Es war ein schlimmes Jahr. Ein schlimmeres wird folgen. Lassen wir darum die letzten Optimisten sprechen.
Der prägende Moment dieses Jahres ereignete sich hoch über dem Genfersee, in einem etwas schäbigen Büro des UNO-Hauptgebäudes. Uns gegenüber sass Heiner Flassbeck, Chefökonom der UNO-Organisation für Welthandel und Entwicklung. Ein freundlicher und lustiger Mann, aber einer mit schlechten Nachrichten. Der Euro? Kurz vor der Explosion. Die Lage in Europa? Schlimmer als zu Beginn der 30er-Jahre. Die Lage in der restlichen Welt? Vergessen Sie es.
Heiner Flassbeck, dieses lächelnde Monster des Pessimismus, fasste in Worte, was wir alle schon lange spüren: Es kommt nicht gut. Es kommt sogar richtig schlecht. Unser Wirtschaftssystem kommt an Grenzen, mit unseren Schulden kommen wir nicht zurande, und selbst wenn sich für einmal etwas Schönes ereignet (nehmen wir die Revolution in Ägypten), ist das bei näherem Hinsehen nicht mehr ganz so prächtig (nehmen wir die Revolution in Ägypten).
Die Schweizer Mittelmässigkeit
2011 war ein schwieriges Jahr. Aber 2012 wird wohl noch schwieriger werden. Politikerinnen und Politiker, auch in Zeiten der Hochkonjunktur nicht für ihr überschäumend optimistisches Naturell bekannt, verbreiten in diesen Tagen mit Vorliebe schlechte Stimmung. Nicolas Sarkozy sagt: «Die Angst ist zurück.» Christoph Blocher sagt: «Die Zeiten sind hart. Und sie werden härter.» Ja, selbst Alain Berset, der in der vergangenen Woche seinen wohl grössten beruflichen Erfolg erlebt hat, sagt: «Wir stehen vor grossen Herausforderungen.»
Mag ja alles stimmen. Aber könnte man das nicht auch etwas positiver angehen? Gibt es denn überhaupt noch Optimisten im Bundeshaus? Ja. Aber es sind wenige.
Einer von ihnen, eigentlich der Optimist unter den Parlamentariern, sitzt tief versunken in einem der schweren Stühle der Wandelhalle, hat ein viel zu kleines Handy in seiner ziemlich grossen Hand und sieht ungewohnt düster Richtung Nationalratssaal. «Dort drin», sagt Otto Ineichen und legt sein Mini-Handy auf den Tisch, «dort drin herrscht der Lethargismus.» Keine Visionen, kein Mut, kein Risiko, «Besitzstandwahrung. Alles dreht sich nur um Besitzstandwahrung!» Ineichen, FDP-Nationalrat aus dem Kanton Luzern, hat wieder einmal eine seiner Ideen. Er hat schon für Lehrlinge geweibelt, für energetische Häusersanierungen und, aktuell, für bezahlbare Krippenplätze. Und es ist wie häufig. Er reisst an und mit. Und stösst auf Widerstand. Wieder einmal. «Da drin sitzen vor allem Bedenkenträger.»
Er richtet sich etwas auf in seinem tiefen Sessel, gleichzeitig ändert sich der Ausdruck seines Gesichts. Es wirkt heller. «Wissen Sie, wir haben ein extrem schweres Jahr vor uns. Aber wir müssen das positiv angehen!» Es brauche Mut, Mut etwas anzupacken. Und das Wichtigste: Wir müssen weg von der Mittelmässigkeit. «Es ist unsere Mittelmässigkeit, die gefährlich wird für die Schweiz. Wir brauchen Innovationen! Risikobereitschaft! Verantwortung!» Ineichen sitzt jetzt kerzengerade in seinem Sessel, er strahlt. «Stellen Sie sich vor, was wir alles erreichen könnten, wenn die 20 grössten Unternehmer in diesem Saal ihr Portemonnaie öffnen täten. Was wären das für Möglichkeiten!»
Die Grundwerte
Nicht weit von Ineichen entfernt sitzt ein anderer Nationalrat in einem bequemen Sessel. Ohne Handy. Dafür mit einem Lächeln. Eric Nussbaumer gehört zu jener Sorte von Menschen, denen man die Gemütslage schon von Weitem ansieht. Ganz zu Beginn seiner Nationalratskarriere schlurfte er mit gesenktem Kopf durch die Wandelhalle des Bundeshauses, das Gesicht verhärmt. Er hatte es nicht einfach in seiner Fraktion. Es gibt gewachsene Strukturen in der Partei, Machtzirkel, Machtmenschen, die nicht gerne teilen. Dieses Jahr nun ist auch die eigene Partei auf den Energie-Politiker aufmerksam geworden. Er hat nach Fukushima und dem Atomausstiegs-Entscheid des Bundesrats eine tragende Rolle in der Fraktion erhalten, bei den Wahlen sogar die langjährige Nationalrätin Susanne Leutenegger Oberholzer überflügelt. «Wahlen und die ganze Politik sind aber nur ein kleiner Bruchteil dessen, was das eigene Wohlbefinden und den Optimismus ausmacht», sagt Nussbaumer. Gelassenheit, eine relative Haltung zur Welt – die brauche es. Grundlage dafür ist bei Nussbaumer ein Wertesystem im Allgemeinen und sein christlicher Glaube im Speziellen. «Er erlaubt mir eine Distanz zu den Dingen.»
