Zum zweiten Mal der Heimat beraubt

Seit der Annexion der Krim haben mehrere Tausend Krimtataren die Halbinsel aus Angst vor Verfolgung verlassen. Die Autorin und Aktivistin Sevgil Musaewa-Borowik schöpft Hoffnung aus der Geschichte und ist überzeugt, dass sie eines Tages in ihre Heimat zurückkehren wird.

Die Besetzung der Krim bedeutete den Abschied vom unbeschwerten Leben. Krimtataren in einer Siedlung in Bachtschissaraj.

(Bild: Florian Bachmeier)

Seit der Annexion der Krim haben mehrere Tausend Krimtataren die Halbinsel aus Angst vor Verfolgung verlassen. Die Autorin und Aktivistin Sevgil Musaewa-Borowik schöpft Hoffnung aus der Geschichte und ist überzeugt, dass sie eines Tages in ihre Heimat zurückkehren wird.

Ich kann mich gut an diesen trüben Frühlingstag im Jahr 1993 erinnern. Ich bin sechs Jahre alt, meine Eltern und ich gehen in einer Menschenmenge mit einem Transparent durch die Innenstadt von Kertsch im Osten der Krim. Passanten beäugen uns. Verkäuferinnen stehen vor ihren Läden und tuscheln miteinander. Schüler mit weit geöffneten Mündern folgen uns mit ihren Blicken, Omas auf Bänken rufen uns etwas hinterher.

«Wohin gehen wir so lange?», frage ich Mama. – «Zum Hauptplatz.» – «Und wofür?» – «Heute ist der Tag des Gedenkens. Das ist ein besonderer Tag für uns Krimtataren. Man hat unsere Vorfahren an einem 18. Mai aus ihrer Heimat, der Krim, deportiert», antwortet Mama.

Ich verstehe wenig und bin zu schüchtern, um weitere Fragen zu stellen. Was dieser Tag des Gedenkens am 18. Mai bedeutet, erfahre ich etwas später: als Erstklässlerin von meiner Grossmutter Kafije.

Eines Winterabends erzählt sie mir eine Geschichte: Sie war 18 Jahre alt, kurz nach Sonnenaufgang klopften Uniformierte an die Haustür, zum Packen gaben sie der Familie 15 Minuten. Sie erzählt von Güterzügen, in denen man kaum atmen konnte. Davon, wie Menschen, die zu fliehen wagten, an Bahnhöfen erschossen wurden. Davon, wie ihre Brüder und Schwestern fast eine ganze Woche von einem Laib Brot lebten, wie ihre achtköpfige Familie sich im Ural wiederfand und die ersten Monate in einer Baracke ohne Fenster und Türen wohnen musste.

Als Verräter deportiert

Im Zweiten Weltkrieg, nachdem die Rote Armee die deutschen Truppen von der Krim vertrieben hatte, beschloss Josef Stalin, die dort ansässigen Tataren nach Sibirien und Zentralasien umzusiedeln. Sie galten ihm als Kollaborateure mit dem NS-Regime, als Verräter. Die muslimische Volksgruppe der Tataren bildete bis zum 18. Jahrhundert die Bevölkerungsmehrheit auf der Krim.

Doch Oma Kafije hatte auch fröhliche Erinnerungen. Sie erzählte von ihrer Heimatstadt Feodossija vor dem Krieg. Davon, wie sie als Kinder im Meer schwimmen gingen. Davon, wie der Vater Süssigkeiten für die Kinder mitbrachte von der Arbeit. Sie erinnerte sich oft an ihr Elternhaus und träumte davon, es mir und meiner kleinen Schwester einmal zu zeigen.

Ich sollte es erst sehen, als Oma nicht mehr am Leben war – ein schiefes Häuschen mit einer grünen Tür, einem kleinen gemütlichen Garten, wo man sich im Schatten der Bäume vor der Sommerhitze verstecken konnte, mit einem alten Brunnen, aus dem schon meine Urgrossmutter Wasser schöpfte.



Seit der Annexion der Krim haben mehrere tausend Krimtataren die Halbinsel aus Angst vor Verfolgung verlassen. Auch die Autorin und Aktivistin Sevgil Musaewa-Borowik ist gegangen und lebt jetzt in Kiew. Sie will auf jeden Fall zurückkehren.

Autorin Sevgil Musaieva-Borovyk (28) ist Chefredakteurin der kritischen Online-Zeitung «Ukrajinska Prawda» in Kiew. Als Mitgründerin der NGO «Crimea-SOS» dokumentiert sie Menschenrechtsverletzungen auf der Krim. Sie studierte Journalistik an der Universität Kiew. (Bild: Konstantin Chernichkin, n-ost)

Ich war zwei Jahre alt, als meine Familie sich entschied, in ihre historische Heimat, auf die Krim zurückzukehren. Das war Ende der 1980er-Jahre. Nach 50 Jahren der Verbannung erlaubte man den Krimtataren während der Perestroika, wieder auf der Halbinsel zu leben.

Meine Kindheit kann man nicht glücklich nennen. Ich war die einzige Krimtatarin in der Klasse und wurde oft von Mitschülern und älteren Kindern ausgelacht. Die Tataren hielt man für fremd, für nicht ungefährlich, sie waren Menschen zweiter Klasse. Lokalpolitiker ignorierten uns einfach und auf nationaler Ebene spielte man Spielchen mit uns. Es gab viele Versprechen im Gegenzug für Unterstützung des einen oder anderen Kandidaten – und als es darum ging, die Versprechen einzulösen, passierte nichts.

