Wir werden überwacht… und keinen interessiert es

Wir blicken auf das Jahr zurück. Die Enthüllungen von Edward Snowden haben eine weltweite Debatte um Überwachung entfacht. Eine Debatte, die in der Schweiz nie richtig in die Gänge kommen wollte. Warum ist das so?

Zwölf Monate lang sollen gemäss neuem Büpf Verbindungsdaten unserer Handys aufbewahrt werden. (Bild: Michael Birchmeier)

Jetzt will der Staat ein noch strengeres Regime.

Gibt es die Piratenpartei eigentlich noch? Vor etwa zwei Jahren waren die Piraten angetreten, um den politischen Betrieb auf den Kopf zu stellen und die Gesellschaft auf die Internetrevolution vorzubereiten. Davon ist heute nicht mehr viel zu spüren. Jedenfalls nicht in der konventionellen politischen Welt der Abstimmungen, Wahlurnen und Vorstösse.

Im Internet hingegen sind die Piraten nach wie vor präsent. Seit ein paar Wochen twittern sie wie besessen zur Totalrevision des «Bundesgesetzes ­betreffend die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs» (Büpf). Sie verschicken Links zu Artikeln, machen auf ihre Online-Petition aufmerksam, retweeten auch einmal einen Zugang zur ­Gratisversion von George Orwells «1984».

Der Erfolg der Piraten ist dabei aber ähnlich bescheiden wie in der konventionellen Welt. Nur rund 6500 Menschen haben ihre Online-Petition «Nein zum Überwachungsstaat!» bisher unterschrieben, die Büpf-Revision, mit der die Überwachung der Bürger durch den Staat geregelt wird, ist in einer breiten Öffentlichkeit kein Thema.

Es geht alle an

Dabei regelt das Büpf einen Grossteil der Lebenswelt von uns allen. In anderen Ländern wie Deutschland oder Tschechien haben vergleichbare Gesetze darum schon für grosse politische und juristische Auseinandersetzungen gesorgt, die erst vor den obersten Gerichten entschieden wurden. Zugunsten der Kritiker und zuungunsten der Überwacher.

Dennoch ist der Bundesrat überzeugt, dass die Schweiz ein neues, schärferes Überwachungsgesetz braucht, weil das alte aus den 1990er-Jahren stammt, einer Zeit, als erst wenige Schweizer ein Handy hatten oder über Computer und Internet kommunizierten. «Wir alle können von den neuen technischen Möglichkeiten profitieren», stellte Justizministerin Simonetta Sommaruga bei der Präsentation der Büpf-Vorlage in Februar fest: «Das Angebot kann aber auch für die Begehung von schweren Straftaten genutzt werden – für das organisierte Verbrechen, für Drogenhandel, Terrorismus oder Kinderpornografie.»

Gegen diese Kriminalität sollen Polizei und Justiz besser vorgehen können. Dank dem Büpf, das unter anderem folgende Neuerungen bringen soll:

  • Die sogenannten Verbindungs- und Randdaten von Telefon- und E-Mail-Verkehr müssen doppelt so lange wie bisher aufbewahrt werden – 12 Monate. Diese Daten werden bei jedem Telefon­gespräch, bei jedem E-Mail-Austausch von jedem Bürger gespeichert. Darauf zurückgegriffen ­werden soll aber nur im Verdachtsfall, auf Antrag der Staatsanwaltschaft und nach einem richter­lichen Beschluss.
  • Auskunft über die Aktivitäten ihrer Nutzer müssen künftig auch die Betreiber von Foren, Chats und Blogs geben können, ebenso wie Unternehmen, die ihren Internetzugang der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen (Schulen, Universitäten, Hotels, Restaurants, Spitäler).
  • Bei besonders schweren Verbrechen können auf die Computer oder das Handy eines Verdächtigen auch Staatstrojaner geschleust werden. Die ­Behörden selbst sprechen – möglichst unverfänglich – von einer Government Software (Gov­Ware), die es erlaube, verschlüsselte E-Mails und Internetgespräche zu überwachen. Technisch wäre es mit ihrer Hilfe allerdings auch möglich, sämtliche Daten, die auf einem Computer abgespeichert sind, zu untersuchen wie auch das Mikrofon und die Kamera zu aktivieren.

Der Kampf gegen die Kriminalität

Das ginge dem Bundesrat aber zu weit, weil es ihm nicht um die totale Überwachung geht, sondern um «klare Voraussetzungen und Schranken», wie Sommaruga es nennt. Dennoch geht auch sie davon aus, dass das neue Gesetz in den kommenden Monaten wohl auch in der Schweiz noch einige «Ängste und Befürchtungen» auslösen wird: «Das ist immer so, wenn es um die Überwachungsmöglichkeiten von Bürgerinnen und Bürgern geht. Dann fallen rasch einmal Schlagworte wie ‹Fichenskandal› und ‹Big Brother› – oder in meinem Fall wohl eher ‹Big Sister›.» Dabei räumt sie auch selbst ein, dass der Staat mit dem Büpf tief in den Privatbereich eindringt – aber nur so tief, wie es im Kampf gegen die Kriminalität auch tatsächlich nötig sei.