Nussbaumer ist aber nicht naiv, er weiss, auf welche bedrohliche Situation die Schweiz und die Welt im 2012 zuschlittern. Entscheidend sei, was man daraus mache. «In allem, was geschieht, kann man dem Guten zum Durchbruch verhelfen. Möge es auch noch so klein sein.» Apropos klein: In diesen Tagen hat Nussbaumer erfahren, dass er 2012 wohl Grossvater wird. «Das wird ein gutes Jahr!»
Der Konsens
Für eine ganz andere Form von Optimismus steht Regula Rytz. Die Berner Gemeinderätin der Grünen erlebt ihre erste Session im Bundeshaus. Sie ist nicht zerknirscht-aufbrausend wie Otto Ineichen oder überschäumend wie Eric Nussbaumer. Rytz steht für den sachlichen Optimismus, mit dem viele – vorab in der Mitte – den Wahlausgang vom Oktober erklären. Rytz ist zwar eine Grüne, aber eine, die dennoch von allen Seiten Lob erhält. Für ihre sachliche, konsensorientierte Art, für ihren integrativen Ansatz. Sie verkörpert jene Sorte von Optimismus, der an der Grösse der Probleme nicht verzweifelt, sondern die Schwierigkeiten – Stück für Stück – abarbeiten möchte. Die Zukunft der Pensionskassen, die Eurokrise, das marode Wirtschaftssystem, die infrage gestellten Nationalstaaten. «Das alles macht uns Sorgen», sagt Rytz. Dennoch habe man in der Schweiz die besten Voraussetzungen, um die kommenden Krisen zu meistern. Gute Strukturen, eine tiefe Arbeitslosigkeit, grosses Engagement. «Unser grosser Vorteil ist, dass in der Schweiz ganz viele Menschen aus der Zivilgesellschaft bereit sind, Verantwortung zu übernehmen.»
Die Wahlen hätten gezeigt, dass auch die Bevölkerung diesen Wunsch nach Sach-orientiertheit, nach Ernsthaftigkeit teile. «Die vernünftigen Kräfte wurden gestärkt.»
Das Gute sehen
Auf der anderen Seite des Saals macht eine zweite Frau mit einem politisch anderen Hintergrund die exakt gleiche Aussage wie Rytz. Ursula Haller, BDP-Nationalrätin aus Thun, versteht die Wahlen vom Oktober und auch die Bundesratswahlen von Mitte Dezember als «eindeutiges Zeichen gegen die Schwarzmalerei». Das Gemeinsame betonen, nicht das Trennende pflegen – das erwarte die Bevölkerung in diesen harten Zeiten.
Ursula Haller ist in ihrem Optimismus eher auf einer Linie mit Eric Nussbaumer anzusiedeln, sie glaubt an das Gute im Menschen, sie glaubt an das Positive. «Ich nenne keine Namen, aber die Zeiten der Politik des Pessimismus, der Politik der Aggression und der Politik der Angst, diese Zeiten sind vorbei.» Das sehe man auch auf europäischer Ebene. Mit welcher Kraft Nicolas Sarkozy und Angela Merkel die EU in diesen schwierigen Zeiten zusammenhalten, das ist für Haller Ausdruck eines gros-sen Optimismus. Und diesen brauche es, gerade jetzt, da der Schweiz «Schicksalsmonate» bevorstünden.
Sie nennt keine Namen, Frau Haller, aber sie meint natürlich die SVP. Jene Partei, die in diesen Tagen durchgeschüttelt wird wie noch nie in ihrer Geschichte, jene Partei, die ihren grossen Optimismus spätestens seit den Bundesratswahlen verloren hat. Erbschaftsaffären, gescheiterte Ständeratswahlen, interne Kritik, diffuse Strategie – die Zeiten waren wahrlich schon besser.
Für das Gute kämpfen
Darum ziert sich Toni Brunner erst auch ein wenig. Er, der personifizierte Frohsinn, der stets scherzende und leutselige Präsident der SVP, mag heute nicht wirklich optimistisch sein. «Wir haben da drin …», er dreht sich um und schaut in den Nationalratssaal, «alle gegen uns.» Wichtige Themen, entscheidende Themen! Unsere Themen! – diese hätten bei den momentan herrschenden Machtverhältnissen im Parlament keine Chance. «Die Aussichten sind düster», sagt er und verabschiedet sich zu einer Abstimmung im Saal.
Als er wenige Minuten später wieder in der Wandelhalle steht, hat Brunner nichts Düsteres mehr an sich. «Wissen Sie, darum mache ich ja Politik. Weil ich für meine Themen kämpfen kann. Weil ich dafür kämpfen muss.» Im nächsten Jahr stünden einige Abstimmungen an, an der Urne, nicht im Nationalratssaal, und es sind diese Abstimmungen, die Brunner eben doch optimistisch stimmen. Denn draussen, so ist der SVP-Präsident überzeugt, dort habe man noch Mehrheiten und müsse sie nutzen. Es gelte, Konsequenzen zu ziehen aus den Ereignissen im Umland. Die Schweiz müsse nicht überall dabei sein, müsse sich nicht überall einmischen. «Wir müssen das Kleine bewahren. Unsere Eigenheiten, unsere Eigenständigkeit.» Und es sei seine Partei, die die Aufgabe habe, das sicherzustellen. «Darum sind wir hier. Um unser System zu bewahren. Um die Macht zu brechen. Und das wird uns auch gelingen.» Er verabschiedet sich endgültig und bewegt sich in die Richtung einer Gästegruppe. Brunner drückt jedem die Hand und sagt strahlend: «Willkommen. Willkommen!»
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 23/12/11