Zugang zu Gangnam

Die Pop-Überraschung 2012 kommt aus Südkorea: Psy heisst der Sänger, «Gangnam Style» der Hit. Ai Weiwei tanzt zum Lied, Barack Obama ebenfalls. Was aber steckt hinter dem Phänomen? Eine Spurensuche in Seoul.

Ironie trifft auf Mainstream: Der koreanische Sänger Psy bricht mit «Gangnam Style» Rekorde, täglich schauen sich mehrere Millionen Menschen den Videoclip an. (Bild: Videostill)

Die Pop-Überraschung 2012 kommt aus Südkorea: Psy heisst der Sänger, «Gangnam Style» der Hit. Ai Weiwei tanzt zum Lied, Barack Obama ebenfalls. Was aber steckt hinter dem Phänomen? Eine Spurensuche in Seoul.

Die Tür des Flughafenbusses fällt zu. Der Chauffeur trägt weisse Handschuhe. Bevor er seinen Platz am Steuer einnimmt, dreht er sich zu den Passagieren hin, legt die Hände auf der Brust zusammen und verneigt sich vor seinen Gästen. Dann lässt er den Motor an und fährt los.

Mein koreanischer Sitznachbar erklärt mir auf dem Weg ins Zentrum Seouls die Bibel. Vor dem Fenster schiessen Auffahrten, Brücken und Hochhäuser vorbei, er aber erläutert mir, als sei dies seine einzige wichtige Aufgabe, das Verhältnis des Menschen zu Gott. Beim Aussteigen überreicht er mir seine Karte. Er ist General Manager des Stahlgiganten Posco.

Wir sind in Korea, das nicht nur ein Land der Freundlichkeit, sondern auch der Gegensätze ist. Die Menschen haben gelernt mit Gegensätzen zu leben. Davon unter anderem handelt der Erfolgstitel des Rappers Psy: «Gangnam Style». In uns wohnen zwei Welten, die sich kaum berühren, wir wechseln spielend von der einen zur andern.

Am 15. Juli 2012 eroberte der Song den ersten Platz der südkoreanischen Hitliste und hielt sich dort fünf Wochen. Das Musikvideo verbreitete sich blitzschnell via YouTube und Twitter, der Song erreichte Platz 1 der US-amerikanischen iTunes-Charts. Scooter Braun, der Manager des 18-jährigen Popidols Justin Bieber, wurde auf den Koreaner aufmerksam und holte ihn ins Boot.

Seither ging es Schlag auf Schlag: Guinness-Buch-Rekord für das beliebteste YouTube-Video (mit den meisten «Likes»), MTV Europe Music Award in der Kategorie «Best Video». Inzwischen kommt das Originalvideo auf YouTube auf – weiterer Rekord – fast 900 Millionen Aufrufe und über fünf Millionen Kommentare.

Unschuld und Sex-Appeal

Der Korean Pop (K-Pop) erfreut sich seit Jahren einer Popularität, die weit in den asiatisch-pazifischen Raum ausstrahlt. Formationen zumeist sehr junger Sängerinnen und Sänger wie Busker Busker, Sistar oder Wonder Girls begeistern ein wachsendes Publikum durch ihre Tanzperformances, einer Mischung von «Unschuld und Niedlichkeit, garniert mit etwas Sex-Appeal» (NZZ).

«Gangnam Style» bedient sich zwar der Show- und Musikelemente dieser stromlinienförmigen Unterhaltungskultur, legt sich im Übrigen aber dazu quer. Der Titel Gangnam spielt auf das im Süden von Seoul gelegene Stadtviertel an. Vor wenigen Jahrzehnten noch Agrarland, ist es nach einem beispiellosen Bauboom zu einer Stadt in der Stadt mit einer halben Million Einwohner aufgeschossen.

Heute ist Gangnam vorwiegend eine Residenz der Reichen, von denen viele ihr Vermögen aus Landkäufen erzielten. Konzerne wie Hyundai und Samsung liessen sich hier nieder und bauten ihren Hauptsitz zu protzigen Palästen aus. In eleganten Restaurants, Galerien und Konsumtempeln amüsiert sich eine Jeunesse dorée, deren Eltern und Grosseltern alles drangegeben haben, um von der Armut wegzukommen. Der 34-jährige Park Jae Sang alias Psy stammt aus diesem Stadtteil. Für ihn war Gangnam, das für seine Eliteschulen bekannt ist, das Sprungbrett zum Studium in den USA, von wo er mit Abschlüssen an der Boston University und dem Berklee College of Music zurückkehrte.

