Vor 200 Jahren hat ein deutscher Adeliger entdeckt, dass zwei Räder auch hintereinander angeordnet werden können statt nebeneinander. Das Fahrrad war geboren. Die wechselvolle Geschichte des umweltfreundlichsten aller Verkehrsmittel.
Wie heisst der Erfinder des Fahrrads, dieses schlanken und weltumspannend beliebten Transportmittels? Während Luftfahrtpioniere wie die Brüder Wilbur und Orville Wright und Otto Lilienthal längst im Olymp der Erfinder Platz genommen haben und auch Automobil-Entwickler Carl Benz dort gesehen wurde, ist dies beim Erfinder des Fahrrads nicht der Fall.
Es ist an der Zeit für eine Rehabilitation, Zeit, an diesen genialen Mann zu erinnern: den deutschen Karl Freiherr von Drais. Er begab sich am 12. Juni 1817 – also vor 200 Jahren – mit seinem Urvelo auf die erste Fahrt von Mannheim zu einer Pferdekutschenstation Richtung Schwetzingen. Dies war die beste Strasse in der Gegend.
Drais legte eine Strecke von 13 Kilometern zurück, nach einer guten Stunde war er wieder zu Hause. Er kam deutlich schneller vorwärts als die damals das Strassenbild prägenden Pferdekutschen, die es nur auf drei Kilometer in der Stunde brachten.
Sein bizarres Gefährt aus Holz hatte er in einer Wagnerwerkstatt herstellen lassen, es wog gut 20 Kilogramm. Die Räder ordnete er hintereinander an, was einer Revolution gleichkam. Er habe sich von Schlittschuhläufern dazu inspirieren lassen, meinte er später – diese fallen trotz dünner Kufen auch nicht um.
Pedale hatte das erste Fahrrad noch keine, vielmehr stiess sich der deutsche Adelige mit den Füssen vom Boden ab, so wie es Kinder heute beim Like a Bike tun. Angetrieben zu der Erfindung wurde Drais durch die Suche nach alternativen Transportmitteln und einer Hungersnot. Nach den napoleonischen Kriegen waren die Getreidepreise in Europa in die Höhe geklettert, und eine Missernte infolge eines gewaltigen Ausbruch des Vulkans Tambora in Indonesien 1815 verstärkte die Krise noch.
Der im Jahr 1785 geborene Drais entstammte einer adeligen Familie ohne Grundbesitz, er war Forstlehrer mit Technik-Studium. Fast hätte er seine Erfindung in der Schweiz gemacht. Ein paar Jahre zuvor war er auf dem landwirtschaftlichen Musterbetrieb Hofwyl bei Bern zu Besuch gewesen (einem späteren Lehrerseminar), er hatte dort jedoch keine Anstellung als Lehrer gefunden. Also kehrte Drais wieder nach Mannheim zurück.
Während der badischen Revolution 1849 verzichtete er übrigens in einer Zeitungsannonce auf seinen Adelstitel «Freiherr» und wollte fortan nur noch Karl Drais genannt werden. Er war also ein früher Demokrat, der durch Monarchisten angefeindet wurde, welche auch seine Erfindungen schlecht machten.
Vielleicht war Drais einfach seiner Zeit voraus. Zwar verbreitete sich die Laufmaschine unter Wohlhabenden in Europa, von Bern und wohl auch Basel bis London. In Mannheim musste das Fahren auf Gehsteigen ein halbes Jahr nach Drais‘ Erfindung gar verboten werden, weil zu gefährlich für die Fussgänger.
Es konnten sich aber nur Adelige und ein paar Bürger eine solche Laufmaschine leisten, die nach dem Erfinder Draisine genannt wurde. Wirtschaftlich profitierte Drais kaum von seinem Meisterstück, da es im Grossherzogtum Baden keinen wirksamen Patentschutz gab.
Während 40 Jahren stand in der Folge die Entwicklung still. Dann ging es Schlag auf Schlag weiter. Der französische Wagenbauer Pierre Michaux war es wohl, der als Erster ein Fahrrad mit Kurbeln am Vorderrad in Serie baute. Das Gefährt wurde an der Pariser Weltausstellung 1867 ein Renner.
Das Problem dieser Zweiräder lag darin, dass man damit nur langsam vorwärts kam, weil eine Umdrehung mit der Kurbel auch einer Radumdrehung entsprach. Also baute man die Vorderräder immer grösser, das Hochrad war geboren.
