Wirtschaftlicher «Tsunami» bedroht auch die Schweiz

Die Schweiz spürt noch wenig von den Krisen, die sich in anderen Industriestaaten verschärfen. Doch unser Land wird nicht verschont bleiben.    

Insel der Glückseligen und Profiteure: Damit könnte es in der Schweiz bald vorbei sein. (Bild: Illustration: Backyard)

Die Schweiz spürt noch wenig von den Krisen, die sich in anderen Industriestaaten verschärfen. Doch unser Land wird nicht verschont bleiben.   

In der Schweiz leben wir in Saus und Braus. Junge können sich ausbilden. Die meisten Erwachsenen finden eine Erwerbsarbeit. Die Preise sind stabil. Wir können uns die höchsten Gesundheitsausgaben in Europa leisten und weltweit die höchsten Versicherungsprämien zahlen. Der Ruhestand der meisten Pensionierten ist materiell gesichert.

Noch. Noch leben wir in einem irdischen Paradies, in das wir per Zufall hineingeboren wurden.

Unser Planet zählt unterdessen über sieben Milliarden Menschen. Das macht Regeln des Zusammenlebens nötiger denn je. Doch in der Realität dominieren ökonomischer Egoismus, Habgier und politisches Machtstreben. Das ist bedrohlich. Denn mehrere Krisenwellen bedrohen unsere Sicherheit, die westliche Zivilisation und unser kulturelles Erbe. Doch statt vorzusorgen und Schutzwälle zu errichten, um die Wellen zu brechen, schauen die Mächtigen zu, wie sich einige Sturmfluten zu einem Tsunami entwickeln.

Die «Märkte», dominiert von Konzernen und einer Klasse von Superreichen, legen Regierungen und Parlamente lahm. Diese Mächtigen handeln nach dem Motto: Après nous le déluge – nach uns die Sintflut. Die betroffenen Bevölkerungen sind zu Zuschauern degradiert. Auch in Demokratien gehen wichtige Entscheide an den Stimmberechtigten vorbei. Und das sind – etwas plakativ – einige der schweren Hypotheken, die das Jahr 2013 und die folgenden Jahre belasten:

1. Schulden mit wertlosem Papiergeld

Hauptgründe für die weltweite Finanzkrise, die 2008 die westlichen Industriestaaten erschütterte, waren grobfahrlässige Investitionen der Finanzbranche in Hypotheken und Staatsobligationen, überbordende Staatsschulden und jahrelang zu tiefe Zinssätze. Doch die Zinssätze sind heute noch tiefer, und die USA, Japan und die EU-Staaten haben ihre Schuldenberge verantwortungslos weiter angehäuft (siehe «Obama von einer Mega-Superblase herausgefordert»).

Das Schuldenmachen wird sogar belohnt. Banken und Regierungen hängen an billigem Geld wie Drogensüchtige an der Nadel. Und die Notenbanken schaffen massenweise weiteres Papiergeld – aus dem Nichts. Die «Märkte» reagieren und flüchten in reale Werte wie Immobilien, Bau- und Ackerland, Edelmetalle oder Aktien.

Die Risiken: Das Vertrauen in den Wert des Geldes kann von einem Tag auf den andern verloren gehen. Dann ist der Crash nicht mehr aufzuhalten. Eine Massenarbeitslosigkeit wird folgen. Erspartes und Renten verlieren drastisch an Wert. Die geopolitischen Kräfteverhältnisse verschieben sich.

2. Finanzkonzerne diktieren die Politik

«Zeit für einen Kurswechsel in der Geldpolitik», titelte die NZZ am 24. Dezember 2012. Aber ihr Ruf verhallt ungehört. Denn die Politik als regulierende Kraft verliert an Einfluss. Die international organisierte Finanzbranche verfügt über ein Vielfaches der Budgets von Regierungen. Sie führt die Nationalstaaten am Gängelband und spielt sie gegeneinander aus. Sie zahlt in die Kassen der politischen Parteien. Flankiert von einem Heer von Anwälten und hoch bezahlten Finanz- und PR-Spezialisten setzt sie bei den Regierungen ihre Interessen durch.

Gegen die Hydra der Finanzlobby, dem «Institute of International Finance» in Washington, dem weltweit über 450 Banken, Hedge Funds und andere Finanzkonzerne angeschlossen sind, haben nationale Regierungen wenig entgegen zu halten (siehe «Regierungen sind Geiseln der Finanzwirtschaft»). Deshalb bleibt der Aufruf der NZZ zum Kurswechsel ein frommer Wunsch. Die Politik zeigt sich unfähig für Reformen, die einen künftigen Crash allenfalls verhindern. Das zeigt die Bilanz fünf Jahre nach der grossen Finanzkrise:

• Noch immer können Grossbanken darauf zählen, dass sie der Staat rettet. Ein geregeltes nationales oder internationales Konkursverfahren hat die Bankenlobby mit Erfolg verhindert. Für diese grossen Konzerne ist das Bekenntnis zur Marktwirtschaft, in welcher der Konkurs eine zentrale Rolle spielt, nur Fassade.

