Wie Basler Frauen in Bosnien einen Unterschied machen

Nach dem Ende des Bosnienkrieges rief die Hilfsorganisation Amica Schweiz ein Hilfsprojekt für kriegstraumatisierte Frauen in Tuzla ins Leben. Nach über 20 Jahren existiert das Basler Projekt noch immer. Unser Korrespondent hat zwei Workshops vor Ort besucht.

(Bild: Chris Grodotzki / jib collective)

Nach dem Ende des Bosnienkrieges rief die Hilfsorganisation Amica Schweiz ein Hilfsprojekt für kriegstraumatisierte Frauen in Tuzla ins Leben. Nach über 20 Jahren existiert das Basler Projekt noch immer. Unser Korrespondent hat zwei Workshops vor Ort besucht.

In Tuzla kehrt der Bosnienkrieg an jedem 11. des Monats zurück: In der Innenstadt versammeln sich dann die Menschen, um den Opfern der Massaker in Srebrenica vom 11. Juli 1995 zu gedenken. Sie halten Fotos und Schilder mit den Namen der ermordeten Männer und Buben in die Luft. Über 8000 Männer im Alter zwischen 13 und 78 Jahren wurden von den Truppen des Kriegsverbrechers Ratko Mladić auf ihrem Weg in die vermeintliche Sicherheit ermordet.

Andrea von Bidder aus Basel konnte nicht fassen, was in Bosnien-Herzegowina damals geschah, und beschloss zu handeln, um den Hinterbliebenen zu helfen: «Als die Medien 1993 und 1994 von den Massenvergewaltigungen berichteten, haben sich Tausende Menschen in Basel versammelt, um gegen den Krieg zu demonstrieren.» Ihr und vielen Gleichgesinnten reichte das nicht. Sie wollten nicht demonstrieren, sie wollten etwas tun. «Das war die Geburtsstunde von Amica Schweiz», erinnert sich die 67-Jährige.

«Wir können nicht nur demonstrieren, wir müssen auch etwas tun», dieser Gedanke war die Geburtsstunde von Amica, sagt Andrea von Bidder.

Von Bidder und ihre Mitstreiterinnen begannen, psychologische Betreuung für kriegstraumatisierte Frauen in Bosnien zu organisieren. Die Wahl für das Projekt fiel nicht zufällig auf Tuzla: «Nach dem Fall von Srebrenica hat Tuzla viele traumatisierte Musliminnen aufgenommen. Deswegen haben wir uns für Tuzla entschieden», erklärt von Bidder. Sie selbst war zwischen 1999 und 2015 Geschäftsführerin der Hilfsorganisation Amica Schweiz. Heute amtet die ehemalige Landrätin als Präsidentin des Vereins.

Das Ergebnis dieser Initiative lebt bis heute fort. Neben dem pannonischen See, wo die Altstadt von Tuzla beginnt, steht ein dreistöckiges Gebäude in der Klosterska 13. Ivona Erdeljac öffnet mit einem Lächeln im Gesicht die Tür: «Herzlich willkommen bei Amica Educa.»

Die 40-jährige Programmdirektorin begann 1996 kurz nach dem Friedensvertrag von Dayton als Übersetzerin für Amica Educa zu arbeiten. Damals war sie gerade 19 Jahre alt und kehrte als Kriegsflüchtling aus Deutschland nach Tuzla zurück. Und sie war nicht allein.

Psychiater, Psychologen und Experten kamen aus der Schweiz, Deutschland und den Niederlanden, um Interessierte in der Traumatherapie auszubilden. Nach drei Jahren nahmen die Frauen in Tuzla dann selbst das Ruder in die Hand – heute ist Amica Educa eine lokale Organisation.

Das Angebot von damals hat auch Erdeljac genutzt, sie spezialisierte sich auf den Umgang mit kriegstraumatisierten Frauen: «Eines der grössten Probleme ist die Apathie. Sie sehen keine Zukunft mehr und sind unmotiviert. Wir wollen ihnen dabei helfen, sich selbst zu helfen und einen Ausweg aus ihrer Situation zu suchen.»

Dass das Engagement durchaus erfolgreich ist, weiss Andrea von Bidder aus erster Hand. Sie kommt jedes Jahr für eine Woche aus Basel nach Tuzla, um das Projekt zu begleiten und die Kolleginnen zu besuchen. Sie sagt nicht ohne Stolz: «Amica hat viel erreicht. Ich habe damals traumatisierte Frauen getroffen, die sagten, sie könnten nie wieder lachen. Später habe ich dann aber sehr viel mit ihnen lachen können.»

Heute geht das Programm von Amica Educa in Tuzla weit über die Traumatherapie hinaus. Am Samstagmittag versammeln sich zehn Frauen im Alter zwischen 25 und 55 Jahren, um an einem Digitalkurs für marginalisierte Frauen teilzunehmen. Frauen, die gesellschaftlich ausgeschlossen sind, unter Gewalterfahrungen oder Kriegstraumata leiden, werden im Umgang mit Computern geschult.

Teil des Programms ist es auch, die Frauen psychisch zu unterstützen und ihnen dabei zu helfen, sich selbst zu finden, erklärt Erdelja: «Die Teilnehmerinnen sollen nicht nur für den Beruf, sondern auch für ihr Privatleben gestärkt werden.»

Bei der ersten Übung sitzen sich je zwei Frauen gegenüber und erhalten ein A4-Blatt, das beide festhalten. Sie sollen sich etwas wünschen und diese Wünsche mit ihrem Gegenüber besprechen. Die Herausforderung: Das A4-Blatt soll möglichst ganz bleiben, aber diejenige, die am Ende das Blatt in Händen hält, deren Wunsch geht in Erfüllung. Manche Blätter bleiben ganz, andere werden zerrissen.

