Das vor einem Jahr verhandelte Abkommen Minsk II hat dazu beigetragen, den Konflikt im Donbass zu beruhigen. Eine politische Lösung ist jedoch in weiter Ferne. Die dazu erforderlichen Schritte sind bei allen Beteiligten unpopulär.
Tag für Tag schicken die Beobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) ihre Berichte aus dem Kriegsgebiet. Es sind lapidare Notizen der Special Monitoring Mission (SMM) über die Vorkommnisse in der Ostukraine. 7. Februar, Bezirk Petrowskij, Donezk, ein Mann wurde tags zuvor auf der Strasse von Granatsplittern tödlich getroffen: «Am südlichen Ende des Kraters sah die SMM Blutflecken. Die SMM konnte die Richtung, aus der das Feuer gekommen ist, nicht feststellen, da nach dem Vorfall Autos über den Krater gefahren sind.»
Seit mehreren Tagen notieren die OSZE-Beobachter wieder vermehrt Verstösse gegen die seit September 2015 grösstenteils wirksame Waffenruhe. Eskalationen im Feld finden häufig vor internationalen Gesprächsrunden statt: Heischen um die Mangelware Aufmerksamkeit in diesem Krieg mit mehr als 9000 Toten, der eineinhalb Jahre nach seinem Ausbruch in der internationalen Öffentlichkeit bereits als «vergessener Konflikt» gilt.
Massnahmen nicht umgesetzt
Schon zum Jahrestag des Minsker Abkommens sollten die Aussenminister der Normandie-Runde (Deutschland, Frankreich, Russland und die Ukraine) zusammenkommen, um dem Friedensprozess neuen Schwung zu verleihen. Doch das Treffen ist noch immer nicht fix. Auch weil nicht klar ist, was dabei eigentlich verkündet werden soll: Kompromisse zwischen den Konfliktparteien oder gar Verhandlungserfolge gibt es nicht zu präsentieren.
Mehr als ein Jahr nach den heftigen Gefechten kommt der Wiederaufbau im Eisenbahnknotenpunkt Debalzewe noch nicht richtig in Gang. (Bild: AP photo/PETR ANIKUKHIN)
Vor einem Jahr wurde in der weissrussischen Hauptstadt das Abkommen Minsk II geschlossen. Am 11. Februar verhandelten die deutsche Kanzlerin Angela Merkel, Frankreichs Präsident Francois Hollande, Russlands Staatschef Wladimir Putin und sein ukrainischer Kollege, Petro Poroschenko, einen Friedensplan.
Das Abkommen wurde tags darauf von der damaligen OSZE-Botschafterin, der Schweizer Diplomatin Heidi Tagliavini, dem ukrainischen Vermittler Leonid Kutschma, dem russischen Botschafter Michail Surabow sowie zwei Vertretern der Separatisten unterzeichnet. Es besteht aus 13 Massnahmen und sollte bis zum Ende des Jahres 2015 den Weg zu Deeskalation und einer echten politischen Lösung ebnen. Doch ein Jahr nach seiner Unterzeichnung sind mehrere Punkte des Abkommens nur in Teilen umgesetzt.
Für Präsident Poroschenko wird es immer schwieriger, die Reform durchzubringen.
Ebenso wie die mehrere hundert Kilometer lange Frontlinie haben sich die Positionen der Konfliktparteien verfestigt. Ein Knackpunkt bei den wöchentlich Gesprächsrunden der Kontaktgruppe ist eine Verfassungsreform, die den nicht von Regierungskräften kontrollierten Gebieten mehr Befugnisse geben soll.
1,4 Millionen sind Flüchtlinge im eigenen Land
Während Kiew lediglich eine Dezentralisierung vorschwebt, möchten die prorussischen Gebietsherren und ihre russischen Unterstützer möglichst weitreichende Eigenständigkeit. Für Präsident Poroschenko, der dem eigensinnigen Parlament die Entscheidung überlassen muss, wird es immer schwieriger, die Reform durchzubringen. Erstens wegen der akuten innenpolitischen Krise, die im schlimmsten Fall zum Rücktritt der Regierung und zu Neuwahlen führt. Zweitens wegen fehlender Konzessionen der (pro-)russischen Seite in anderen Punkten – etwa bei der geplanten Lokalwahl im Donbass.
Diese Gemeinderatswahl soll nach ukrainischer Rechtsordnung ablaufen und einen demokratischen Prozess der Reintegration in Gang setzen. Dabei sollen ukrainische Parteien zugelassen und der Wahlgang von internationalen Beobachtern kontrolliert werden. Die für Kiew wichtige Frage, wie für deren Sicherheit gesorgt werden soll, ist noch offen. Gegenstand von Verhandlungen ist auch, ob und wo die 1,4 Millionen Binnenflüchtlinge abstimmen dürfen. Dem Vernehmen nach wird in Minsk über die Entsendung internationaler Polizeikräfte zur Sicherung der Wahlen diskutiert.
