Im Reich der Mitte boomt die Wirtschaft, der Wohlstand wächst. Eine Blüte auf Zeit, sagen Ökonomen. Aber nicht alle.
Die Weltwirtschaft lässt sich mit einem dreibeinigen Stuhl vergleichen: Europa, die Vereinigten Staaten und die aufstrebenden Schwellenländer, angeführt von China. Zwei dieser Beine sind mehr als wacklig geworden. Europa versinkt immer tiefer in der Eurokrise, die USA werden immer mehr Gefangene ihrer politischen Blockade. Als einzig intaktes Bein bleibt anscheinend China.
Es hat die Finanzkrise mühelos gemeistert und glänzt nach wie vor mit einem Wachstum des Bruttoinlandprodukts von gegen zehn Prozent. Die wirtschaftliche Leistung weckt über alle ideologischen Gräben hinweg Anerkennung. Was sich im Reich der Mitte in den letzten drei Jahrzehnten abgespielt hat, ist das grösste Wirtschaftwunder in der Geschichte der Menschheit. Hunderte von Millionen Menschen sind innert weniger Jahrzehnte von der Steinzeit in die Moderne katapultiert worden. Für Chinas jüngste Generation sind Laptops, Smartphones und iPads fast so selbstverständlich geworden wie bei uns, und nirgends tummeln sich mehr Leute im Internet als in China. Dabei waren die Eltern dieser Generation noch zufrieden, wenn sie genug zu essen hatten, und das war in der Regel kaum mehr als eine Schale Reis.
Nun steht die «Generation von Kaiserinnen und Kaisern» – so benannt, weil es sich um behütete Einzelkinder handelt – vor einer ungewissen Zukunft.
Ökonomen und Politologen streiten sich heftig darüber, ob dem chinesischen Modell die Zukunft gehört oder nicht. Die Positionen könnten unterschiedlicher nicht sein. Für die einen hat China die Zitrone mehr oder weniger ausgepresst. Wenn es nicht zu grundlegenden strukturellen Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft kommt, dann plumpst das Land in die «Falle der mittleren Einkommen». Die auf Exporte getrimmte Wirtschaft wird stagnieren, und das wiederum wird zu Verteilkämpfen führen, weil sich im nach wie vor kommunistischen Land grosse Wohlstandsunterschiede herausgebildet haben.
Gegen die Wand
Für die anderen ist dies eine westliche Sicht, die nichts mit der östlichen Realität zu tun hat. Diese sieht wie folgt aus: Nach ein paar Hundert schlechten Jahren ist China wieder, was es bereits einmal war, eine hoch zivilisierte Weltmacht, die keinen Vergleich mit dem Westen zu scheuen braucht.
Daron Acemoglu und James A. Robinson sind zwei Ökonomieprofessoren, die an der Harvard University tätig sind. In ihrem kürzlich veröffentlichten Buch «Why Nations Fail» gehen sie der Frage nach, warum sich einzelne Staaten entwickelt haben und andere nicht. Sie sind vehemente Vertreter der «China fährt gegen eine Wand»-These.
So stellen sie fest: «Das chinesische Wachstum wird wahrscheinlich bald zu Ende sein, vor allem dann, wenn der Lebensstandard eines Landes mit mittleren Einkommen erreicht sein wird.»
Wie kommen sie zu dieser Aussage? Acemoglu/Robinson unterscheiden zwei Arten von Staaten, inklusive und extraktive. Den Unterschied kann man am Beispiel der Bank of England erklären. Sie wurde gegen Ende des 17. Jahrhunderts von König William III. ins Leben gerufen, und zwar mit folgender Absicht: Der König war pleite und brauchte Geld. Gleichzeitig gab es damals schon in England ein aufstrebendes Bürgertum mit wohlhabenden Händlern und Geschäftsleuten. Bisher hatten Könige stets zu extraktiven Mitteln gegriffen, will heissen: Sie hatten willkürliche Steuern und Abgaben erhoben, um so an das Geld der Händler und Geschäftsleute zu kommen.
William III. hatte diese Möglichkeiten nicht mehr. Zu schwach war seine Position nach der «gloriosen Revolution» geworden. Also griff er zwangsläufig zu inklusiven Mitteln. Er bot seinen Bürgern folgenden Deal an: Ihr gebt mir Geld und ich gebe euch dafür einen anständigen Zins. Auf diese Weise wurden die Notenbank und der Anleihemarkt geboren.
Im gleichen Boot
Auf diese Weise wurde auch der Grundstein des britischen Empire gelegt. Während Königshaus und Bürgertum sich zuvor misstrauisch belauert hatten, waren sie jetzt im gleichen Boot. Ging es dem König gut, ging es auch dem Mittelstand gut. Dann konnte er Staatsanleihen samt Zins pünktlich zurückzahlen. Umgekehrt konnte sich der König darauf verlassen, dass er von seinen Bürgern stets genug Geld zu vernünftigen Bedingungen leihen konnte. Die «gloriose Revolution» der Engländer im Jahr 1688 war deshalb mehr als ein Umsturz. Sie hat England von einem extraktiven zu einem inklusiven Staat gemacht, in dem verschiedene Interessen friedlich koexistieren konnten. Es ist deshalb kein Zufall, dass die grösste Wohlfahrtsmaschine der Menschheit, die industrielle Revolution, auf den britischen Inseln stattgefunden hat.
