Wer «Sorgen» der Flüchtlingsfeinde ernst nimmt, stärkt die Neonazis

Der Umgang mit der rechten Gewalt in Deutschland erinnert an die Neunzigerjahre. Einmal mehr verurteilen die Politiker die Gewalttaten und zeigen gleichzeitig Verständnis für die «Sorgen» der Bevölkerung.

Der Vizekanzler und eine «besorgte Bürgerin»: Sigmar Gabriel im Gespräch mit einer Anwohnerin nach seinem Besuch im Asylzentrum Heidenau.

(Bild: Reuters / Matthias Rietschel)

Der Umgang mit der rechten Gewalt in Deutschland erinnert an die Neunzigerjahre. Einmal mehr verurteilen die Politiker die Gewalttaten und zeigen gleichzeitig Verständnis für die «Sorgen» der Bevölkerung.

Die gewalttätigen Proteste gegen die Flüchtlinge nehmen von Tag zu Tag schlimmere Ausmasse an. Der Ortsname Heidenau ist zum Synonym dafür geworden. Ich fühle mich an die Neunzigerjahre erinnert. Es begann mit Gewalt gegen Flüchtlinge und führte zum «Nationalsozialistischen Untergrund» (NSU), jener terroristischen Organisation, deren Mitgliedern insgesamt zehn Morde zur Last gelegt werden.

In den Neunzigern reagierten CDU und SPD auf die Gewalttaten und verschärften das Asylrecht. Die Begründung, man müsse die Sorgen der Bevölkerung ernst nehmen, wirkte schlimm angesichts der Gewaltbereitschaft jener, die damals Flüchtlingsheime angriffen. Auch die merkwürdig anmutende Bereitschaft der Polizei und der Staatsanwaltschaften, nach Tätern überall zu suchen, nur nicht in der rechtsextremen Szene, muss wie eine Ermutigung für Neonazis gewirkt haben.

Was machen CDU und SPD heute eigentlich anders? Sigmar Gabriel, immerhin SPD-Chef und Vize-Kanzler, erklärte, dass Pegida (Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes) zu Deutschland gehöre. Zu den Organisatoren dieser «Bürgerbewegung» gehören einschlägig bekannte Neonazis. Auch ein angebliches Recht, deutschnational zu sein, hat Gabriel schnell einmal postuliert.

Was glauben denn die Leute? Dass sie in der gesellschaftlichen Verteilungsordnung besser wegkommen, wenn es keine Flüchtlinge mehr gibt?

Natürlich ist Sigmar Gabriel gegen gewalttätige Proteste, wie wir sie jetzt erleben. Aber dass die mit der Rhetorik vom Verständnis für Sorgen zu tun haben könnten – dieser Gedanke ist ihm fremd. Der Bundespräsident Joachim Gauck macht genau die gleiche, fatale Unterscheidung zwischen abzulehnender Gewalt und verständlichen Sorgen gegenüber der Aufnahme von Flüchtlingen.

Es sind diese – ob sie nun verständlich seien oder nicht – Sorgen, mit denen sich die Neonazis aufmunitionieren. Am klarsten war die Stellungnahme der Bundeskanzlerin gegen Pegida. Meine Kritik an ihr bezieht sich – das mag paradox wirken – auf ihr Schweigen zu den «Sorgen»: Es wird endlich Zeit, auch einmal die «Sorgen» zu kritisieren. Was glauben denn die Leute eigentlich, von Stereotypen einmal abgesehen? Dass sie in der gesellschaftlichen Verteilungsordnung besser wegkommen, wenn es keine Flüchtlinge mehr gibt?

Die «Saubermänner» töten auch Polizistinnen

Auch der nächste Schritt des Establishments erinnert an die Neunzigerjahre. Was damals der Asylkompromiss war, ist nun die bürokratische Phantasie (so etwas gibt es anscheinend wirklich), «sichere Herkunftsstaaten» zu kreieren. Dabei weiss jede und jeder, dass in den Balkan-Staaten Roma nicht einfach nur eine diskriminierte Minderheit sind; für sie gibt es auch keinen staatlichen Schutz gegen rassistisch motivierte Gewalttaten, die Polizei interessiert sich oft genug nicht für sie. Stattdessen gibt es hierzulande die Geschichte von der «Einwanderung in die Sozialsysteme», ein nur dürftig bemäntelter Antiziganismus.

Schliesslich bemerken «Experten» wie Gordian Meyer-Plath, der Chef des sächsischen Verfassungsschutzes, eine neue Dimension der Gewalt: Früher hätten sich Rechtsextreme bemüht, gegenüber der Polizei als «Saubermänner» aufzutreten. Wie bitte? Ist dem Behördenleiter denn wirklich entgangen, dass sich auch eine Polizistin unter den Mordopfern des NSU befand?

Aber dieses Versagen vieler verantwortlicher Politiker und Politikerinnen verstellt auch den Blick auf ein anderes Problem, bei dem die Europäische Union als Ganzes versagt. Insbesondere durch den Bürgerkrieg in Syrien und den Krieg gegen den Islamischen Staat (IS) ist die Zahl derjenigen, die Sicherheit in Europa suchen, sprunghaft gestiegen. Es werden auch in absehbarer Zeit nicht weniger werden. Nur was tut die EU?

Die Staaten der EU wollen keine wirkliche Änderung hin zu einer humanen Flüchtlingspolitik, weil sie sich dann in Konfrontation mit den Flüchtlingsfeinden begeben müssten.

Sie will ihr System der Flüchtlingsabwehr durch Frontex optimieren, denkt auch schon einmal offen über Militäraktionen vor der Küste Libyens nach und ist nicht einmal in der Lage, einen gerechten Verteilungsschlüssel für die Kosten für Flüchtlinge in Europa hinzubekommen. Das Mittelmeer, das wir Deutschen aus dem Urlaub kennen, ist zum Grab vieler Menschen geworden, die ihr Leben in Sicherheit bringen wollten.

Die Staaten der EU wollen keine wirkliche Änderung hin zu einer humanen Flüchtlingspolitik, weil sie sich dann in Konfrontation mit den Flüchtlingsfeinden begeben müssten. Deutsche Innenpolitiker schüren auch hier Angst: Unter den Flüchtlingen könnten auch getarnte IS-Terroristen stecken. Hier schliessen sich Pegida und politisches Establishment diskursiv zusammen.

Deutschland gehört zu den führenden Waffenexporteuren. Es gibt so gut wie keinen kriegerischen Konflikt, bei dem nicht auch deutsche Waffen auftauchen. Vor den Folgen, wie beispielsweise der Ankunft von Flüchtlingen, darf man sich nicht wegducken. So viel Moral muss man verlangen können. Das Wichtigste aber ist, dass endlich die Fluchtursachen wie Krieg, Hunger, Not und Rassismus wirksam bekämpft werden. Wenn wir diese Probleme nicht ernsthaft angehen, werden sie täglich verschärfter zu uns kommen, bis sie unbeherrschbar werden.

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