«Willst du eins in die Fresse?» – Reisen im Ost-Europa von heute

Wir hatten uns auf Wanderungen in der Slowakei gefreut, auf abenteuerliche Busfahrten und ein Bier am Ufer der Donau in Budapest. Das hat auch geklappt. Dann sahen wir zahllose Menschen auf der Flucht und mussten miterleben, wie mit ihnen umgegangen wird.

Wir hatten uns auf Wanderungen in der Slowakei gefreut, auf abenteuerliche Busfahrten und ein Bier am Ufer der Donau in Budapest. Das hat auch geklappt. Dann sahen wir zahllose Menschen auf der Flucht und mussten miterleben, wie mit ihnen umgegangen wird.

«Wenn jemand eine Reise tut, so kann er was erzählen.» Dieses Zitat des Dichters und Journalisten Matthias Claudius avanciert Sommer für Sommer zum Grundsatz junger Menschen, die ihre Ferien dazu nutzen, per Zug oder Bus durch Europa zu tingeln, um auf Reisen ihren Erfahrungsschatz zu bereichern.

Doch das Reisen in Europa hat sich verändert. Vor allem die Wege in den Osten führen rasch zur direkten Konfrontation mit dem Flüchtlingsandrang, den wir hierzulande vor allem aus den Medien kennen. Und so werden viele, die in diesem Sommer ihren Interrail-Trip abgespult haben, von ähnlichen Erfahrungen wie den folgenden berichten können. Erlebnisse, die schwer einzuordnen sind und sich grundlegend von früheren Ferieneindrücken unterscheiden. 

Budapest: Ein Auffanglager für Flüchtlinge

Budapest, Bahnhof Keleti. Der grösste der drei Bahnhöfe Budapests ist zugleich auch der bedeutendste, hier verkehren am meisten Passagiere, von hier gibt es die internationalen Verbindungen. Noch bei unserem Besuch vor zwei Jahren war dieser Bahnhof der durchschnittliche osteuropäische Bahnhof, lange Wartezeiten und der abgeranzte Charme einer baufälligen Schalterhalle inklusive. Heute sind die Wartezeiten noch immer lang. Aber die Architektur interessiert niemanden mehr.

In der Unterführung zur U-Bahn, unter den Dächern des Vorplatzes und unter Mauervorsprüngen: Überall, wo ein Stück Wand Schutz vor dem sintflutartigen Regen spendet, liegen Flüchtlinge an diesem 18. August 2015. Es sind Familien und vereinzelt junge Männer aus Syrien, dem Irak, Afghanistan, die es über den Balkan bis nach Budapest geschafft haben. Ein vorbeieilender Helfer telefoniert auf Deutsch, über tausend Flüchtlinge seien allein in der vergangenen Nacht angekommen, sagt er aufgeregt. Der Bahnhof in Budapest wird für viele zum notdürftigen Auffangbecken, die Behörden stellen Wasserspender bereit, eine Abgabestelle verteilt Kleider und Medizin.

Um dem Andrang der Flüchtlinge Herr zu werden, baut Ungarn an der Grenze zu Serbien einen 175 Kilometer langen Zaun, der die Fluchtbemühungen allerdings nur zusätzlich intensiviert (-> noch schnell flüchten, bevor Ungarn dicht ist). Gleichzeitig informierte Ungarn bereits im Juni, dass man bis auf Weiteres keine Flüchtlinge nach dem Dublin-Verfahren zurücknehmen werde. Das Land sei «voll». Österreich wies das Argument als «bizarr» zurück (-> Ungarn schottet sich ab).

Das kurze Aufeinandertreffen der europäischen Feierszene mit Menschen auf der Flucht

Die Bevölkerung scheint irritiert, einige fotografieren, andere versuchen starren Blickes durch die am Boden sitzenden Gruppen hindurchzusteuern. Am Vorabend ging in Budapest das Sziget Festival zu Ende, neben den Flüchtlingen bevölkern ganze Scharen von Backpackern die Bahnhofshallen. Ein seltsames Zusammentreffen der jungen europäischen Feierszene mit Menschen auf der Flucht. Mit Letzteren haben die jungen Backpacker, ausser vielleicht der Müdigkeit, so gar nichts gemein: Man ist froh, wenn man sein Ticket in der Tasche hat. Endlich weg, endlich wieder nach Hause, Kleider waschen, duschen.