• Noch immer können «Schattenbanken», die über ein jährliches Volumen von fast 50 Billionen Euro verfügen, weitgehend unreguliert spekulieren: Hedge Funds, Versicherungs- und Industriekonzerne sowie Immobilienspekulanten.

• Noch immer werden der rein spekulative Hochfrequenzhandel und andere rein spekulative Transaktionen dank Steuerbefreiung gefördert. Eine weit gefasste Finanztransaktionssteuer ist an den Krisengipfeln aus den Traktanden gefallen. Denn die Finanzmächte wollen nichts davon wissen. Mit den Milliardeneinnahmen aus einer solchen Steuer könnten soziale Folgen der Wirtschaftskrise abgefedert und Investitionen getätigt werden, ohne der Realwirtschaft zu schaden und ohne die Schuldenberge zu erhöhen.

Die Staaten und internationalen Gremien handelten nur dann rasch, als sie auf Betreiben und im Interesse der Finanzbranche weitere Krisenpakete schnürten. Gerettet haben sie damit – anders als behauptet – nicht einzelne Staaten, sondern in erster Linie Banken, Versicherungen und Hedge Funds, welche Obligationen dieser Staaten gekauft hatten. Ihre ganze Macht nutzen Grossbanken für ihre kurzfristigen Interessen: Sie wollen ihre Gewinne rasch steigern, die UBS zum Beispiel, um für Milliardenverluste und -Bussen aufkommen zu können.

Die längerfristigen Risiken: Wenn die nächste, grössere, mit zusätzlichen Schulden getriebene Spekulationsblase platzt, werden die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Folgen noch viel gravierender sein als nach dem Platzen der letzten Blasen. Weil Banken, Versicherungen und Hedge Funds ihre wertlosen Staatsobligationen unterdessen losgeworden sind, sind die Verluste sozialisiert. Sie bleiben bei den Steuerzahlern und Rentnern hängen – und entwickeln sich damit zu sozialen Zeitbomben.

Das Ansehen der parlamentarischen Demokratie sinkt vorerst in Ländern des Südens. Dort hat man Löhne und Renten zusammengestrichen. Steuern und Preise steigen stark. Die Hälfte der Schulabgänger stehen ohne Job und Perspektiven da. Die Gefahr ist gross, dass die Betroffenen auf die Demokratie pfeifen und radikale Strömungen Oberhand gewinnen. Solchen Strömungen wird auch die Schweiz ausgesetzt sein, sobald die Schweiz einige Folgen der internationalen Krise ernsthaft zu spüren bekommt. Denn in einer ökonomisch eng vernetzten Welt gibt es keine geschützten Inseln mehr.

3. Falsche Preise machen die Marktwirtschaft zur Irrläuferin

Nach dem Zusammenbruch der Planwirtschaften im Ostblock stand die soziale Marktwirtschaft als Siegerin da. Unterdessen glänzen noch die sozial gut abgefederten Systeme im Norden Europas, während die führenden Volkswirtschaften der USA, Japans und mehrerer Staaten Europas arg am Schleudern sind.
Erstens stand und steht das Geldsystem, das für die Stabilität entscheidend ist, am Rande des Zusammenbruchs. Die Preise des Geldes, also die Zinssätze, sind manipuliert und von den Risiken der Geldanlagen entkoppelt.

Zweitens schlittert die globalisierte Realwirtschaft auf eine stets schiefere Ebene, weil ihre Grundlagen, die Marktpreise, völlig falsche Signale aussenden:

• Die Transportkosten sind viel zu tief, weil Milliardensubventionen und Steuergeschenke die Preise verfälschen.

• Die Energiekosten sind viel zu tief, weil sie die anfallenden Kosten der heutigen Energiegewinnung bei weitem nicht decken. Auch die Risiken (Fukushima, Ölplattformen) sind nicht gedeckt.

• Die Kosten von Rohstoffen wie Uran, Kupfer, Erze oder seltene Erden sind viel zu tief, weil sie weder die Umweltschäden noch den Abbau der vorhandenen Reserven noch die realen Transportkosten enthalten.

• Die Preise vieler Produkte sind viel zu tief, weil die Umwelt- und Gesundheitskosten, die bei der Herstellung, dem Transport oder dem Gebrauch anfallen, sozialisiert sind.

