Zug um Zug weniger Service

Wer ohne Billett in den Zug steigt, wird bald wie ein Schwarzfahrer behandelt. Der Serviceabbau trägt ganz die Handschrift von Ex-Post-Chef Ulrich Gygi, dem heutigen Präsidenten des Verwaltungsrats der SBB.

Zug um Zug (Bild: Michael Würtenberg)

Wer ohne Billett in den Zug steigt, wird bald wie ein Schwarzfahrer behandelt. Der Serviceabbau trägt ganz die Handschrift von Ex-Post-Chef Ulrich Gygi, dem heutigen Präsidenten des Verwaltungsrats der SBB.

Im allerbesten Licht wollten sich die SBB zeigen. Doch das ging gründlich schief. Vor der versammelten Schweizer Presse traf der neue Doppelstock-TGV im Bahnhof Basel mit einer Viertelstunde Verspätung ein. Dabei wäre die Verbindung nach Paris ein Grund zum Feiern: Basel–Paris ab dem dritten Advent dank neuer Strecke in sensationellen drei Stunden.

Dennoch vermag der Fahrplanwechsel am 11. Dezember keine Begeisterungsstürme auszulösen. Thema im Vorfeld ist vielmehr der Serviceabbau: Reisende ohne Billett werden neu in allen Zügen wie Schwarzfahrer behandelt. Niemand kann mehr im Zug ein Billett nachlösen. Dazu passte die Meldung, dass Gepäck auf dem Sitz jetzt kosten soll. Zwar mag diese Regelung tatsächlich Jahrzehnte alt und die Aufregung darob eine Kommunikationspanne der SBB, ein Medienhype oder gar beides sein. Bezeichnend aber ist, dass diese Nachricht perfekt ins Bild passte, das die Bahn derzeit abgibt: «Jetzt wollen die auch noch fürs Gepäck kassieren.»

Denn die Bahn ist drauf und dran, ihr gutes Image aufs Spiel zu setzen, das sie dank ausgebautem Angebot, das international seinesgleichen sucht, aufpolieren konnte. Inzwischen haben sich die Reisenden an die grossen Würfe wie die Neubaustrecke zwischen Zürich und Bern gewöhnt. Aber auch die SBB sorgen dafür, dass sich ihre Stammkunden nicht mehr richtig über das Angebot freuen mögen, sondern von einem leicht schlechten Gewissen beschlichen werden.

Zu attraktives Angebot

Wer mit dem Generalabonnement unterwegs sei, rentiere der Bahn zu wenig, rechneten Konzernleiter Andreas Meyer und Verwaltungsratspräsident Ulrich Gygi vor. Und sie wurden nicht müde, diese Aussage zu wiederholen, um die jährlich wiederkehrenden Preisaufschläge aufzugleisen. Das Angebot sei dermassen attraktiv, dass die Bahn von Pendlerinnen und Pendlern überrannt werde. Also müssten die Preise für Abonnemente steigen, und zwar stärker als der durchschnittlich fällige Preisaufschlag von drei Prozent jährlich.

Doch das ist längst nicht alles. Auch der Bund will mehr kassieren: Mit einer höheren Abgabe für die Benutzung des Schienennetzes ab nächstem Jahr, der sogenannten Trasseepreiserhöhung. Falls die Transportunternehmen diese zusätzlichen Kosten eins zu eins auf ihre Kundschaft überwälzen, steigen die Preise auf einen Schlag um zehn Prozent.

Da erscheint die Preiserhöhung von 1,2 Prozent auf diesen Fahrplanwechsel sehr moderat. Tatsächlich aber hat die Bahn die Preise für einzelne Angebote bereits jetzt weit stärker erhöht. Etwa für die beliebte Tageskarte Gemeinden, mit der an Spitzentagen bis zu 4’000 Reisende unterwegs sind. Innert weniger Jahre explodierte deren Preis auf neu 12’300 Franken. Bereits sind einige Gemeinden ausgestiegen und bieten die Karten nicht mehr an, weil die Preisdifferenz zur gewöhnlichen Tageskarte schwindet. Am liebsten hätten die SBB das Angebot ganz abgeschafft. Doch Gemeinden und Städte wehrten sich, denn mit den Gemeinde-Tageskarten konnten die Verwaltungen den Einwohnerinnen und Einwohnern endlich einmal ein beliebtes Produkt anbieten – ein willkommener Kontrast zu teuren Identitätskarten oder lästigen Abfallmarken in den Amtsstuben.