Auch wir sind am Ende unserer Reise durch den Osten Europas angelangt und steigen in Budapest in den Nachtzug nach Zürich. Der Zug ist bis auf den letzten Platz belegt. Es sind Ehepaare, Geschäftsleute oder Backpacker auf dem Weg nach Wien, Salzburg, Zürich.

Gegen Mitternacht erreichen wir Wien.

Auf dem Perron herrscht grosse Hektik, vor den Fenstern huschen Schatten hin und her. Ein Teil des Zugs wird abgekoppelt und fährt in eine andere Richtung weiter. Unter die Hektik der Umsteigenden mischt sich Lärm, «Österreich den Österreichern» brüllt jemand, «Scheissflüchtlinge», ein anderer. Eine Gruppe von ungefähr 20 Menschen versucht, einen Platz im Zug zu ergattern; es sind Flüchtlinge, wie wir sie zuvor in Budapest gesehen haben. Familien mit Kindern, junge Männer, die allein unterwegs sind. In denselben Zug steigen zudem die Besitzer der wütenden Stimmen von eben, offensichtlich eine Gruppe Besucher eines Fussballspiels auf der Heimreise.

Öffentliche Demütigungen ohne Widerrede

Vor den Türen der Abteile, in denen sich die Flüchtlinge mit den zugestiegenen Passagieren den wenigen Platz teilen, der noch übrig bleibt, wird die Stimmung aggressiv. Die Fussballfans offenbaren sich rasch als geschlossener rechter Mob, der die eingeschüchterten Flüchtlinge mit den übelsten Schmähungen eindeckt. Es werden Fotos gemacht, Beleidigungen wie «dieses Flüchtlingspack stinkt, ich krieg keine Luft», gehören zu den harmloseren. Jeder Spruch eines Einzelnen wird von der Gruppe mit Grölen und lautem Gelächter quittiert.

Vor der Türe unseres Abteils hat sich ein junger Mann die Mütze tief in die Stirn gezogen. Er schaut sich auf seinem Handy Bilder an von Freunden, Verwandten, vielleicht seiner Familie. Er weint, während über ihn die Schmähungen und Hasstiraden des Mobs herunterprasseln. Jeder Versuch zu intervenieren wird sofort unter Androhungen von Gewalt erstickt. «Willst du eins auf die Fresse?» Der offene Blick auf die pöbelnde Gruppe hält Einzelne wenigstens davon ab, Fotos von den Flüchtlingen zu machen, die sich mittlerweile auf den Boden gelegt haben.

Der Zug hält selten, nach und nach steigen Teile des Mobs aus, nicht ohne von aussen an die Fenster des Zuges zu poltern. Die Flüchtlinge fahren noch weiter, erst nach Salzburg stellt sich heraus, dass nicht alle von ihnen ein Ticket besitzen. Auch sie müssen an der nächsten Station aussteigen.

In der Schweiz herrscht wieder Ruhe

Danach herrscht wieder Ruhe im Zug. Einige Passagiere lesen oder versuchen zu schlafen, während im Morgengrauen die Berge Graubündens vorbeigleiten. Gegen neun Uhr erreicht der Zug Zürich, die Ansagen verkünden die Anschlüsse. Keine Flüchtlinge weit und breit.

Aber vielleicht werden da ja irgendwann welche sein, vielleicht werden auch die Schweizer Bahnhöfe eines Tages zu Notunterkünften mittelloser Reisender auf der Flucht. Das Bahnreisen wird dann auch hierzulande weniger komfortabel. Und leider ist es vorstellbar, dass diese Menschen in ihrer Not mit dem blanken Hass eines unkontrollierten Mobs konfrontiert würden, dass sie Beschimpfungen und Demütigungen über sich ergehen lassen müssten, als wären sie lebensunwürdiges Geziefer.

Dass auch in der Schweiz die Hemmschwelle zu offenem rassistischem Gebaren erschreckend tief ist, entlarvt der Winterthurer Musiker David Langhard mit einem Facebook-Kommentar vom 8. August. Langhard hatte – ebenfalls auf Facebook – Kommentare unter Klarnamen gesammelt und zur Anzeige gebracht, die offensichtlich gegen das Rassendiskriminierungsgesetz verstossen. Der Kommentar löste eine Kettenreaktion aus und trug dem Musiker viel Sympathie, aber auch Drohungen ein. Das Magazin «Vice» und andere Medien veröffentlichten in der Folge Anleitungen zur Anklage rassistischer Online-Kommentare in der Schweiz.

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