China hingegen hat gemäss Acemoglu/Robinson den Übergang von einer extraktiven zu einer inklusiven Gesellschaft nicht geschafft. «Selbst wenn die wirtschaftlichen Institutionen Chinas heute unvergleichlich inklusiver sind als vor drei Jahrzehnten, ist die chinesische Erfahrung nach wie vor ein Beispiel von Wachstum unter extraktiven politischen Institutionen», stellen sie fest. Nur im Extremfall sind extraktive Staaten unfähig, Wachstum zu generieren.
Party bald vorbei
Selbst unter Zwangsbedingungen kann eine Volkswirtschaft in der Regel wachsen, zumindest anfänglich. Das hat die Sowjetunion unter Stalin bewiesen. Für Acemoglu/Robinson ist China eine verbesserte Ausgabe dieses Modells. «Natürlich ist das chinesische Wachstum bedeutend breiter gestreut, als es das sowjetische war», stellen sie fest. «Trotzdem wird diesem Wachstum die Luft ausgehen. Es sei denn, die extraktiven politischen Institutionen weichen inklusiven. So lange die politischen Institutionen extraktiv bleiben, wird das Wachstum zwangsläufig beschränkt bleiben, genau wie dies in andern ähnlichen Fällen geschehen ist.»
Richard McGregor, langjähriger China-Korrespondent der «Financial Times», kommt in seinem hochgelobten Buch «The Party» zum gleichen Schluss. Für ihn ist die Kommunistische Partei von China eine Partei nach klassisch-leninistischem Muster, die das Land fest im Griff hat: Sie kontrolliert jede wichtige personelle Entscheidung im Land, die Propaganda und selbstverständlich auch die Armee. Und die Partei denkt nicht im Traum daran, diese Macht freiwillig abzugeben.
Heisst dies, dass sich China fast zwangsläufig zu einer demokratischen Gesellschaft wandeln muss? Überhaupt nicht, darin sind sich McGregor und Acemoglu/Robinson einig. Herrschende Eliten verteidigen in extraktiven Staaten ihre Macht meist mit Erfolg, «gloriose Revolutionen» sind die Ausnahme, nicht die Regel. «Wir sollten uns nicht darauf verlassen, dass autoritäres Wachstum zu Demokratie oder inklusiven Institutionen führt», stellen Acemoglu/Robinson fest. «China, Russland und verschiedene andere autoritäre Regimes, die zurzeit ein Wachstum erleben, werden wahrscheinlich dieses Wachstum bis zum Äussersten ausreizen, bevor sie die politischen Institutionen in eine inklusive Richtung lenken.»
Sollten McGregor und Acemoglu/Robinson recht behalten, dann hat selbst Chinas «kaiserliche Generation» bald nichts mehr zu lachen. Aber vielleicht ist ja alles auch ganz anders.
Westliche Arroganz
Das zumindest ist die Kernthese von Martin Jacques Bestseller «When China Rules the World». Jacques gehört zu den führenden britischen Intellektuellen und war einst Chefredaktor des in den 70er- und 80er-Jahren einflussreichen Magazins «Marxism Today».
Für Jacques spielt sich ein vermeintlicher Untergang Chinas nur in westlichen Köpfen ab. «Wir im Westen spüren, dass sich im Osten etwas Gewaltiges verändert», sagt er. «Aber wir haben grosse Mühe, es einzuordnen und zu verstehen. Vorherrschend ist eine zwiespältige Reaktion: Einerseits gibt es die weit verbreitete Überzeugung, dass der Westen am Ende ist. Andererseits gibt es nach wie vor die westliche Arroganz, dass sich alles um uns dreht. Schliesslich haben wir den Rest der Welt herumgeschubst, so lange wir uns erinnern können.»
Die Wurzel des Übels liegt gemäss Jacques darin, dass Chinas Staatsverständnis sich schlicht nicht mit westlichen Kriterien fassen lässt. «Der Staat ist in China immer sehr viel wichtiger gewesen als im Westen. Zusammen mit der Familie ist er die wichtigste Institution», sagt er. «Die Partei ist in der Tradition der Kaiser zu betrachten: Sie hat für das Wohlergehen der Menschen zu sorgen.» Einen Vergleich mit der KPdSU hält er für unsinnig: «Das moderne China ist in erster Linie ein äusserst erfolgreicher Staat und die Chinesen sind absolute Meister in der Kunst der Staatsführung.»
Zudem hat sich die geopolitische Weltlage völlig verändert hat. Der Kalte Krieg ist vorbei, und China denkt nicht im Traum daran, sich auf ein Wettrüsten mit den USA einzulassen. «Damals lebten wir in einer bipolaren Welt. Heute hingegen leben wir in einer globalisierten Weltwirtschaft, deshalb müssen China und die USA kooperieren, ob sie wollen oder nicht», sagt Jacques. Die Sowjetunion hat sich im Supermachts-Wahn zu Tode gerüstet, die USA sind im Begriff, sich damit ebenfalls zu ruinieren. Das ist Peking nicht entgangen. «Wegen den hohen Militärausgaben vernachlässigen die Amerikaner ihre Infrastruktur und bilden ihre Jugend lausig aus», sagt Jacques. «Die Chinesen werden diese Dummheit nicht kopieren. Es entspricht zudem nicht ihrem Denken und ihrer Tradition. Die Chinesen demonstrieren ihre Macht nicht mit Waffen, sondern mit ihren kulturellen Errungenschaften und ihrer grossartigen Zivilisation.»
Quellen
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 17.08.12