Preise steigen, Service wird abgebaut

Nach demselben Muster verteuerte die Bahn bereits per Ende 2010 die Tageskarten für Fahrten am Wochenende. Die günstigere 9-Uhr-Tageskarte, die in erster Linie Ausflügler von den morgendlichen Stosszeiten weglocken soll, erklärte sie für Fahrten am Wochenende kurzerhand für ungültig, obwohl dann gar keine Pendler unterwegs sind. Einziger Zweck dieser Massnahme: Die Wochenendausflügler müssen auf die Vollpreistageskarte ausweichen.

Genau genommen können die SBB solche Tarif-Entscheide nicht allein fällen. Offiziell entscheidet der Verband für öffentlichen Verkehr. Doch die SBB spielen in der Tarifkommission nicht nur als grösstes Unternehmen eine dominante Rolle, sie besitzen auch ein Veto-Recht. Die Meinung der SBB hat dermassen viel Gewicht, dass schon einmal eine SBB-Delegation im Alleingang mit dem Preisüberwacher über eine Tariferhöhung verhandeln wollte, obwohl auf dem Papier dafür die Kommission mit Vertretern verschiedener Transportunternehmer zuständig ist.

Teurer werden ab dem Fahrplanwechsel auch Auslandbillette. Die Bahn verdoppelt die Pauschale, eine Art Grundgebühr, von heute fünf auf neu zehn Franken. Gleich ganz abgeschafft wird das übertragbare Generalabonnement für Firmen. Das brachte den sonst den SBB sehr wohlgesonnenen Verkehrs-Club dazu, die Bahn ungewöhnlich scharf zu kritisieren. «Es ist ärgerlich, wenn gleichzeitig die Preise angehoben werden und der Service abgebaut wird», sagt Pressesprecher Gerhard Tubandt. Reisende entschieden sich nur dann für die Bahn und gegen das Auto, wenn ihnen ein umfassend guter Service geboten werde.

Beim ehemaligen Chef fährt man besser

Einen solchen Rundum-Service bietet ausgerechnet der ehemalige SBB-Chef Benedikt Weibel an. Weibel ist Vorsitzender des Aufsichtsrats der privaten Westbahn, die ab dem Fahrplanwechsel zwischen Wien und Salzburg pendelt. Dreizehn Mal am Tag mit sieben Doppelstockzügen. Jeder Sitzplatz ist mit einem Stromanschluss ausgerüstet, Internetzugang über WLAN ist selbstverständlich. In den Wagen hat es separate Damen- und Herrentoiletten.

Den Zug reinigen dieselben Angestellten, die auch Esswaren, Getränke und selbstverständlich auch Billette verkaufen – und zwar ohne Zuschlag. Die Privatbahn betreibt weder Billettautomaten noch Schalter, aber im Zug hat es in jedem Wagen eine Zugbegleiterin oder einen Zugbegleiter.

Für den Marketingmenschen Weibel ist klar: Es gibt ein klares Kundenbedürfnis, spontan einen Zug zu nehmen. Ein solches Bedürfnis zu ignorieren und die Kunden, die ohne Fahrausweis in den Zug einsteigen gar als potenzielle Betrüger abzustempeln, könne und wolle sich die Westbahn nicht leisten. Die Westbahn wirbt denn auch nicht zufällig mit dem Slogan: «Bahnfahren wird wieder einfach.» Weibel präsentiere die Vorzüge der neuen Bahn in Schweizer Medien so, dass man das Gefühl bekomme, hierzulande im falschen Zug zu sitzen, schrieb vor Kurzem die «NZZ am Sonntag». Das mag stimmen. Nur machen es die SBB mit ihrem Serviceabbau ihrem ehemaligen Chef auch sehr einfach zu glänzen.

Zurück zu den Polizisten-Kondukteuren

Gar nicht einfacher wird die Arbeit für die Zugbegleiter. Sie müssen die Reisenden ohne Fahrausweis büssen. Kulant sein können sie nur in einem sehr eng gesteckten Rahmen. Dem Zugpersonal bereitet die neue Regelung denn auch Bauchschmerzen, wie Jürg Hurni von der Eisenbahnergewerkschaft SEV bestätigt. «Wir befürchten, dass viele Reisende aggressiv reagieren werden, wenn das Zugpersonal wieder wie die Polizisten auftritt und Reisende ohne Billett wie Schwarzfahrer bestrafen muss, statt ihnen ein Billett verkaufen zu dürfen», sagt Hurni, selbst jahrelang Kondukteur. Er könne verstehen, dass die SBB zu ihrem Geld kommen müssten. Doch ihm wäre ein deutlich höherer Zuschlag oder Schwerpunktkontrollen auf kurzen Schnellzugstrecken wie zwischen Liestal und Basel lieber.

