Wo das Gemeindehaus noch im Dorf steht

Wer glaubt, im Oberbaselbiet sei jedes Dorf gleich, irrt sich gewaltig. Das zeigt das Beispiel Titterten.

Manuela Thoma und Claudia Lipski kämpfen für den Erhalt des Ladens in Titterten – und für ein Stück Identität. (Bild: Michael Würtenberg)

Kleine Gemeinden im Oberbaselbiet arbeiten immer stärker zusammen. Fusionen sind für viele Bewohner aber tabu. Von Martina Rutschmann

Sie sagt es, als wäre es eine Selbstverständlichkeit: «Dort, die ‹Tanne›.» Die Frage an die Kioskfrau in Ziefen war: «Wo gibt es ein Restaurant, das jetzt geöffnet hat?» Die Betonung lag auf jetzt. Es ist schwierig, hier um elf Uhr morgens eine Beiz zu finden. Das Restaurant Sodhaus in Titterten öffnet erst nachmittags, im Lokal im benachbarten Arboldswil brennt zwar Licht, der Chef verweist aber auf Ziefen. Und tatsächlich: Die «Tanne» ist offen. Ein Kaffee kostet Fr. 3.80; auf einer Kuhglocke steht, dass der Turnverein Schweizer Meister war.

Am runden Tisch sitzen ältere Schweizer, am langen Tisch nebenan Männer aus dem Balkan. Die Serviertochter bringt einen Kaffee nach dem anderen, einmal an den langen Tisch, dann an den Stammtisch, wo sie jeweils für einen Schwatz stehen bleibt. Jede Gruppe spricht in ihrer Sprache.

Es ist wie mit den Gemeinden: Ziefen hat mit dem benachbarten Arboldswil wenig zu tun. Zwei Bezirke, zwei Welten. Bezirk Liestal und Bezirk Waldenburg, zwei Identitäten – und innerhalb der Bezirke noch viele weitere Identitäten. Jede Gemeinde hat ihren Charakter. Die Serviertochter sagt auch nicht ohne Stolz, Ziefen sei unabhängig. «Schauen Sie, dort ist unser Gemeindehaus.»

Arboldswil steht seiner Nachbars­gemeinde in nichts nach: Das Dorf verfügt ebenfalls über ein eigenes Gemeindehaus. Die Frage ist nur, wie lange noch. Nach Schule und Feuerwehr will Arboldswil nun auch die Verwaltung mit Titterten zusammenlegen. Ein Infor­mationsabend zur Abstimmung fand vor wenigen Tagen statt. Seither wissen die Bewohner der beiden Dörfer, worüber im Dezember entschieden wird. Eine Verwaltungs­zusammen­le­gung als Schritt in Rich­tung Fusion? «Das ist Interpretationssache», sagt Rolf Rudin (49), Gemeindepräsident von Titterten. «Finanziell wäre bei einer Fusion nicht mehr Fleisch am Knochen.» Das sagt auch der Fraktionspräsident der Baselbieter Grünen, Klaus Kirchmayr. Der ist grundsätzlich zwar für Zusammenschlüsse, aber: «Fusionen sind erst sinnvoll, wenn ein Verwaltungskreis entsteht, der 5000 oder mehr Einwohner betreut.» Erst dann ergäben sich «echte Einsparungen».

Von so vielen Bewohnern sind Titterten und Arboldswil mit ihren zusammen knapp tausend Einwohnern weit entfernt. Abgesehen davon seien die beiden Dörfer mentalitätsmässig zu verschieden für eine Fusion, sagt Claudia Lipski (50). Als Präsidentin der Dorfladengenossenschaft kämpft sie um das Überleben des einzigen Ladens in Titterten. «Ältere Bewohner sind nicht mehr mobil und die ÖV-Anbindung ist schlecht», sagt sie. Im Schützenverein erlebt sie, wie sich die Welt auch in diesem stillen Dorf auf dem Berg verändert. «Früher kam das ganze Dorf zu Vereinsfesten, man fand kaum Platz.» Zugezogene Familien aber würden kaum am Dorfleben teilnehmen.

Identität dank eigenem Most

Manuela Thoma und ihr Mann bilden da eine Ausnahme. Sie haben den Job des Mostwarts übernommen, als sie vor einigen Jahren nach Titterten «ins Traumland» zogen, wie sie sagt. Die 44-Jährige arbeitet zudem im Laden, um in Kontakt zu kommen. Integrierter könnte die fünfköpfige Familie nicht sein. Wer in der «Mosti» die Äpfel der Bauern presst, hat einen wichtigen Posten: Allein dieser Herbst gab 22 000 Liter Most her. Es ist der «Most aus Titterten», der verkauft wird. Und damit ein Teil der Identität der Gemeinde. Eigener Most und eigene Vereine gehören eben zu einem Dorf – ob Schulen und Verwaltungen zusammengelegt sind oder nicht. Denn zusammengelegt heis­se noch lange nicht zusammengewachsen, sagt «Ureinwohnerin» Claudia Lipski: «Solange es sichtbare Grenzen gibt zwischen den Dörfern, müssen sie eigenständig bleiben.»

Rolf Rudin, Gemeindepräsident von Titterten, ist nicht dermassen strikt gegen eine Fusion. Er fände es aber schön, wenn Titterten seine Identität behalten würde. Politiker Klaus Kirchmayr macht sich keine Sorgen um allfällige Identitätsverluste – im Gegenteil: Fusionen ganzer Täler würden die Identität der Dörfer sogar sehr gut erhalten, wie das Beispiel Glarus zeige. So weit ist man im Oberbaselbiet nicht. Noch stehen die Gemeindehäuser hier im Dorf – fast überall jedenfalls.

Quellen

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 11/11/11

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