• Die «Weltmarkt»-Preise von vielen Landwirtschaftsprodukten sind viel zu tief – selbst wenn sie wegen Knappheit steigen – weil ihre Produktion und die Exporte mit Milliarden subventioniert sind. Einzelne Landwirtschaftsprodukte wie Soja sind zeitweise zu teuer, weil sie zu Spekulationsobjekten verkommen sind.

Zu vollen Kosten wären viele Produkte teurer oder noch teurer als heute. Dank des Wegfalls von Milliarden an Subventionen könnten Steuern in gleichem Ausmass gesenkt werden.

Die Risiken des heutigen Preisgefüges: Das verfälschte Marktspiel von Angebot und Nachfrage führt zu volkswirtschaftlich falschen, dem Gesamtwohl abträglichen Produktionsentscheiden. Die Globalisierung bringt keine vernünftige Arbeitsteilung, sondern führt zu hohen volkswirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Kosten.

4. Ein Berg von Altlasten

Das Jahr 2013 beginnt mit Altlasten, die sich angehäuft haben, und die auch in den kommenden Jahren und Jahrzehnten eine schwere Hypothek darstellen:

• Die Ausbeutung der schrumpfenden Rohstoffvorräte wird um ein Mehrfaches teurer als bisher.

• Trotz schöner Worte an Klimakonferenzen, die den CO2-Ausstoss begrenzen wollen, werden alle Neuentdeckungen von Öl- und Gasvorräten, selbst in der Arktis, bejubelt – mit der Absicht, sie auszubeuten, zu verbrennen und in CO2 umzuwandeln.

• Die Energiewirtschaft produziert noch mehr hochradioaktiven Atommüll, den die Menschen einige Hunderttausend Jahre sicher unter Kontrolle halten müssen.

• In Gewässern und Böden – unserer Lebensgrundlage – sammeln sich wegen der intensiven Nutzung Schwermetalle, Pestizide und andere Schadstoffe an.

Die Risiken: Es kommt zu ruckartigen Preisschüben bei Rohstoffen und Energieträgern, auf welche die Wirtschaft kurzfristig nicht reagieren kann. Die Erwärmung der Erde nimmt beschleunigt zu, so dass sich Menschen und Wirtschaft noch schwerer anpassen können.

Sauberes Wasser und gesunde Böden werden teuer, so dass sie noch weniger Menschen zur Verfügung stehen. Mit dem «Land Grabbing» hat der Kampf um fruchtbare Böden und verbleibende Rohstoffvorräte bereits begonnen. Konflikte und lokale Kriege sind schon ausgebrochen. Sie können leicht in grössere Kriege ausarten.

5. Über eine Millarde Menschen leben in Elend und Armut

Schon lange in einer Dauerkrise befinden sich Länder der südlichen Erdhalbkugel. Elende Armut war in der Dritten Welt schon immer verbreitet. Um sie zu überwinden, taten die Reichen schon immer zu wenig. In wirtschaftlich schwierigen Zeiten tun sie noch weniger und beuten die Armen noch stärker aus.

In wenigen Flugstunden Distanz von Zürich oder Genf leben 800 Millionen Menschen, die nicht nur extrem arm, sondern sogar chronisch unterernährt sind. Was die Industriestaaten ihren eigenen Bauern wie selbstverständlich zugestehen – ein genügendes und sicheres Einkommen dank Subventionen und Zollschutz – verweigern sie mit fadenscheinigen Argumenten den Bauern in Afrika, Asien und Südamerika.

Den Staaten dieser Kontinente verbietet der Internationale Währungsfonds, Subventionen zu zahlen und einen Zollschutz einzuführen. Die dortigen Bauern (und Regierungen) dürfen sich nicht einmal wehren, wenn die USA, Kanada und die EU sie mit ihren hoch subventionierten Exportprodukten wie Mais, Zucker, Fleisch oder Baumwolle zu Dumpingpreisen auf unfairste Art konkurrenzieren.

Das Risiko für uns: Die Bevölkerung dieser Länder kommt nicht aus der Armutsfalle. So wie verarmte Schweizer im 19. Jahrhundert massenweise auswanderten, versuchen heute immer mehr Menschen aus diesen armen Ländern in reiche Länder – darunter auch die Schweiz – auszuwandern.

Ein Jahr der Besinnung

2013 muss ein Jahr der Besinnung, der Aufklärung und des Handelns werden. Es beginnt mit der Neujahrsansprache Ueli Maurers. Der Bundespräsident darf sich nicht auf gute Wünsche und ein Lob auf die Schweiz beschränken, sondern er soll die Risiken beim Namen nennen. Denn die Sturmwellen, die im Anzug sind, werden nicht halt machen vor der Schweiz. Sie ist keine sichere Insel.

Dieser Artikel erschien erstmals auf infosperber.ch

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