Beim Personal geht noch ein anderes Schreckgespenst um: Stellenabbau. Denn die SBB begründeten die Billettpflicht auch damit, dass Kondukteure viel Zeit bräuchten, um im Zug ein Billett auszustellen. Den Zugbegleitern fehle deshalb in Stosszeiten oft die Zeit für eine lückenlose Kontrolle. Sollten die Fahrausweise bald einmal, wie im Regionalverkehr längst üblich, nur noch stichprobenweise kontrolliert werden, wird die SBB kaum noch auf allen Schnellzügen zwei Zugbegleiter einsetzen. Dass sich die SBB in einer Vereinbarung mit den Personalverbänden verpflichten, im Fernverkehr keine Stichkontrollen einzuführen, vermochte die Gemüter nicht zu beruhigen.

Einen Vorgeschmack liefert die seit ein paar Jahren boomende Zugskategorie «Regionalexpress», ein Regionalzug, der nicht mehr an jedem Bahnhof hält. Diese Kategorie hat für die SBB zwei Vorteile: Die Kantone müssen sich an den Kosten beteiligen, und die Bahn kann sich Zugbegleiter sparen, die Züge genauso wie S-Bahnen unbegleitet fahren lassen. Die Zeitung «Der Sonntag» meldet in ihrer Ausgabe vom 4. Dezember 2011, dass die SBB ab dem 11. Dezember auf sieben Schnellzuglinien, die Zugbegleiter abschaffen. Genau genommen stufen die SBB Interregio-Züge zu Regio-Express-Zügen herunter. Damit werden Interregios auf den Linien Bern–Biel und Bern–Burgdorf–Olten ab dem Fahrplanwechsel als konduktuerlose Regional-Express-Züge geführt und das Personal eingespart.

Ein Abbau wie bei der Post

Das dürfte Ulrich Gygi, seit 2009 Verwaltungsratspräsident der SBB, freuen. Zuvor hat der Arbeitersohn den gelben Riesen für den Wettbewerb fit getrimmt und das Unternehmenn höchst profitabel gemacht. In Erinnerung geblieben ist er aber vor allem mit dem Abbau von Service. So hat er trotz massivem politischen Widerstand die Schliessung von Poststellen im grossen Stil vorangetrieben, Postbriefkästen abmontieren oder seltener leeren lassen. Um noch effizienter zu werden, lancierte er gegen Ende seiner Amtszeit gar den Versuch, Privathaushalten die Post erst am Nachmittag zuzustellen.

Wohin die Reise mit ihm als neuem Präsidenten des SBB-Verwaltungsrates geht, machte Gygi schon bald klar: in dieselbe Richtung wie bei der Post. «Er setzt bei der Bahn denselben Schwerpunkt und macht den Betrieb effizienter. Weil er in der Politik so ausgezeichnet vernetzt ist, kann er auch unpopuläre Entscheide durchziehen», sagt Peter Heiri. Als Branchenleiter des Personalverbandes transfair sass er mit Gygi während dessen fast zehnjähriger Amtszeit als Postchef immer wieder am Verhandlungstisch.

In einem Interview mit der Zeitung «Sonntag» sagte Gygi als frischgewählter Verwaltungsrat noch, die SBB könnten «einen Ruhewagen mehr anhängen pro Zug». Inzwischen ist dieser Serviceausbau kein Thema mehr. Die SBB haben den Ruhewagen zweiter Klasse längst wieder abgeschafft. Es gibt ihn nur noch in der ersten Klasse.

Unter Gygis Führung sinkt die Zahl der bedienten Bahnhöfe auf einen neuen Tiefstand. Von den rund 750 Bahnhöfen werden noch 200 von SBB-Personal bedient. Vor acht Jahren waren es noch 334. Gygi sieht viele Bahnhöfe genau so wie zuvor die Postfilialen: als reine Kostenstellen. «Zum Bahnfahren braucht es nicht unbedingt bemannte Bahnhöfe. Einen Bahnhof zu führen, um pro Tag einige wenige Billette zu verkaufen, ist nicht wirtschaftlich», sagte er der «Südostschweiz».

System ist zu kompliziert, um so hart durchzugreifen

Jetzt gibt es ab dem 11. Dezember auch im Zug keine Billette mehr zu kaufen. Wer ohne Billett reist, gilt auf allen Zügen als Schwarzfahrer und zahlt eine Busse von 90 Franken. Obendrauf gibt es noch einen Eintrag ins Register für Schwarzfahrer. «Das ist kundenfeindlich. Die SBB signalisieren damit, dass nur noch Kunden willkommen sind, um die sie sich nicht kümmern müssen», sagt Walter von Andrian, Chefredaktor der «Schweizer Eisenbahn-Revue». Er selbst hätte möglicherweise bereits einen Eintrag in diesem Register, wäre die Regelung schon in Kraft. Denn vor einiger Zeit kaufte er an einem Automaten ein «City Ticket», mit dem er am Zielort mit Bus und Tram weiterfahren konnte. Aus Versehen löste er nur ein einfaches Billett. «Ich dachte, das «City­ Ticket» gibt es nur als Retourbillett. Zudem fehlt auf einfachen Billetten der Pfeil als Erkennungsmerkmal für nur eine einfache Fahrt», sagt er. Wenn selbst Kenner des schweizerischen Bahnsystems irrtümlich ein falsches Billett lösen, ist das System zu kompliziert, als dass die Bahn so hart durchgreifen könnte, wie sie plant. Sie müsste kulanter statt strenger werden.

Davon ist aber nichts zu spüren. Die Bahn ist drauf und dran, den Goodwill, den sie sich in der Bevölkerung mit dem ausgebauten Angebot verschaffen konnte, mit einer harten Linie gegenüber ihren Kunden wieder zu verspielen. Kommt dazu, dass jetzt auch die Öffnungszeiten der übrig gebliebenen Schalter eingeschränkt werden wie in Uznach (SG). Dort bleibt der Schalter neu am Sonntag zu. «Die SBB können doch nicht die Schraube anziehen und verlangen, dass alle mit einem Billett in den Zug steigen und gleichzeitig Schalter schliessen», kritisiert der St. Galler CVP-Nationalrat und Präsident der Interessengemeinschaft Stationshalter Jakob Büchler. Gleichzeitig kürzt die Bahn den privaten Sta­tionshaltern die Marge, sodass diese ums Überleben kämpfen.

Bei der Sicherheit gespart

Gar keine gute Figur machte die Bahn bei verschiedene Unfällen wie im aargauischen Döttingen oder im Bahnhof Olten. Bei beiden Unfällen fuhren die Lokführer weiter, obwohl die Signale Rot zeigten und kollidierten seitlich-frontal mit einem entgegenkommenden Zug. Und in beiden Fällen waren die Signale mit dem veralteten Sicherungssystem Integra-Signum ausgerüstet, das ursprünglich aus den 1930er-Jahren stammt. Diese rudimentäre Sicherung bremst einen Zug erst, wenn er ein geschlossenes Signal überfährt. Dann ist es aber oft schon zu spät.

Erst rund ein Viertel der Signale ist mit einem teureren Zugbeeinflussungs-System oder dem noch moderneren ETCS ausgerüstet. Diese bremsen einen Zug bereits, wenn er zu schnell auf ein rotes Signal zufährt. Zwar kann er noch über das Signal «durchrutschen», wie es im Jargon heisst, doch die Zwangsbremsung stoppt den Zug noch vor dem sogenannten Gefahrenpunkt. Das ist häufig eine Weiche, auf der er mit einem entgegenkommenden Zug zusammenstossen würde. Eine Kollision kann mit dem moderneren System verhindert werden.

Jeden dritten Tag fährt ein Lokführer über ein rotes Signal

Dass ein Lokführer über ein rotes Signal fährt, passiert in der Schweiz gar nicht so selten: Dem Bundesamt für Verkehr wurden letztes Jahr offiziell 123 Fälle gemeldet. Damit überfährt jeden dritten Tag ein Lokführer ein Signal, das auf Halt steht. Bei seitlich-frontalen Unfällen wie in Olten, Döttingen oder im Sommer 2010 am Lötschberg zwischen einem Regional- und einem Güterzug hatten die Schweizer Eisenbahnen viel Glück im Unglück. Denn bei solchen Unfällen gibt es oft Schwerverletzte oder Tote wie letzten Winter bei einem frontalen Zusammenstoss zweier Züge im ostdeutschen Hordorf. Dort starben zehn Menschen.

Im abschliessenden Untersuchungsbericht zum Unfall im aargauischen Döttingen schrieb die eidgenössische Unfalluntersuchungsstelle Bahnen und Schiffe (UUS) Klartext und verlangte von den SBB, dass sie «unverzüglichen ein zeitgemässes Zugsicherungssystems einbauen» und nicht wie von der Bahn geplant erst im Jahr 2013.

Die Reisenden werden bereits heute daran erinnert, dass ab dem Fahrplanwechsel nur noch einsteigen darf, wer ein Billett gelöst hat. «Billett gelöst?», fragt ein auf die Fenster der Zugtüren aufgeklebtes Konterfei eines Nikolaus. Vielleicht hätte sich der SBB-Verwaltungsratspräsident Ulrich Gygi statt an den Nikolaus besser an den Ex-SBB-Chef Benedikt Weibel gewendet und das Versprechen gebrochen, mit seinem Freund nie über die Bahn zu reden.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 02/12/11

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