«Es geht nicht darum, ein Gebiet zu erobern, sondern die andere Seite dazu zu zwingen, es zu nehmen.»
Die zähe Lösungssuche hat den Kiewer Publizisten Mykola Rjabtschuk dazu veranlasst, von einem «sonderbaren Krieg» zu sprechen: «Es geht nicht darum, ein Gebiet zu erobern, sondern die andere Seite dazu zu zwingen, es zu nehmen.» Eine zugespitzte, aber ziemlich treffende Formulierung: Der Kreml ist nach der Entsorgung seiner Neurussland-Pläne – der Schaffung eines grossen Einflussgebiets im ukrainischen Südosten – mit einem Donbass konfrontiert, der hohe Finanzhilfen benötigt. Allein die Pensionen in der «Donezker Volksrepublik» dürften Moskau im Jahr 450 Millionen Euro kosten. Von Aufbauhilfen ist erst gar nicht die Rede.
Moskau lässt mehrere Optionen offen
Gleichzeitig möchte der Kreml offenbar über den Donbass als Instrument zur Destabilisierung einer demokratischen Ukraine verfügen – und wenn nötig, kann der Konflikt angeheizt werden. «Moskau scheint mit mehreren Optionen zu spielen», konstatiert ein aktueller Bericht der NGO International Crisis Group. «Diese taktische Fluidität ist riskant.»
Wenig Interesse an einer Konfliktlösung haben indes die Lokalherrscher in Donezk und Luhansk: Sie müssen fürchten, von Russland fallen gelassen zu werden. Aus Angst vor Machtverlust haben sich mehrere Feldkommandanten stets offen gegen den Minsk-Prozess ausgesprochen.
Und Kiew? Anders als die offizielle Diktion suggeriert, will man den Donbass nicht um jeden Preis zurückhaben. Das für Kiew ungünstigste Szenario wäre eine Übernahme der Kosten mit geringem politischen Einfluss. Mangels Angeboten von der Gegenseite zieht man die Sache derzeit lieber in die Länge. Auch innenpolitisch ist Kompromissbereitschaft zunehmend riskant. Die neue Deadline des Minsk-Prozesses – Ende 2016 – könnte sich erneut als variabel erweisen.
Hintergrund des hochrangigen Treffens in der weissrussischen Hauptstadt am 11. und 12. Februar 2015 waren die andauernden schweren Kämpfe in der Ostukraine, insbesondere um den Flughafen Donezk und den Bahnhofsknotenpunkt Debalzewe. Das bis dahin gültige sogenannte Minsk-Protokoll (Minsk I) vom September 2014 war nie umgesetzt worden. Rufe nach einer Erneuerung des Pakts wurden laut. Die wichtigsten Punkte und der Grad ihrer Erfüllung im Einzelnen:
• Sofortige Waffenruhe: Erst ab September 2015 wurde der Waffenstillstand längerfristig eingehalten.
• Abzug schwerer Waffen: Dieser Punkt ist schwer kontrollierbar, da niemand weiss, wie viele Waffen ursprünglich im Konfliktgebiet waren. Fakt ist, dass beide Konfliktparteien Artillerie, Panzer und Raketensysteme abgezogen haben. Zuletzt haben die OSZE-Beobachter aber wieder vermehrt schwere Waffen gesichtet, die eigentlich nicht mehr in Frontnähe sein dürften.
• Monitoring durch OSZE-Beobachter: Die OSZE hat ihre Präsenz im Konfliktgebiet ausgebaut und die Zahl der Beobachter erhöht. Diese werden jedoch immer wieder am Zugang zu bestimmten Orten gehindert.
• Gesetz über den besonderen Status des Donbass/ Verfassungsreform: Die Mehrheit der Abgeordneten stimmte in erster Lesung im August 2015 dafür. Zuletzt wurde der Zeitrahmen für die endgültige Abstimmung verlängert – ob sich immer noch die notwendige Mehrheit findet, ist zweifelhaft.
• Gefangenenaustausch: Dieser geht nur zäh voran; auf beiden Seiten befinden sich mehrere Hundert Gefangene. Das Rote Kreuz hat nach wie vor keinen Zutritt zu ukrainischen Gefangenen in Separatistengebieten.
• Zugang für humanitäre Organisationen: Einige UNO-Agenturen haben Zugang zum Separatistengebiet, NGOs nur sehr selektiv.
• Erneuerung wirtschaftlicher Beziehungen: Die Auszahlung von Pensionen und Sozialhilfe funktioniert nur lückenhaft. Ukrainische Behörden zahlen offiziell aus Gründen der Sicherheit nur auf dem von ihnen kontrollierten Territorium Pensionen und Hilfen aus.
• Abzug von bewaffneten Formationen und Söldnern, Kontrolle der Staatsgrenze durch ukrainische Behörden, neues Wahlgesetz und Lokalwahlen: noch nicht erfüllt.