Einblick in die Arbeit, aber auch in die Wirkung des Engagements, zeigt dieses Video:
 

Nach der Übung berichten die Frauen über ihre Wünsche. Die älteren Teilnehmerinnen wünschen sich eine bessere Zukunft und eine Perspektive für ihre Kinder. Einen Job, eine funktionierende Ehe. Eine der Teilnehmerinnen durchbricht diese Logik: «Wir Frauen haben jahrelang immer nur für andere gelebt und geschuftet, jetzt sind auch wir mal dran.» Alle im Seminar beginnen zu nicken.

Die jüngeren Teilnehmerinnen berichten darüber, dass sie eine Arbeit finden und etwas von der Welt sehen wollen. Das bestimmende Thema ist die Perspektivlosigkeit in einer Stadt, deren Arbeitslosenquote bei rund 40 Prozent liegt und in der viele nicht mehr als 250 Franken im Monat verdienen. In der das Kohlekraftwerk so viele Abgase in die Luft bläst, dass an manchen Tagen die Schulen wegen Smog geschlossen bleiben müssen und sich Lungenkrankheiten ausbreiten.

Die Seminare und Angebote von Amica Educa werden jedes Jahr von über 300 Personen in Anspruch genommen, wobei 90 Prozent weiblich sind: «Männer sind bei uns auch willkommen», sagt Erdeljac, «aber sie haben grössere Probleme, Hilfe zu suchen und sich dafür zu öffnen.»

Thematisch konzentriert sich Amica Educa auf psychologische Ausbildung, psychologische Betreuung und Gender. Beim Thema Gender spielt neben der sozialen Inklusion von marginalisierten Frauen die Gewaltprävention eine Hauptrolle. Dieses Thema will Amica auch vertiefen und weitere Programme anbieten. Der Grund ist so simpel wie traurig: «Wir orientieren uns an den Problemen der Menschen in der Stadt, und in diesem Gebiet sehen wir Handlungsbedarf», sagt Erdeljac.

Den gefühlten Handlungsbedarf belegt das Gender Country Profile der EU-Kommission von Juli 2014 mit Daten: 47,2 Prozent der befragten Frauen gaben an, seit ihrem 15. Lebensjahr Opfer von Gewalt geworden zu sein. Bei 24,3 Prozent der Frauen ging es dabei um physische Gewalterfahrungen wie Faustschläge, Stösse gegen die Wand und Tritte. Jede neunte von physischer Gewalt betroffene Frau gab an, mit Waffen bedroht worden zu sein. Bei den Tätern handelt es sich in 71,5 Prozent der Fälle um die Partner der Frauen.

Begünstigt wird häusliche Gewalt durch ein militärisches Bild von Männlichkeit, das sich seit dem Bosnienkrieg festgesetzt hat – und durch Trunksucht. In Haushalten mit Alkoholproblemen gaben 60 Prozent der Frauen an, Opfer von Gewalt geworden zu sein, während es in Haushalten ohne Alkoholprobleme nur 20 Prozent waren. Nur 5 Prozent der Frauen haben Hilfe gesucht, nachdem sie Opfer von Gewalt wurden.

Vereine wie Amica Educa sind eine der wenigen Anlaufstellen für diese Frauen, deswegen betreibt die Organisation auch ein SOS-Telefon. Das ist wichtig, weil viele Frauen sich nicht trauen, ihren Peiniger bei der Polizei anzuzeigen. Oder das nicht wollen.

Amica Educa versucht auch präventiv zu wirken. Die Organisation gibt Gewaltpräventionskurse für Schüler aus Tuzla und der Umgebung. Dieser Kurs findet am Samstag um 14 Uhr statt. Die meisten der rund 30 Teilnehmer sind zwischen 17 und 19 Jahren jung, diesmal sind sogar zwei Männer dabei.

Die Schüler werden für die Gewaltprävention in den Schulen und in ihrem privaten Umfeld ausgebildet. Mitschüler können sich an sie wenden, wenn sie über Gewalterfahrungen aus ihrem Umfeld berichten wollen.

Ivona Erdeljac freut sich sichtlich über das Interesse der Schüler: «Wir bilden sie als Berater aus und sprechen mit ihnen über ihre Probleme und ihre Erlebnisse. Sie können bei kleinen Streitigkeiten als Mediatoren eingreifen und bei grösseren Problemen Informationen weitergeben und sagen, an welche Stellen sich ihre Mitschüler wenden können.»

Die Vereinsdirektorin Selma Alicić sagt aber ganz klar: «Ohne die finanzielle Hilfe aus der Schweiz gäbe es Amica Educa in Tuzla nicht. Tendenziell kommt von den bosnischen Stellen immer weniger Geld.» Sie betont, dass die Verbindung zur Schweiz aber nicht rein finanzieller Natur ist: «Wir arbeiten gemeinsam an Ideen und beraten uns gegenseitig.»

Alicić ist froh über das grosse Engagement aus Basel: «Das sind enthusiastische Frauen, die unsere Arbeit unterstützen wollen, und mit denen wir befreundet sind. Wir besuchen uns auch – so wie vergangenes Jahr, als wir uns gegenseitig zum 20. Geburtstag der Organisation besucht haben.»

Auch Ivona Erdeljac ist glücklich mit ihrer Arbeit und steht voll hinter Amica Educa: «Für mich ist das meine Lebensaufgabe. Ich glaube fest daran, dass wir die Stärke und Möglichkeit haben zu helfen, und dass unsere Arbeit einen positiven Effekt hat.»

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Mehr zu Thema und Land finden Sie in unserem Schwerpunkt zum 20. Jubiläum des Friedensabkommens von Dayton.

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