In uns steckt mehr

Auf der Rolltreppe zur Seoul Metro spricht mich ein gut angezogener Koreaner an. Er entschuldigt sich für das komplizierte System der U-Bahn in seiner Stadt, in dem man sich nur schwer zurechtfinden könne. Als ich ihm versichere, die klare Signalisation­ sei im Gegenteil äusserst übersichtlich, nickt er anerkennend, als wolle er mir zu meiner Erkenntnis gratulieren. Gangnam Style – wir geben uns bescheiden, aber in uns steckt mehr, als man denkt.

Psys Musikvideo, gedreht an verschiedenen Örtlichkeiten des Viertels, ist eine liebevolle und gleichzeitig kritische Hommage an Gangnam. Der Text handelt von den Veränderungen, die in den Leuten vor sich gehen, wenn die Schatten in die Schluchten zwischen den Hochhäusern fallen und die Party beginnt: Die junge Frau legt ihre sittsame Bescheidenheit ab und verwandelt sich nach Feierabend in eine aufreizende Lady, während der sie umwerbende Yuppie, am Tag ein fleissiges Bürschchen, sich als Oppa anpreist. Oppa – so wird ursprünglich der ältere Bruder gerufen. Nennt eine junge Frau einen Bekannten Oppa, gilt dies als Vertrauensbeweis, und der so Genannte darf sich Chancen ausrechnen. Das Video inszeniert die Liebeswerbung als frech überdrehte Jagd durch die Requisitenkammern der digitalen Scheinwelten und gibt sie einer unaufdringlichen Ironie preis. Diese ist für das einheimische Publikum schon dadurch erkennbar, dass unter den schrägen Mittänzern auch Komiker der bekanntesten Comedyshow Südkoreas, «Infinite Challenge», auszumachen sind.

Dass der Titel in Korea derart einschlug, ist erstaunlich. Ironie passt nicht in das Weltbild, das der K-Pop sonst vermittelt. Psy hat eine kritische Form gefunden, die massentauglich ist und nicht mit einer moralinsauren Botschaft aufwartet. Geradezu unglaublich ist der Durchbruch von «Gangnam Style» als weltweit gefeierter Titel. Koreanisch als Song­sprache ist für einen Erfolg in den USA, Kanada und Europa an sich schon ein unfehlbarer Hinderungsgrund. Vor allem, wenn sie aus dem Mund eines eher plump und teigig wirkenden Sängers kommt. Und gar wenn der Typ, der in diesem Song verkörpert wird, alles andere denn ein gefeierter Held ist. Pomadisiertes Haar und Sonnenbrille ist das eine; dass der Werbende im Video den ­rasanten Pferderitt ohne Pferd tanzt und seiner Angebeteten vergeblich Avancen macht, das andere. Die Kühle­ mit den pechschwarzen Haaren lässt seine Liebesbemühungen ins Leere laufen.

In Koreas Kultur ist der Held westlicher Prägung unbekannt. Es fehlt die Tradition des Ritters, der die Welt erobert und mit seinem noblen Verhalten ein Beispiel setzt. Und es fehlt auch das Gegenstück, der Ritter von der traurigen Gestalt. Psys Musik­video zeigt einen Mann (einen «Kerl», wie es im Text eigentlich heisst), der sich nicht unterkriegen lässt und der, nachdem ihm die Schöne einen Korb gegeben hat, sogleich hinter der nächsten her ist. Er kriecht unter gespreizten Beinen hindurch, ohne dass dies als Unterwerfungsgeste zu verstehen ist. Seine Stärke liegt darin, dass er in keinem Augenblick den Helden spielen muss. Nicht mit harten Muskeln gibt er an, sondern mit seinen «Mäusen» im Kopf.

Gerade seine Bescheidenheit kam dem Musiker sehr zustatten. Psy, der den Song selber geschrieben und den «Pferdetanz» kreiert hat, verzichtete auf die Verwertungsrechte für seinen Hit. Dies steigerte dessen Popularität auf ungeahnte Weise. Dadurch, dass er von jedermann adaptiert, verändert und nachgeahmt werden konnte, tauchten schon nach wenigen Tagen weltweit Parodien auf, wurden Flashmobs und Pferdetanz-Partys veranstaltet, schossen die Remakes nur so ins Netz. Selbst der dissidente Künstler Ai Weiwei machte sich die Gangnam-Welle zunutze. Er tanzt in einem Video wie Psy mit übereinandergelegten Händen, die nicht imaginäre Zügel halten, sondern ein Paar Handschellen, und nutzt die Bildsprache des Originals zu einem witzigen, geistreichen politischen Statement um. Sein Beitrag wurde von den chinesischen Zensurbehörden postwendend gesperrt.

