Zu. Wenig. Platz.

Die Debatte über die Zuwanderung ist auch ein Kampf um unsere Wahrnehmung.

Zuviel, zuwenig? Dichte entsteht auch in unseren Köpfen. (Bild: Hansjörg Walter)

Die Debatte über die Zuwanderung ist auch ein Kampf um unsere Wahrnehmung.

Die Dichte, sie springt uns an, durchdringt uns und unser Leben. Sonntags in der Migros am Bahnhof, nach der Mittagsschlafzeit auf dem Spielplatz im Kannenfeldpark, nach einer missglückten Baggerunterquerung auf der A1 an jedem gewöhnlichen Arbeitstag. Zu. Viele. Menschen. Kein Platz! Dichtestress!!

Und natürlich sind die Ausländer schuld. Und natürlich wird alles immer schlimmer. Und natürlich müssen wir nun endlich etwas dagegen unternehmen.

Just diese Woche hatten die Journalisten dieses Landes ein kleines rotes Büchlein auf ihrem Schreibtisch: «Der Zug ist voll – die Schweiz im Dichtestress», heisst die vergnüglichbärbeissige Sammlung von Autor Thomas Hämmerli, der laut den Angaben im Büchlein eine «verstreute Existenz» zwischen Tiflis, Mexiko-Stadt, Sao Paulo und Zürich führt.

Hämmerli, das merkt man bei der Lektüre schnell, regt sich fürchterlich auf. Über einen Begriff, der ursprünglich aus einem wissenschaftlichen Randgebiet stammt: der Stressforschung eines bayrischen Labors mit Tupajas (Spitzhörnchen). Seither, seit den 1970er-Jahren, hat der «Dichtestress» eine schwindelerregende Karriere gemacht und dient heute in den Worten von Hämmerli zum «Knüppel aller, die glauben, die Schweiz sei kurz vor dem Untergang durch Überbevölkerung oder gar Überfremdung». Dabei werde der «Dichtestress» nicht nur aus xenophobem Ressentiment verwendet, sondern auch aus «purer Dummheit und Mangel an Sprachsensibilität».

«Total überbevölkert»

Die Sammlung des Autors mit der verstreuten Existenz und seiner Mitstreiter (darunter der Kulturjournalist Manfred Papst, Popstar Dieter Meier, Satiriker Peter Schneider und andere) geht dieser Nachlässigkeit nach, klagt an, bedauert und wirft einen Blick zurück. Schriftsteller Wolfgang Bortlik zitiert in seinem Beitrag mit dem schönen Titel «Ein Pandämonium patriotischer Poltergeister» ein Referat von Botschafter Rudolf Weiersmüller, dem ehemaligen Koordinator für internationale Flüchtlingspolitik im Schweizer Aussenministerium. Dieser schrieb 1990 in der Parteizeitschrift der Schweizer Demokraten, dass die Schweiz «total überbevölkert» sei. Eigentlich könne das Territorium dieses Landes nur zwischen 700’000 und 1,4 Millionen Menschen «tragen», der Rest sei «überschüssig».

Damals war das nicht die erste Debatte über Zuwanderung und die Dichte in der Schweiz, heute erleben wir vor der Abstimmung über die Masseneinwanderungsinitiative der SVP nicht die letzte. Das diffuse Unbehagen gegen das Fremde wird in der Schweiz in regelmässigen Abständen zum innenpolitischen Thema. Dabei mischen sich immer zwei unterschiedliche Debattenstränge zu einem unappetitlichen Ganzen: die Angst vor dem Fremden und das Gefühl, zu wenig Platz im eigenen Land zu haben.

Uns interessiert vor allem der zweite Bereich. Ist es tatsächlich so eng geworden in der Schweiz? Wie viele Menschen erträgt das Land und seine Infrastruktur tatsächlich?

Die Wahrnehmung aus der Balance

Professor Ulrich Weidmann arbeitet an der ETH Zürich am Institut für Verkehrsplanung und Transportsysteme, und er sagt den wohl entscheidenden Satz in dieser Debatte: «Unsere Wahrnehmung ist aus der Balance geraten.» Gerade beim öffentlichen Verkehr, dem heiligen Gral aller Dichtestress-Propheten. «Der Zug ist voll», schreien sie und meinen die Strecke Basel–Liestal um 17 Uhr an einem Werktag.

