Die EU-Kommission stellt der Türkei ein vernichtendes Zeugnis aus. Serbien und der Kosovo werden gelobt. Mit Albanien sollen bald Beitrittsgespräche aufgenommen werden.
Einmal jährlich beurteilt die EU-Kommission in Brüssel die Fort- und Rückschritte in den Staaten, die eine Mitgliedschaft in der Union anstreben. Auch nach dem Brexit befinden sich noch sieben Staaten in der EU-Warteschlange. Mit der Türkei, Montenegro und Serbien werden schon Verhandlungen geführt, während Mazedonien und Albanien noch darauf warten. Bosnien-Herzegowina und der Kosovo gelten nur als «potenzielle Kandidaten». Eine Übersicht.
Türkei
Mit der Unterdrückung der freien Presse treibt Präsident Erdogan nicht nur erboste Leser auf die Strasse, er verspielt auch die Chancen auf einen EU-Beitritt. (Bild: Getty Images/Basin Foto Ajansi)
Der Bericht zur Türkei ist über hundert Seiten dick und fällt erwartungsgemäss vernichtend aus. Detailliert wird beschrieben, wie nach dem Putschversuch alle Bereiche des öffentlichen Dienstes, die Medien und auch private Unternehmen von angeblichen Anhängern der Gülen-Bewegung und der PKK gesäubert werden. Trotz bürokratischer Sprache und einiger Schönfärbereien geht aus dem Bericht deutlich hervor, dass sich die Türkei radikal von der EU entfernt hat.
Bei den Themen Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte sieht die Kommission massive Rückschritte. Die derzeit diskutierte Wiedereinführung der Todesstrafe verstosse klar gegen Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Erweiterungskommissar Johannes Hahn kommentiert die jüngsten Ereignisse: «Wir sind ernsthaft besorgt über die Lage der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nach dem gescheiterten Putschversuch. In ihrem eigenen Interesse muss die Türkei aufhören, sich von der EU zu entfernen.»
All das ist nicht neu, aber die EU-Kommission zeigt mit dem Bericht, dass die Alarmglocken auch in Brüssel gehört werden. Laut der EU-Aussenbeauftragten Federica Mogherini werden die jüngsten Ereignisse in der Türkei aber keine Konsequenzen nach sich ziehen. Zwar sei die Entwicklung «besorgniserregend», doch Brüssel sei weiterhin bereit, den Dialog «auf allen Ebenen» fortzuführen.
Aus dem Bericht geht auch hervor, warum die EU-Kommission die Verhandlungen fortführt: Die Türkei hat rund drei Millionen Flüchtlinge aufgenommen und solange die nicht nach Europa kommen, will die EU an den Verhandlungen festhalten. Im Gegenzug erhofft sich das Erdogan-Regime intensivere Handelsbeziehungen, Visafreiheit für türkische Staatsbürger und finanzielle Hilfe.
Die Fortsetzung der Verhandlungen droht derzeit an der türkischen Seite zu scheitern. Recep Tayyip Erdogan forderte die Union auf, direkt eine Entscheidung über den EU-Beitritt zu fällen, und sagte unter anderem: «Die Nazis seid ihr.»
EU-Aussicht: Derzeit keine.
Albanien
In Albanien wurde dieses Jahr Cannabis im Wert von Milliarden Euro vernichtet. Trotzdem müsse bei der Bekämpfung der Drogenkriminalität noch mehr geschehen, schreibt die EU. (Bild: AP Photo/Hektor Pustina)
Als Albanien im Sommer 2014 den offiziellen Kandidatenstatus erhielt, wurde das in Tirana auf den Strassen gefeiert. Im aktuellen Bericht empfiehlt die EU-Kommission nun die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen und lobt Albanien für seine Fortschritte.
Bei der Umsetzung der Justizreform habe es solide Fortschritte gegeben, jedoch bestünden Defizite bei der Überprüfung von Richtern und Staatsanwälten. Auf diesen Posten sässen noch immer Personen, denen Abhängigkeit von organisierten Verbrechen und Korruption vorgeworfen werde. Die EU-Kommission betont zudem, die kommenden Wahlen im Jahr 2017 genau beobachten zu wollen. Auf dem Papier sei es um die Menschenrechte in Albanien zwar gut bestimmt, insgesamt gebe es aber noch massive Probleme bei der Umsetzung.
Den Kandidatenstatus erhielt Albanien erst, nachdem im September 2016 eine immense Cannabisplantage in Lazarat im Süden des Landes zerstört wurde. Dabei soll Cannabis im Wert von 4,5 Milliarden Euro vernichtet worden sein, was rund der Hälfte des offiziellen albanischen Bruttoinlandprodukts entspricht. Die EU-Kommission sagt, es habe Fortschritte bei der Bekämpfung der Drogenkriminalität gegeben, wobei hier noch Luft nach oben vorhanden sei. Damit die Verhandlungen mit Albanien aufgenommen werden, müssen alle 28 Mitgliedsstaaten zustimmen.