Die Ukraine hat die Deportation der Krimtataren erst im Herbst 2015 als Genozid anerkannt – fast anderthalb Jahre nach der Annexion der Halbinsel durch Russland.

Bis dahin wurden Forderungen nach Strassenumbenennungen oder der offiziellen Registrierung unserer Volksversammlung Medschlis nicht erhört. Die Krimtataren galten als die wichtigsten Separatisten auf der Halbinsel, und der Sicherheitsdienst der Ukraine beobachtete aufmerksam islamische Organisationen auf der Krim.

Seit anderthalb Jahren im Exil

Dabei waren die Krimtataren im Frühjahr 2014, als die ersten Kämpfer samt Kriegsgerät auf der Krim auftauchten, quasi die Einzigen, die sich gegen die Okkupation der Halbinsel durch Russland stellten. Sie nahmen Teil an Demonstrationen für die Einheit der Ukraine, sie lieferten Lebensmittel an ukrainische Militärstützpunkte. Der Krimtatare Reschat Ametow wurde zum ersten Opfer der Okkupation: Er hielt eine Mahnwache am Gebäude des Ministerrats ab. Einige Tage später fand man seine Leiche in einem Waldstück.

Die Krimtataren konnten die Annexion allerdings nicht stoppen. Im März 2014 fragten mich viele Bekannte aus Kiew, warum die Tataren sich der Annexion so sehr widersetzten, warum sie nicht in Russland leben wollten. Ich erklärte, dass wir aufgrund historischer Erfahrung grosse Angst haben, unsere Heimat zum zweiten Mal zu verlieren.

Seit der Annexion haben einige Tausend Tataren die Krim verlassen. Menschen verlassen ihre Häuser wegen drohender Verfolgung, wegen strafrechtlicher Verfahren, die gegen sie angestrengt werden. Auch ich bin seit mehr als anderthalb Jahren nicht mehr auf der Krim gewesen und habe die NGO Crimea-SOS mitbegründet, die Umsiedlern hilft und Menschenrechtsverletzungen im okkupierten Gebiet dokumentiert. 

Den Stolz vergessen

Der russische Inlandgeheimdienst FSB führt oft Razzien in krimtatarischen Siedlungen durch, gegen rund zehn krimtatarische Aktivisten laufen derzeit Strafverfahren. Der Medschlis wurde zu einer extremistischen Organisation erklärt. Seine Anführer dürfen ihre Heimat nicht betreten. Im vergangenen April musste der einzige krimtatarische Fernsehsender ATR schliessen – seine Lizenz wurde einfach nicht verlängert. 

Die derzeitigen Machthaber lassen den Krimtataren nur zwei Möglichkeiten: In der Heimat bleiben, Angst haben und schweigen; also jeden Stolz, jede Würde zu vergessen und sich damit abzufinden, zweitklassig zu sein. Wer diese Position nicht annehmen will, muss die Heimat verlassen. 

Leider wandern die meisten aus. Aber sie geben die Hoffnung nicht auf, nach Hause zurückkehren zu können. Und sie fordern die ukrainische Regierung auf, zu handeln – jene Regierung, die es seit Beginn der Okkupation nicht geschafft hat, eine Strategie für das annektierte Gebiet auszuarbeiten. 

Gesprengte Strommasten

Ende September 2015 kündigten krimtatarische und ukrainische Aktivisten den Beginn einer Blockade der Krim an und sprachen eine Reihe von Forderungen an die Krim-Machthaber aus: darunter die Befreiung von politischen Gefangenen, die Beendigung der Strafverfolgung und die Aufhebung des Einreiseverbots für die Anführer der Krimtataren.

Diese Forderungen wurden nicht erhört, und nach einigen Wochen des Schweigens – auch seitens der ukrainischen Beamten – haben die Teilnehmer der Blockade die Energielieferungen auf die Krim gestoppt: Unbekannte sprengten mehrere Stromleitungen an der Gebietsgrenze zur Halbinsel.

Viele Experten und Politiker nannten dieses Mittel des Kampfes ineffektiv und nachteilig – allen voran für die Ukraine. Manche bezeichneten die Teilnehmer der Blockade als Extremisten, die die ohnehin schon verfahrene Situation auf der Halbinsel noch weiter destabilisierten. Ich hingegen sehe in ihren Handlungen Verzweiflung – jene Verzweiflung, die schon meine Grossmutter und meine Eltern quälte, als sie nicht auf der Krim leben durften. 

Das Meer im Winter

Genau diese Verzweiflung wandelte sich in der Sowjetzeit in eine mächtige Nationalbewegung, an der fast alle Krimtataren teilhatten. Krimtatarische Dissidenten sassen in sowjetischen Lagern, der Führer unseres Volkes, Mustafa Dschemilew trat für 300 Tage in den Hungerstreik, tausende Krimtataren schrieben Briefe, um ihn zu unterstützen. Und all das für die Möglichkeit, in die Heimat zurückzukehren.

Heute bin ich selber in meiner Heimat unerwünscht. Oft erinnere ich mich an die Strassen dort, an das Meer im Winter und die Berge der Krim. Auf meiner letzten Krim-Reise war ich auch in Feodossija, um Grossmutters Haus zu besuchen. Und ich zweifle nicht dran: Eines Tages werde ich es meinen Kindern und Enkeln zeigen. 

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Aus dem Russischen von Pavel Lokshin. 

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