Natürlich gebe es zu bestimmten Zeiten an bestimmten Stellen eine starke Auslastung des Systems, sagt Weidmann: «Die Spitzenauslastungen liegen in der Natur der Sache.» Betrachte man das Netz aber als Ganzes, würden diese Spitzen wieder relativiert. Im Regionalverkehr kommt man über den ganzen Tag gesehen auf eine Auslastung von 15 bis 17 Prozent, im Fernverkehr sind es etwa 30 Prozent. Eine Zahl, die in den vergangenen Jahren wegen des grösseren Angebots eher kleiner wurde. Und dennoch hat sich unsere Wahrnehmung verändert. «Der stärkste Treiber ist dabei unsere grössere Mobilität. Wir sind immer noch 90 Minuten pro Tag unterwegs und legen dabei immer grössere Distanzen zurück», sagt Weidmann. 1994 fuhren jede Schweizerin und jeder Schweizer noch 31 Kilometer pro Tag, 2010 waren es bereits 37 Kilometer oder zwanzig Prozent mehr. Das sei auch ein Preis des Taktfahrplans: Die Menschen müssen nicht mehr zügeln, sie können pendeln.

Der zweite Preis des Taktfahrplans: Alle wollen alles. Selbst auf kaum befahrenen Strecken braucht es jede halbe Stunde einen Zug. Weidmann: «In der Tendenz haben wir ein zu grosszügiges Angebot, wo die Nachfrage nicht besonders gross ist, und ein eher zu knappes Angebot auf den stark belasteten Strecken.»

Das grosse Aufrüsten

Das Angebot wird in den nächsten Jahren noch grösser werden. Am 9. Februar stimmen wir nicht nur über die Zuwanderungsinitiative der SVP ab, sondern auch über die langfristige Finanzierung des Bahnverkehrs. 6,4 Milliarden sollen mit dem Programm «Fabi» in den öffentlichen Verkehr gepumpt werden. Unsere Infrastruktur soll auf jene 9 Millionen (mittleres Szenario des Bundesamts für Statistik) bis 11 Millionen (hohes Szenario) Einwohner der Schweiz im Jahr 2050 aufgerüstet werden.

Ob alleine die Aufrüstung der richtige Weg ist, darüber streiten sich die Experten. Professor Eugen Brühwiler war Präsident der Leitungsgruppe des Nationalfonds-Projekts «Nachhaltige Siedlungs- und Infrastrukturentwicklung» (NFP 54), das zwischen 2005 und 2011 in 31 Forschungsprojekten wissenschaftliche Grundlagen erarbeitete, «die zu einer nachhaltigen Entwicklung von Siedlung und Infrastruktur in der Schweiz beitragen». Zum Abschluss des Programms verfasste das NFP 54 verschiedene Empfehlungen, deren Umsetzung diesen Frühling/Sommer zum ersten Mal systematisch ausgewertet werden sollen.

Brühwiler ist der Ansicht, dass die Forderung, eine starke Nachfrage brauche zwingend einen Ausbau der Infrastruktur, veraltet sei und im schlimmsten Fall zum Kollaps führen könnte, «weil der Aufwand für die Erhaltung einer weiter wachsenden Infrastruktur nicht finanziert werden kann und volkswirtschaftlich kaum tragbar ist», wie er in einem E-Mail allgemein zum Thema (und nicht direkt zu Fabi) schreibt. Brühwilers Lösung: Eine bessere Auslastung der bestehenden Infrastruktur und eine Änderung unseres Mobilitätsverhaltens. «Ein Land wie Japan, das die Verdichtung schon seit Jahrzehnten lebt, kann uns diesbezüglich Anschauungsunterricht und Ideen für unsere Situation in der Schweiz geben.»

«Absurde Hysterie»

Er stösst damit in eine ähnliche Richtung wie der Basler Stadtentwickler Thomas Kessler, der der TagesWoche vor einer Woche im Interview sagte: «Vor allem aber ist es nicht nötig, die Mobilität weiter zu erhöhen, weil wir vermehrt online arbeiten und einkaufen. Wir haben immer mehr Wissensarbeiter, die elektronisch arbeiten. Der Mobilitätszwang nimmt ab.» Auch sei die Hysterie wegen des Dichtestresses absurd: «Die ganze Bevölkerung der Schweiz hat bis in die 1980er-Jahre viel dichter gelebt.»