EU-Aussicht: Weit entfernt, aber auf dem richtigen Weg.
Bosnien-Herzegowina
Die berühmte Brücke von Mostar wird auch für Wettkämpfe genutzt. So richtig verbindet sie die verschiedenen Volksgruppen aber nicht. (Bild: AP Photo/Amel Emric)
Für die anhaltende Stagnation in Bosnien-Herzegowina findet die EU-Kommission blumige Worte. Das Land sei in einer «frühen Phase der Herausbildung einer funktionierenden Marktwirtschaft». Ausserdem sei Bosnien-Herzegowina auf einem «gewissen Stand» bei der Vorbereitung des Kampfs gegen Korruption und das organisierte Verbrechen sowie bei der «Schaffung rechtsstaatlicher Prinzipien und der Etablierung von Minderheitenrechten». Im Klartext bedeutet das: Bosnien-Herzegowina hat in den vergangenen Jahren keinerlei Fortschritte auf dem Weg zur EU-Mitgliedschaft gemacht hat.
In der Stadt Mostar können seit Jahren nicht einmal Lokalwahlen stattfinden, weil Bosniaken und bosnische Kroaten sich auf kein Verfahren einigen konnten. Menschen die sich nicht als Bosniaken, Kroaten oder Serben identifizieren, können sich erst gar nicht auf bestimmte politische Ämter bewerben. Der europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschied bereits im Jahr 2009 auf eine Klage von Vertretern der jüdischen Gemeinde und der Roma, dass diese Praxis nicht rechtskonform ist und alle Ämter auch Vertretern von Minderheiten offenstehen müssen. Implementiert wurde das Urteil auch nach sieben Jahren noch nicht.
Die EU-Kommission spricht von «tief verwurzelten» Strukturproblemen und meint damit, dass die politischen Eliten kein Interesse an einer EU-Annäherung haben, weil dies ihre Machtbasis gefährden könnte.
EU-Aussicht: Sehr schlecht.
Serbien
Serbien steht einem EU-Beitritt am nächsten. Insbesondere seinen Umgang mit Flüchtlingen auf der Balkan-Route (hier mit Sozialminister Aleksandar Vulin, links) hebt die EU-Kommission lobend hervor. (Bild: AP/Zoltan Balogh)
Serbien verhandelt seit Januar 2014 über einen EU-Beitritt. Der schwierigste Teil der Verhandlungen ist Kapitel 35, bei dem es um eine Normalisierung der Beziehung zwischen Serbien und dem Kosovo geht. Serbien erkennt die Unabhängigkeit des Kosovo nicht an und betrachtet das Land weiterhin als sein Staatsgebiet.
Auch bei der konkreten Umsetzung der Rechtsstaatlichkeit bestehen in Serbien Probleme. EU-Kommissar Johannes Hahn betont jedoch: «Serbien hat Fortschritte bei der Rechtsstaatlichkeit und der Normalisierung der Beziehungen zum Kosovo gemacht. An diesen beiden Fragen hängt die Zukunft der Verhandlungen.»
Die Korruptionsbekämpfung, die sich der amtierende Premierminister Aleksandar Vučić auf die Fahne geschrieben hat, bleibt laut dem EU-Fortschrittsbericht «bedeutende Resultate» schuldig. Auch bei der Meinungsfreiheit wurden laut EU-Kommission keine Fortschritte erzielt. Ein grosser Teil der Medien wird direkt oder indirekt von der Regierungspartei kontrolliert.
Obwohl Serbien inzwischen eine lesbische Ministerin vorzuweisen hat, betont Brüssel, dass die Lebenssituation für LGBT-Personen weiterhin schlecht sei. Auch die Lebenssituation von Roma, HIV-Infizierten und anderen diskriminierten Gruppen muss demnach besser werden.
Die Privatisierungen von Staatsunternehmen und die Verringerung der Neuverschuldung hebt die EU-Kommission ebenso positiv hervor wie die humanitäre Hilfe, die Serbien während der Flüchtlingskrise geleistet habe. Allerdings bemängelt die Kommission, dass die Anzahl von Asylsuchenden aus Serbien in EU-Staaten noch zu hoch sei.
Brüssel stellt Serbien die Eröffnung weiterer Verhandlungs-Kapitel in Aussicht und betont, die Regierung sei einem EU-Beitritt einen «grossen Schritt näher gekommen».
EU-Aussicht: Gut.
Montenegro
Die Tiere sind nicht echt, doch die Absicht ist ernst: Montenegro strebt einen Beitritt zur Nato an und hält darum schon mal Übungen mit den Bündnisstaaten ab. (Bild: EPA/BORIS PEJOVIC)
Die EU-Kommission schreibt, dass die Wahlen in Montenegro im vergangenen Oktober «im Wesentlichen» nach rechtsstaatlichen Standards verlaufen seien. Das ist verwunderlich, weil im Bericht an anderer Stelle bemängelt wird, dass am Wahltag Mobilfunkanbieter angewiesen wurden, Messenger-Dienste wie WhatsApp und Viber zu sperren.
