem eigenen Können, dem Beherrschen der Welt, Grenzen gesetzt sind. Dies schliesst freilich nicht aus, dass bis zur regulären Inbetriebnahme der Strecke im Dezember dieses Jahres zahlreiche weitere Sicherheitstests durchgeführt werden.
Die Segnung wurde im konkreten Fall im Namen aller in diesem Land lebenden Menschen gemacht. Sie soll aber sozusagen der ganzen Menschheit zugutekommen, die diese Transitachse in allen kommenden Jahren benutzen wird.