Subversives Potenzial

Ausgerechnet von einem Song mit subversivem Potenzial darf sich nun der südkoreanische Staat Erfolge im Tourismusgeschäft versprechen. Bei einer Umfrage der Tourismus­organi-sation Halyo in Los Angeles gaben 70 Prozent der Befragten an, sie möchten, nachdem sie das Video gesehen hatten, Südkorea besuchen. Angesichts solcher Aussichten erstaunt es nicht, dass der berühmte Bürger Park Jae Sang vom Kulturministerium mit einer der höchsten Auszeichnungen geehrt wurde. In der Begründung hiess es ausdrücklich, er erhalte den Okgwan-Orden für kulturelle Verdienste, weil er das weltweite Interesse an Südkorea gesteigert habe.

Die Hauptstadt Seoul ihrerseits zeigte sich dadurch erkenntlich, dass sie am 4. Oktober 2012 ihr Zentrum für ein Konzert des gefeierten Stars freigab. Rund 80 000 Fans strömen zum Platz vor dem Rathaus, wo neben der Bühne auch grossformatige Leinwände aufgestellt sind. Trotz des Andrangs vollzieht sich der Aufmarsch in erstaunlicher Ruhe, die Ankommenden lassen sich durch die Ordnungshüter in die freien Bezirke einweisen, ohne dass es zu Rempeleien kommt. Psy zeigt sich in seinem Auftritt nicht nur als der exzentrische Tänzer-Sänger, den seine rasend schnell geschnittene Videofassung erahnen lässt. Er gleicht auch einem Cantautore, der Kontakt zu seinem Publikum sucht und ausführlich zu den Leuten redet. Er zieht die Fans in seinen Bann, ohne die Stimmung zusätzlich anzuheizen. Seinen grossen Hit spart er bis zum Schluss auf.

Die Menge ist elektrisiert. Man tanzt mit, soweit die engen Verhältnisse es zulassen, wiegt sich, klatscht, lacht, umarmt sich. Es ist eine grosse Fröhlichkeit über dem Platz, die anhält, als die Lautsprecher schon lange schweigen. Gangnam Style – wir feiern, aber wir rasten nicht aus, wir behalten in der Ausgelassenheit unsere Selbstbeherrschung.

Neu erfundener West-Stil

Abend in Gangnam. Die Büros leeren sich, junge Herren in dunklen Anzügen lassen sich auf Treppen und auf den Rändern von Blumentrögen nieder, um letzte Gespräche zu führen oder ein Date zu verabreden. Die Studentinnen klappen an den Tischen der Cafés ihre Laptops und Bücher zu, holen den Taschenspiegel hervor und beginnen sich zu schminken.

Das architektonische Outfit der Geschäfts- und Ausgehmeile mag an eine beliebige Grossstadt irgendwo auf der Welt erinnern, und doch, die Leute hier sind fröhlicher und selbstbewusster als anderswo. Befreit vom Etikettenzwang des Tages bewegen sie sich unbekümmert durch den Abend. Die Herren sitzen im Hemd am Tisch des Restaurants, die Krawatte gelockert, den Arm auf der Schulter der Kollegen; es wird Bruderschaft getrunken, der grosse Bierkrug macht die Runde. Dort hat einer zu viel getrunken, er lehnt schlafend an der Brust seines Nachbarn, der ihn vergeblich an der Nase kitzelt und ihn schliesslich schlafen lässt. Eine Nation übt sich in den West-Stil ein, ohne ihn zu kopieren – sie erfindet ihn für sich neu, erfindet ihr eigenes Manhattan, ihr Saint-Germain. Läge Seoul inmitten Europas oder der USA, die Stadt wäre zweifelsohne das Mekka der Vergnügungssüchtigen aus West und Ost.

Das Lebensgefühl von Downtown Gangnam hat in Parks Song seinen Niederschlag gefunden. Das ist einer der Gründe für dessen Erfolg. Der übermütige, klug inszenierte Wirbel aus Ernst und Unsinn, Rhythmus und Witz trifft den Nerv von Koreas Jugend. Und er bedient offensichtlich auch das Sehnsuchtspotenzial eines weltweiten Publikums. Gangnam Style – mit uns ist zu rechnen, wir sind im Kommen!

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 07.12.12

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