An einer Ausstellung im Technoseum in Mannheim «2 Räder – 200 Jahre», welche die Geschichte des Fahrrads sehr gut dokumentiert, kann das Aufsteigen auf ein Hochrad unter sicheren Bedingungen getestet werden: Das Gefährt ist fest in einem Gestell verankert. Zur Ausstellung kam auch ein lesenswerter Katalog heraus.
Im 19. Jahrhundert war das Fahren auf einem Hochrad jedoch hochgradig gefährlich. Diese Vehikel, die so gross sind wie ein Pferd, befinden sich nur bei beträchtlichen Geschwindigkeiten im Gleichgewicht. Es brauchte also viel Übung und eine Prise Mut.
Bremste ein Fahrer zu stark, fiel er kopfüber auf die Strasse. In der Folge entwickelte man in England ein Velo mit zwei gleich grossen Rädern und einem Kettenantrieb auf das Hinterrad, das sogenannte Sicherheitsrad («Safety»). Damit war die noch heute gültige Form gefunden.
Deutsche, Franzosen, Briten waren also an der Entwicklung des Fahrrads beteiligt, man kann dies als wahrhaft europäische Zusammenarbeit bezeichnen. Auch ein Schweizer und ein Schotte steuerten wichtige Beiträge bei. Der Aarauer Bürger Hans Renold schuf 1880 die Rollenkette. Sie ist die noch heute übliche Fahrradkette, die aus beweglichen Hülsen besteht. Dies erlaubte es, beim Antrieb die Reibung und den Verschleiss zu reduzieren.
Der Schotte John Boyd Dunlop entwickelte den luftgefüllten Gummireifen (ein Veloventil ist nach ihm benannt). Zuvor waren Fahrräder veritable Knochenschüttler. Den Gummireifen und zahlreiche weitere Bestandteile sowie Fertigungstechniken übernahm dann übrigens die Automobilindustrie. Fahrrad und Auto, die sich heute im städtischen Verkehr oft feindlich gegenüberstehen, haben also gemeinsame Wurzeln.
Lange Zeit war das Fahrradfahren zunächst jungen Männern aus der Mittel- und Oberschicht vorbehalten. Laut Gudrun Maierhof, Professorin in Frankfurt für Geschichte der sozialen Arbeit, gab es der Frauenbewegung Schub, da es die viktorianische Kleiderordnung mit weiten Reifenröcken und engen Fischbein-Korsetten über den Haufen warf. Erst das Fahrrad ermöglichte es demnach den Frauen, Hosen und bequemere Kleider zu tragen.
Zudem brachten die Hersteller nach und nach Damenräder ohne Querstange auf den Markt. Für die Arbeiterschaft erschwinglich wurden die Fahrräder dann zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch die industrielle Massenproduktion.
Nach dem Zweiten Weltkrieg trat das Automobil seinen Siegeszug um die Welt an und degradierte das Fahrrad vorübergehend zum Fortbewegungsmittel für Hausfrauen und Kinder. Seit den achtziger Jahren hat sich dies aber wieder grundlegend geändert. Zum einen entstand ein Bewusstsein für die Endlichkeit der Erdölvorräte, zudem machten Staus in den Innenstädten und die Luftverschmutzung die Fahrräder für Jüngere und an ökologischen Fragen interessierte Menschen wieder populär.
Heute ist das Fahrrad durch Singlespeeds (Fahrräder ohne Übersetzung) und trendige Fixies zum modischen Accessoire geworden. Die Dringlichkeit eines wirksamen Klimaschutzes könnte es in Zukunft noch wichtiger machen. Schliesslich ist das Velo das klimafreundlichste aller Fortbewegungsmittel, da es keine Treibhausgase in die Luft pustet und bloss mit menschlicher Muskelkraft angetrieben wird. Zudem steht es aufgrund seiner geringeren Reichweite für mehr Genügsamkeit des Menschen.
Karl Drais müsste im Olymp der Erfinder vielleicht sogar noch etwas weiter oben stehen als die Gebrüder Wright oder Carl Benz.
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Die Ausstellung «2 Räder – 200 Jahre. Freiherr von Drais und die Geschichte des Fahrrades» läuft im Technoseum in Mannheim noch bis zum 25. Juni 2017. Wer mehr darüber erfahren will, dem sei dieser Bericht des SWR wärmstens empfohlen: