Die Favoritenrolle im Rennen um die französische Präsidentschaft ist vergeben. Mehr als ein Etappensieg liegt für Emmanuel Macron aber nicht drin. Einen Schulterschluss der Front-Gegner braucht es auch bei den Parlamentswahlen im Juni.
Man ist sich einig: Emmanuel Macrons Triumph am Abend des ersten Wahlgangs vom 23. April um die französische Präsidentschaft war noch kein Sieg. Die Bewegung «En Marche!» muss noch eine weitere Strecke zurücklegen.
Jetzt Macron die Stimme geben: Diese Aufforderung von rechts wie von links wird dem Mittemann wenig helfen. Wie man weiss, sind die Aufrufe von Fillon, Juppé, Sarkozy über Hamon oder Hollande mehr gegen etwas als für etwas gerichtet – mehr gegen den Front National als für den enthusiastischen Europäer und den wirtschaftsfreundlichen Ex-Banker. Die angebotene Unterstützung hat zudem die Funktion, den noch wenig festgelegten Mittekandidaten auf die eine oder andere Seite zu ziehen. Im Weiteren fragt sich, wie weit die Aufrufe die Unterstützer der Ausgeschiedenen an die Urne bringen, denn es geht ja nicht mehr um einen der «Ihren».
Höchst bedenklich ist die Haltung des linksradikalen Jean-Luc Mélenchon, der mit einem Stimmenanteil von immerhin 19 Prozent ein respektables Segment vertritt und keine Empfehlung für den zweiten Wahlgang abgeben mag. Geradezu irritierend war Mélenchons Verhalten am Abend der ersten Abstimmungsrunde: Obwohl der Abstand zwischen ihm und den beiden Erstplatzierten (Macron und Le Pen) mit ihren 23 bzw. 22 Prozent eklatant war, wollte er in der irrationalen Hoffnung, doch noch in die nächste Runde zu kommen, die offiziellen Mitternachtsergebnisse des Innenministeriums abwarten.
Der Front National ist nicht zum ersten Mal in der Schlussrunde. In diesen Wahlen macht sich jedoch weit und breit kein Schockgefühl bemerkbar.
Von ihm – und von dieser Haltung – war keine Empfehlung für Macron zu erwarten. Mélenchon versteckte sich hinter einer Umfrage seiner Anhängerschaft, die elektronisch zu drei Varianten Stellung nehmen konnte: für Marcon, leer einlegen, zu Hause bleiben. Nur 35 Prozent votierten für Macron. Nach langem Zögern rang sich Mélenchon zu einer öffentlichen Erklärung durch: Er warnte eindringlich vor der Rechtspopulistin Le Pen: Sie wählen, würde einen «Flächenbrand» auslösen. Aber für Macron gab es keine Wahlempfehlung, sondern vielmehr Kritik wegen dessen Plänen, den Arbeitnehmerschutz zu lockern.
Prognostiker dürften recht behalten, wenn sie davon ausgehen, dass manche Linksradikale für die Rechtsextremen, also für den FN stimmen werden. Dies übrigens im Verbund mit ultrakonservativen Katholiken, die das Heil für ein «besseres» Frankreich im rechtsnationalen Einsatz sehen.
Der Front National ist nicht zum ersten Mal in der Schlussrunde der Präsidentschaftswahl. 2002 war es der Papi der jetzigen FN-Spitzenkandidatin: Jean-Marie Le Pen, ehemaliger Fremdenlegionär, Algerienverteidiger mit Foltererfahrung, notorischer Antisemit. Der Sieger Jacques Chirac erhielt im ersten Wahlgang nur 19,9 Prozent, im zweiten Wahlgang dann aber 82,2 Prozent der Stimmen, während sich Le Pen in den beiden Runden nur von 16,9 auf 17,8 Prozent steigern konnte. Zuvor hatte Chirac souverän ein TV-Duell mit Le Pen ablehnen können. Macron jedoch musste sich am Mittwoch einem solchen Zweikampf stellen, und dies dürfte den FN in den Köpfen der Franzosen und Französinnen weiter etabliert haben.