Das wird bezweifelt. In den betroffenen Firmen ärgert man sich über den zusätzlichen Aufwand und die zusätzlichen Kosten. Bei der Swisscom ­allein rechnet man mit einer Investition von 35 Millionen Franken und jährlich wiederkehrenden Mehrausgaben von 10 Millionen Franken. Dafür aufkommen werden nicht die überführten Verbrecher und wohl auch die Ermittlungsbehörden nur sehr bedingt; zahlen werden wohl vor allem die ganz normalen Kunden, auf die die Kosten abgewälzt werden dürften. Darum bereitete die Westschweizer Zeitung «Le Matin» die Leserinnen und Leser schon mal darauf vor, dass sie «für ihre eigene Überwachung zahlen müssen».

Bezahlt werden muss die strengere Überwachung des Internets vom ganz normalen Kunden.

Es gibt allerdings auch grundsätzliche Vorbehalte. Geäussert werden diese vor allem von jenen, denen das Leben im Internet so vertraut ist wie das Leben «afk» – away from keyboard. Es sind Leute wie Bernd Fix vom Chaos Computer Club, ein deutscher Hacker, Philosoph und Sicherheitsexperte für Computertechnologie, der seit seinem Engagement für Wikileaks kaum mehr einen Job findet in der Branche.

Das neue Gesetz sei eine «vorsätzliche Täuschung», sagt er. Gegen die wirklich schweren – und cleveren – Verbrecher könnten die Justiz- und Strafverfolgungsbehörden auch mit den neuen Überwachungsmassnahmen nicht mehr ausrichten als bisher, «weil sie in Bezug auf ihr technisches Know-how hoffnungslos hintendrein sind». Umso fragwürdiger sei die Absicht, immer mehr Daten von unbescholtenen Bürgerinnen und Bürgern zu sammeln – vorsorglich und ohne konkreten Verdacht. «Die Unschuldsvermutung ist immer weniger wert. Umso grösser werden dafür das Missbrauchsrisiko und die Versuchung, die Daten auch in Zusammenhang mit leichten Straftaten oder irgendwelchen Ordnungswidrigkeiten auzuwerten», sagt er.

«Missbrauch kann ausgeschlossen werden»

Patrick Rohner vom Bundesamt für Justiz hat die Vorbehalte an Fachtagungen und in Experten­gesprächen schon häufig gehört. Und er hält sie – selbstverständlich – für falsch. «Offenbar haben noch nicht alle verstanden, dass es im Büpf nicht um präventive Überwachung geht, sondern um ein effizientes und gesetzlich klar definiertes Vorgehen zur Aufklärung von Straftaten», sagt er. Die Massnahmen müssten vom Staatsanwalt angeordnet und vom Zwangsmassnahmengericht genehmigt werden. Die Missbrauchsgefahr werde so minimiert, auch beim Einsatz der Government Software.

«Es ist ähnlich wie bei Dienstwaffen. Dass sie möglicherweise mal falsch eingesetzt werden, ist noch lange kein Grund, sie zu verbieten, sehr wohl aber einer, um ihren Einsatz klar zu regeln», sagt Rohner. Überhaupt findet er es «ein wenig widersprüchlich», dass man dem Staat gegenüber weniger Vertrauen entgegenbringt als gegenüber Unternehmen wie Facebook oder Google, bei denen es kaum eine Kontrolle gibt über die Daten, die teilweise äus­serst intime Informationen enthalten.

Es ist wahrscheinlich der einzige Punkt, in dem ihm der Hacker Fix recht gibt. «Es ist höchst bedauerlich, was die Menschen in sozialen Netzen alles preisgeben und wie naiv sie auf ihr Recht auf Selbstbestimmung verzichten.» Nur liefert das dem Staat seiner Ansicht nach noch längst kein Alibi für eine weitgehende Überwachung.

Das sieht Balthasar Glättli ziemlich ähnlich. Der grüne Nationalrat aus Zürich steht auf der sonnigen Terrasse des Bundeshauses, blickt in die Alpen und sagt: «Ich bin ein kleiner Wanderprediger der Netzpolitik.» Glättli kümmert sich seit Längerem um Themen rund um das Internet, Themen, die es ­bisher nicht in den politischen Mainstream geschafft haben. «Natürlich geben viele Menschen private Daten von sich preis», sagt Glättli, «aber im ­Unterschied zur Überwachung durch den Staat können sie dabei selber entscheiden, was sie wo ­veröffentlichen.»

Skepsis gegenüber dem Staat

Glättli stört sich an vielen Punkten im neuen Büpf: an der längeren Vorratsdatenspeicherung, am ausgebauten Geltungsbereich, der in Zukunft auch private Betreiber von offenen Netzen in die Pflicht nimmt (Restaurants, Hotels, Unis etc.), und auch am Einsatz von Staatstrojanern. «Ich bin grundsätzlich ­dafür, dass man anonym im Internet unterwegs sein darf. Wir leben nicht im Iran oder in ­China, wo es eine Identitätskarte für den Zugang zum Netz braucht.»