Auch hier: ein Problem der Wahrnehmung. Schön zeigt das auch der «Dichtestressomat» von David Bauer. Der Digitalstratege der TagesWoche hat die Wohndichte in sämtlichen Gemeinden der Schweiz online erfasst und daraus Szenarien errechnet. Eine Erkenntnis daraus: Schon heute leben 58 Prozent der Bevölkerung so dicht, wie der Durchschnitt auch in einer 11-Millionen-Schweiz leben würde. Es ist eine Spielerei – aber sie führt einem die Relationen vor Augen. Wenn die ganze Schweiz beispielsweise so dicht besiedelt wäre wie Basel, wo über 6000 Menschen pro Quadratkilometer leben, dann hätte die aktuelle Bevölkerung der Schweiz im Kanton Aargau Platz. In der ganzen Schweiz könnten dann 124,8 Millionen Menschen wohnen. Mit Abstand am dichtesten wohnen heute die Genferinnen und Genfer – wäre ihre Stadt der Massstab für die gesamte Schweiz, es hätte Platz für sagenhafte 213,8 Millionen Menschen.

Ein Missverhältnis

Das wäre knapp die halbe Bevölkerung der EU und hat mit der Realität natürlich wenig zu tun. Hört man aber den Promotoren der Masseneinwanderungsinitiative zu, dann scheint die Schweiz regelrecht geflutet zu werden.

Dieses Missverhältnis zwischen Tatsachen und Wahrnehmung ist eine Konstante aller Überfremdungsdebatten in der Schweiz in den letzten Jahren. «Es gibt keinen direkten Zusammenhang zwischen dem Ausländeranteil und der Angst vor der Überfremdung. Die Angst der Bevölkerung war am grössten in den 1930er- bis 1950er-Jahren, just als der Ausländeranteil so klein war wie sonst nie», sagt der Basler Historiker Patrick Kury, der an den Universitäten von Bern und Luzern als Privatdozent lehrt. Die Angst vor dem Fremden werde gezielt geschürt und für politische Zwecke benutzt. «Ich kann das Unbehagen der Leute ja verstehen. Aber die Hoffnung, eine soziale Dynamik von Amtes wegen und das noch mit möglichst kleinem behördlichen Aufwand regeln zu wollen, ist eine Illusion.»

Mit Blick auf die Masseneinwanderungsinitiative, deren Initianten zum System der Kontingente zurückkehren möchten, bemängelt Kury die Marktungläubigkeit genau jener rechten Kreise, die sonst immer und uneingeschränkt an den Markt glauben: «Schon in der Vergangenheit haben die Steuerungsversuche der Schweizer Politik in diesen Fragen nicht gut funktioniert. Sie haben uns sogar zusätzliche Probleme beschert.» Das sei bei der Bevölkerungspolitik vor dem Zweiten Weltkrieg und der antijüdischen Flüchtlingspolitik im Zweiten Weltkrieg so gewesen und in der Boomphase der 1960er-Jahre, als mit den Kontingenten falsche Anreize geschaffen wurden und strukturschwache Regionen nicht so gefördert worden seien, wie das der Markt vielleicht hätte tun können.

Die Wahrnehmung entscheidet Abstimmungen

Tobias Straumann, auch er Historiker, forscht zu den gleichen Themen wie Kury – und kommt zu einem anderen Schluss. Im Interview sagt er: «Auf Dauer ist eine ungebremste Zuwanderung innenpolitisch nicht durchzuhalten.» Immer wenn die Einwanderung stark war in der Schweiz, habe sich dagegen Opposition gebildet. Das war der Auslöser für die erste Schwarzenbach-Initiative gegen die «Überfremdung». Hätten die Schweizer 1970 Ja gestimmt, wären 300’000 Menschen ausser Landes gewiesen worden. Es wurde ein knappes Nein.

Wer weiss: Hätte die Rezession in den 1970er-Jahren nicht zu einem negativen Wachstum geführt – vielleicht wäre der zweite Anlauf von Schwarzenbach im Jahr 1974 erfolgreich verlaufen. Doch die Wahrnehmung der breiten Bevölkerung änderte sich – zugunsten der Ausländer.

Das ist eben auch ein entscheidender Punkt: Man mag über die Diskrepanz zwischen Wahrnehmung und Realität lamentieren, aber es ist die Wahrnehmung, die Abstimmungen entscheidet. Für den 9. Februar wird allgemein ein knappes Nein zur Masseneinwanderungsinitiative erwartet, aber das Thema bleibt aktuell: Voraussichtlich im nächsten Jahr werden wir über die Ecopop-Initiative abstimmen, die eine Begrenzung der Zuwanderung und Mittel für die Familienplanung in der Dritten Welt fordert. Sollte sich unser gefühlter Dichtestress bis dahin noch vergrössern – wer weiss.

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