Macht der Gewohnheit
Die Konstellation von 2002 war eine völlig andere. Die Mehrheit der Franzosen und Französinnen waren total schockiert, dass es den rechtsextremen Kräften gelungen war, in die Schlussrunde vorzustossen – und reagierten mit entsprechend geschlossener Abwehrbereitschaft. In diesen Wahlen dagegen macht sich weit und breit kein Schockgefühl bemerkbar. Das hat im Wesentlichen drei Gründe:
- Erstens wurde der Erfolg des FN vorausgesagt, das Übel war also absehbar.
- Zweitens hat man sich an den FN gewöhnt, er hat schon seit Längerem den Status einer Grosspartei, die einfach dazugehört neben den beiden anderen, den Konservativen und den Sozialisten.
- Und drittens ist die Meinung verbreitet, dass die beiden anderen – Sarkozy (2007–2012) und Hollande (2012–2017) – versagt und Frankreich nicht die Kraft zurückgegeben hätten, die es so dringend benötigen würde.
Also, warum nicht einmal Marine Le Pen und ihrem FN eine Chance geben? Die FN-Führerin lässt keinen Moment aus, ihren Gegenspieler als eine Figur des alten Systems zu brandmarken. Dies obwohl der junge Macron mehr neuen Wind in die Politik bringt als der seit Jahrzehnten mit seinen nationalistischen Parolen operierende Front National.
Statt politisch schockiert zu sein, könnten jetzt viele einem ziemlich unpolitischen Reflex erliegen und einer einsamen und tapfer kämpfenden, sich für Frankreich aufopfernden und von allen ausgegrenzten Frau ihre Stimme geben. Dabei können einige an Jeanne d’Arc denken, die im 15. Jahrhundert Frankreich gerettet hat, dann allerdings auf dem Scheiterhaufen endete.
Es dürfte nicht die äussere Erscheinung, es müsste doch das Programm sein, dem Zustimmung oder Ablehnung gilt.
Bei all dem bleibt unklar, ob die Wahl einer Person, einem Programm oder einem Potenzial gilt. Das Einfachste ist der Entscheid für oder gegen ein Gesicht: für die blauen Augen des Monsieur Macron, die blonde Erscheinung der Madame Le Pen etc. Halbernst fragte die «Zeit» in einem Artikel über Macron und seine sympathische Erscheinung in einer Anspielung auf einen bekannten Song «Können diese Augen lügen?». Fragen könnte man sich auch, was die vorzüglich in Marine-blau sauber auftretende Front-Frau alles anrichten vermöge.
Es dürfte nicht die äussere Erscheinung, es müsste doch das Programm sein, dem Zustimmung oder Ablehnung gilt. Orientierungsprobleme ergeben sich für die breite Wählerschaft, weil beide Kandidaten ausdrücklich erklären, weder links noch rechts zu stehen, und beide – natürlich – für Frankreich sind. Hinter den beiden Programmen steht aber das politische Potenzial, das mit dem Wahlsieg des einen oder der anderen weiter gestärkt wird.
Stellt man auf die Potenziale ab, ist es keine Frage, welcher Variante Frankreich und Europa eindeutig den Vorzug geben sollte. Da ist Macron, der abgesehen von seinem klaren Europa-Bekenntnis zwar schwer zu fassen ist, im Vergleich zu Le Pen doch ein geradezu sicherer Wert. Das Potenzial des Front National hat Mélenchon mit dem Wort vom «Flächenbrand» bereits angesprochen.
Braun in Marine-blau
Es wäre nicht das erste Mal, dass in Zeiten der Krise ein extremer Nationalismus in Kombination mit ein wenig Sozialismus eine ganze Gesellschaft in eine Sackgasse führte, aus der nur schwer wieder herauszukommen ist. Die auf Marine-blau setzende Frontistin verwahrt sich dagegen, wenn man die von ihr angeführte Bewegung als braun bezeichnet. Seit sie 2011 die Partei übernommen hat, arbeitet sie an dem, was sie «Entdämonisierung» nennt, während es andere als Schminke abtun, die das wahre Gesicht verdeckt.