Der Zürcher Nationalrat lässt beim Gespräch auf dem Balkon seine Skepsis gegenüber dem Staat deutlich durchschimmern – und tönt dabei nicht anders als jene vier Herren und die eine Frau im Medienzentrum des Bundeshauses nur wenige Stunden später. «Wir wollen keinen gläsernen Bürger, wir sind gegen die totale Überwachung», sagt etwa SVP-Nationalrat Alfred Heer. «Das Verhältnis zwischen Staat und Bürger muss von Vertrauen, nicht von Misstrauen geprägt sein», ergänzt FDP-Fraktionschefin Gabi Huber.

Bürgerliche und Linke begreifen das Verhältnis von Staat und Bürgern sehr unterschiedlich.

Politiker aus allen bürgerlichen Parteien präsentieren an diesem Nachmittag die Volksinitiative «Ja zum Schutz der Privatsphäre», mit der das Bank­geheimnis im Inland in die Verfassung geschrieben werden soll. Sie reden dabei nicht anders als die ­Piraten oder Balthasar Glättli. Und sind dennoch für die Revision des Büpf.

«Bei der finanziellen Privatsphäre gibt es keinen Missstand, den es aufzudecken gilt. Darum sind wir hier gegen eine Überwachung», versucht der CVP-Nationalrat Gerhard Pfister die unterschiedlichen Arten von Privatheit argumentativ zu trennen.

Spiegelverkehrte Definition

Es ist augenfällig: Die Bürgerlichen sind grosse V­erfechter der Privatsphäre, wenn es um Bankkonti geht, und sind im Gegenzug für möglichst ausgebaute Hooligan-Verzeichnisse, DNA-Datenbanken für Asylbewerber oder die Überwachung des Internets. Bei Linken und Grünen ist es genau umgekehrt. Die Gründe dafür sind bei der Wählerklientel zu suchen, bei der unterschiedlichen Bewertung von kriminellen Delikten, bei der eigenen Betroffenheit. Die Folgen sind dagegen für alle die Gleichen. Im Bankensektor wird der Schweiz die grössere Transparenz von aussen aufgedrängt, in den anderen Bereichen sorgt die bürgerliche Mehrheit dafür.

Das Büpf wird in der Herbstsession im Ständerat behandelt und wird glatt durchgehen – das weiss auch Balthasar Glättli. Der grösste Erfolg des Politikers ist es, dass das Geschäft nicht in dieser Sommersession behandelt wird, sondern zuerst noch Hearings mit den Betroffenen durchgeführt werden. «Dafür habe ich hinter den Kulissen durchaus einige Fäden gezogen.» Am Ausgang der Debatte im nationalen Parlament wird das aber kaum etwas ändern: Im Herbst wird der Ständerat einem neuen Überwachungsgesetz zustimmen.

Eine Absurdität

Für den deutschen Hacker Bernd Fix eine ­Ab­surdität: «Schon alleine die Vorstellung, dass nationale Gesetzgebungen ein globales Kom­munikations­medium kontrollierbar machen können, ist geradezu lächerlich.» Theoretisch könne sich jeder Schweizer für zehn Franken mit einem VPN-Server im Ausland von der Büpf-Überwachung freikaufen. Oder er weicht auf die globalen und weitgehend ­unkontrollierten Giganten aus. ­Facebook beispielsweise.

Nach den «Tanz dich frei»-Krawallen verlangte der Berner Sicherheitsdirektor Reto Nause per ­eingeschriebenem Brief an Facebook die Daten der Organisatoren der Demonstration. Auf eine Antwort wartet er noch heute.

Ein Mittel gegen Terror und Kinderpornografie – wirklich?
Die Ermittlungsbehörden haben schon heute die Möglichkeit, auf die Verbindungsdaten von Tele- fongesprächen und des E-Mail-Verkehrs Zugriff zu nehmen – aber nur während sechs Monaten. Mit der Revision des «Bundesgesetzes betreffend die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs» (Büpf) soll diese Periode nun verdoppelt werden, damit die Ermittler wie gefordert mehr Zeit erhalten. Die Telekommunikationsunternehmen gehen davon aus, dass die Zahl der Zugriffe unter dem neuen Büpf deutlich steigen wird. Im vergange- nen Jahr sind die Vorratsdaten in rund 7000 Fällen ausgewertet worden. Die «Wochenzeitung» hat nach einer Auswertung der Überwachungsstatistiken darauf hingewiesen, dass die Forderung nach einer Ausweitung der Überwachung fast immer mit dem Hinweis auf besonders schwere Delikte wie Terrorismus oder Kinderpornografie begründet wird. Tatsächlich werden aber nur die wenigsten Überwachungen aufgrund eines entsprechenden Verdachtes angeordnet. Der häufigste Grund sind Hinweise auf Drogenhandel.

(Bild: Hans-Jörg Walter)

Quellen

Petition der Piratenpartei.

Eine kritische Stellungnahme des Branchenverbands Swico.

Informationen zum Büpf auf der Seite des Justizdepartements.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 07.06.13

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