Laut dem Bericht sind «grosse Anstrengungen» notwendig um eine «Depolitisierung des öffentlichen Dienstes» zu erreichen. Das liegt daran, dass in Montenegro, ähnlich wie bei den anderen Beitrittskandidaten aus dem westlichen Balkan, Posten im öffentlichen Dienst nach Parteibuch vergeben werden. Die Implementierung der Gesetzgebung lasse zu wünschen übrig. Der Kampf gegen Korruption, organisiertes Verbrechen und die Diskriminierung von Roma habe kaum Fortschritte erzielt.
Bezüglich der mangelhaften Pressefreiheit seien keinerlei Fortschritte erzielt worden. Physische Angriffe auf Journalisten seien weiterhin an der Tagesordnung. Zudem ist Brüssel über die wirtschaftliche Situation besorgt. Zwar wächst die Wirtschaft dieses Jahr um 5,1 Prozent, doch dieses Wachstum ist durch eine massive Neuverschuldung erkauft. Angesichts der «steigenden Staatsverschuldung» fordert Brüssel eine «restriktivere Ausgabenpolitik und Verbesserung der Einnahmen».
Die Verhandlungen mit Montenegro sind am weitesten fortgeschritten und das Land wird wohl bald der Nato beitreten. Es bestehen aber strukturelle Probleme, an denen ein Fortschritt der Verhandlungen scheitert.
EU-Aussicht: Grundsätzlich gut, aber stagnierend.
Kosovo
Im Kosovo scheut sich die nationalistische Oppositionspartei Vetëvendosje nicht, das Parlament immer wieder mit Tränengas lahmzulegen. (Bild: AP Photo/Visar Kryeziu)
Der Kosovo wird von fünf EU-Staaten nicht anerkannt und ist noch kein offizieller Beitrittskandidat. Dennoch konnte der jüngste Staat Europas kleine Fortschritte erzielen. Im April trat ein Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen in Kraft. Ausserdem habe Priština «grosse Fortschritte in der Erfüllung der Voraussetzungen für eine Visaliberalisierung erreicht». Dafür gibt es Lob von der Kommission.
Bezüglich der Menschenrechtssituation wurden 2015 Gesetze verabschiedet, die vor allem die Situation der LGBT-Community verbessern sollen. Umgesetzt werden sie aber kaum. Die EU-Kommission merkt kritisch an, dass eine «starke Polarisierung zwischen Regierung und Opposition» bestehe. Gemeint ist damit die nationalistische Oppositionspartei Vetëvendosje, welche die Parlamentsarbeit mehrfach durch Tränengasangriffe unterbrach und offen zu Ausschreitungen aufrief. Der Kosovo sei noch «ganz am Anfang bei der Schaffung rechtsstaatlicher Strukturen und dem Kampf gegen Korruption».
EU-Aussicht: Noch weit entfernt, aber mit kleinen Besserungen.
Mazedonien
Der damalige mazedonische Premierminister Nikola Gruevski handelte 2015 mit der EU einen Deal für faire Wahlen aus, hielt sich aber nicht daran. Nach anhaltenden Protesten musste er Anfang 2016 den Hut nehmen. (Bild: EPA/GEORGI LICOVSKI)
Laut dem Bericht der EU-Kommission befindet sich Mazedonien in der «schwersten politischen Lage seit 2001», als fast ein Krieg zwischen Mazedoniern und Albanern ausgebrochen wäre. Demokratie und Rechtsstaatlichkeit stehen in Mazedonien demnach vor ernsthaften Herausforderungen.
Sorgen, dass «eine Vereinnahmung des Staates die demokratisch funktionierenden Institutionen und Schlüsselelemente der Gesellschaft» beeinflusse, bleiben bestehen. Das Land müsse vor allem bei den vorgezogenen Parlamentswahlen im Dezember das sogenannte Pržino-Abkommen vom Juli 2015, das unter anderem einen glaubwürdigen Urnengang vorsieht, «vollständig umsetzen». Das Abkommen wurde einst von EU-Kommissar Johannes Hahn vermittelt, der entnervt das Handtuch warf, weil der damalige mazedonische Machthaber Nikola Gruevski sich nicht an den Deal halten wollte.
Ob am 11. Dezember 2016 faire und freie Wahlen stattfinden, wird darüber entscheiden, ob Mazedonien noch eine EU-Perspektive hat und die andauernde Staatskrise ein Ende findet. Viele Menschen in Mazedonien fürchten sich davor, bald in einer richtigen Diktatur aufzuwachen.
EU-Aussicht: Immer schlechter.