Die Bewegung schwankt zwischen verschiedenen Einfärbungen: mal gibt sie sich streng protektionistisch, mal leicht freihändlerisch; mal gibt sie sich als militante Arbeiterpartei (vor allem im Norden Frankreichs), mal als Verteidigerin von Wohlstandsmilieus (vor allem im Süden). Marine Le Pen drapiert sich ist so, dass sie die alte FN-Anhängerschaft nicht verliert, aber junge Wählerschaften hinzugewinnt.
Vor der ersten Wahlrunde sprach sich die FN-Kandidatin für den schnellen Austritt aus dem Euro und aus der EU aus. Jetzt pressiert es plötzlich nicht mehr, jetzt begnügt man sich, dazu ein gelegentliches Referendum in Aussicht zu stellen. Die Medien bezeichnen Marine Le Pen als Chamäleon. Sie mag jeweils ein wenig die Farbe wechseln, der nationalistische und damit fremdenfeindliche und somit zwangsläufig menschenfeindliche Kern ist aber eine Konstante.
Obwohl die heutige Front-Chefin den früheren Front-Chef wegen dessen Antisemitismus aus der Partei geworfen hat, bleibt unklar, wie viel Vater noch in der Tochter steckt. Jedenfalls hat sie Millionen-Beträge von ihm zur Finanzierung ihrer Kampagne zur Verfügung gestellt bekommen.
Spannend wirds mit den Parlamentswahlen
Daniel Cohn-Bendit, deutsch-französischer Doppelcitoyen und unverwüstlicher Optimist, hat bereits vor Monaten einen guten Tropfen auf den Wahlsieg Macrons gewettet. Diese Wette dürfte er, wenn er überhaupt einen Wettkontrahenten fände, gewinnen. Doch auch das wäre wiederum, wie der erste Wahlgang, nur ein Etappensieg. Allerdings einer, der mit Macht ausgestattet und von hoher symbolischer Strahlkraft ist.
Die präsidiale Macht dürfte aber einen Dämpfer erfahren, wenn in den bevorstehenden Wahlen für die Nationalversammlung vom 11. Juni (erster Wahlgang) und 18. Juni (zweiter Wahlgang) 2017 nicht wie üblich eine präsidiale Mehrheit zustande kommt und das Elysée mit einer anderen politischen Kraft eine «cohabitation» eingehen muss.
Wenn der Front National seinen Erfolgsweg wie bisher fortsetzt, wird er 2022 die Präsidentin stellen können.
Dies ist auch darum wahrscheinlich, weil die Macron-Bewegung «En Marche!» noch keine Partei ist und nicht über einen entsprechenden Apparat verfügt. Schon am Abend der ersten Präsidentenrunde erklärten mindestens die rechten Republikaner, auf Kräfteverhältnisse in der Assemblée Nationale hinarbeiten zu wollen, welche die Handlungsfreiheit des Präsidenten einschränken werden. Allerdings wird auch bei diesen Wahlen wiederum ein Zusammengehen der Front-Gegner nötig werden, wenn diese sich im zweiten Wahlgang für gemeinsame Kandidaten entscheiden müssen, um dem FN keine Chancen zu lassen.
Die Geschichte wird auch nach dem Juni 2017 nicht stehen bleiben. Man wird es einem Historiker nachsehen, wenn er in die weitere Zukunft blickt. In fünf Jahren wird es wieder Präsidentenwahlen geben. Wenn der Front National seinen Erfolgsweg wie bisher fortsetzt, wird er 2022 die Präsidentin stellen können. Vielleicht nicht Marine Le Pen, sondern ihre Nichte Marion Maréchal-Le Pen, die dann über eine ähnliche Jugendlichkeit verfügen wird wie der Favorit im Kampf vom kommenden Sonntag. In unseren unstabilen Zeiten wäre das wieder ein Wechsel vom Wechsel.